Konjunkturtief in Deutschland
WOCHENENDE 1./2./3. NOVEMