Konjunkturtief in Deutschland
(^46) WOCHENENDE 1./2./3. NOVEMBER 2019, NR. 211
Orgelbau in
Bautzen:
Selbst harmlose
Beschäftigungen
stehen unter
Meisterzwang –
und vermindern
den Wettbewerb.
ddp images/dapd
Deutschland
muss sich
erfolgreiche
Einwande -
rungsländer
wie Kanada
oder Neu-
seeland als
Beispiel
nehmen.
Johannes Vogel
arbeitsmarktpolitischer
Sprecher
der FDP-Fraktion
D
eutschland steckt mutmaßlich
bereits in der Rezession, es droht
eine längere Phase schwachen
Wachstums. Die Politik hätte
durchaus die Möglichkeit zum Gegensteuern
- einzige Voraussetzung: mehr Mut. Das
Handelsblatt hat Vorschläge zusammenge-
tragen, die Deutschland dauerhaft auf einen
höheren Wachstumspfad heben könnten.- Freibetrag bei der
Sozialversicherung
„Wie wäre es zum Beispiel,
wenn wir eine Freistellung des
Existenzminimums nicht nur in der Steu-
er, sondern auch bei den Sozialabgaben
einführen würden?“, schlägt der ehemali-
ge SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel vor.
Damit greift er eine alte Forderung der So-
zialdemokraten auf. Würden alle Einkom-
men bis zur Höhe des Existenzminimums
(derzeit 9 000 Euro pro Jahr) nicht nur
wie bislang von der Einkommensteuer,
sondern auch von den Arbeitnehmerbei-
trägen zur Sozialversicherung befreit, hät-
ten vor allem Geringverdiener sofort mehr
Geld auf dem Konto und könnten mehr
konsumieren. Gleichzeitig würde sich für
Geringverdiener der Anreiz erhöhen, eine
sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
gung aufzunehmen. Derzeit ist es für sie
oft attraktiver, in einem 450-Euro-Job aus-
zuharren, auf den kaum Sozialabgaben fäl-
lig werden. Finanzieren ließe sich der
Freibetrag durch eine Mischung aus höhe-
ren Steuerzuschüssen zur Sozialversiche-
- Freibetrag bei der
rung und eine Anhebung der Beitragsbe-
messungsgrenze.
- Steuerreform
für Unternehmen
Eine Forderung, die nicht nur
Gabriel erhebt, sondern zum
Beispiel auch die Mittelstandsvereinigung
der Union. Hintergrund: Durch die jüngsten
Senkungen der Körperschaftsteuer in den
USA und mehreren europäischen Staaten ist
Deutschland für Unternehmen zu einem
vergleichsweise teuren Standort geworden.
Gleichzeitig zahlen viele multinationale Kon-
zerne in Deutschland nur wenig Steuern,
weil sie ihre Gewinne in Steueroasen verla-
gern können. Eine niedrigere Körperschaft-
steuer gepaart mit weniger Steuerschlupflö-
chern würde das System gerechter machen
und Anreize für Investitionen in Deutsch-
land schaffen. - Forschung
steuerlich fördern
Sie steht im Koalitionsvertrag, sie
sollte schon lange kommen.
Doch noch immer ist die bevorzugte steuer-
liche Abzugsfähigkeit von Forschungsausga-
ben in Unternehmen vom Bundestag nicht
beschlossen worden. Es hakt an Details. Zu-
dem droht das Gesetz in der derzeit vorgese-
henen Form zu einem Bürokratiemonster zu
werden, bei dem jedes Forschungsvorhaben
der Unternehmen erst aufwendig von einer
Behörde auf seine steuerliche Abzugsfähig-
keit geprüft werden muss. Deutschland be-
findet sich hier zunehmend in einer Außen-
seiterrolle: Deutschland sei eines von nur
fünf OECD-Ländern ohne steuerliche For-
schungsförderung, kritisiert der Grünen-
Sprecher für Industriepolitik, Dieter Janecek.
- Mehr Wettbewerb
zulassen
Vor 15 Jahren hat die rot-grüne
Bundesregierung über 50 Hand-
werksberufe aus dem Meisterzwang entlas-
sen. Ein Meisterbrief sollte nur noch da er-
forderlich sein, wo Pfusch lebensbedrohlich
sein kann – etwa bei Kfz-Mechanikern. Doch
im Oktober hat die Große Koalition das Rad
zurückgedreht und in einem Dutzend Beru-
fen den Meisterzwang wieder eingeführt.
Auch um so harmlose Tätigkeiten wie Orgel-
bauer oder Fliesenleger selbstständig auszu-
üben, ist nun wieder ein Meisterbrief erfor-
derlich. Eine freundliche Geste an die Hand-
werkslobby. Innovations- und wachstums-
freundlich wäre das Gegenteil: Nämlich auch
bei den übrigen Handwerksberufen zu prü-
fen, ob sich der Meisterzwang ohne allzu gro-
ße Risiken aufheben lässt. Bei der Gelegen-
heit könnte die Bundesregierung auch die
Regulierungen bei anderen Berufen wie
Apothekern überprüfen. - Qualifizierte
Zuwanderung fördern
Über einen Mangel an Migranten
kann sich Deutschland nicht be-
klagen. Doch vor allem von außerhalb der
EU kommen aus volkswirtschaftlicher Sicht
oft die Falschen. Über ein Punktesystem
sollte die Bundesrepublik deshalb einen Ein-
wanderungskanal speziell für qualifizierte
und integrationswillige Migranten eröffnen
- und aktiv um diese Zuwanderer werben.
Sie können den zunehmenden Fachkräfte-
mangel lindern und so für mehr Wachstum
sorgen. Deutschland müsse sich dabei er-
folgreiche Einwanderungsländer wie Kana-
da oder Neuseeland als Beispiel nehmen,
fordert der arbeitsmarktpolitische Sprecher
der FDP-Fraktion im Bundestag, Johannes
Vogel: „Diese Länder sind besser im globa-
len Wettbewerb um Talente, und von diesen
Vorbildern sollten wir endlich lernen.“
- Mehr Geld für Bildung
und Wissenschaft
Ein Klassiker der Wachstumsför-
derung: Kaum etwas wirkt sich
so positiv aufs Wachstumspotenzial einer
Volkswirtschaft aus wie Investitionen in
Schulen, Hochschulen und Forschungsinsti-
tute. Dabei geht es weniger um schicke neue
Gebäude als um motivierte und qualifizierte
Lehrer und Wissenschaftler. Ein Schwer-
punkt sollte darauf liegen, durch intensive
Betreuung kein Kind mehr ohne Abschluss
aus dem Schulsystem zu entlassen. Eine ab-
gebrochene Schullaufbahn führt besonders
oft zu Arbeitslosigkeit und (Alters-)Armut.
Wirtschaftsforscher Hüther wünscht sich zu-
dem „eine starke Forschungsagenda durch
öffentliche Mittel“ bei Zukunftsthemen wie
Künstlicher Intelligenz, klimaneutralen Tech-
nologien oder der Bekämpfung von Demenz. - Digitale Infrastruktur
ausbauen
Noch so ein Klassiker, von Politi-
kern gerne gefordert, aber selten
umgesetzt: Ohne eine leistungsfähige digita-
le Infrastruktur kann eine wissensbasierte
Volkswirtschaft ihre Wettbewerbsfähigkeit
auf Dauer nicht erhalten. Hier hinke
Deutschland den anderen Industriestaaten
hinterher, konstatiert etwa Bundesbank-
Chef Jens Weidmann. Defizite gebe es bei
der flächendeckenden Versorgung mit
schnellem Internet. Aber auch bei der digi-
talen Abwicklung von Verwaltungsvorgän-
gen muss Deutschland rasch besser werden.
Martin Greive, Christian Rickens
Wirtschaftspolitik
Ein Plan für
Deutschland
Wie lässt sich das Wachstum in der
Bundesrepublik nachhaltig steigern? Sieben
Ideen – ohne ideologische Scheuklappen.
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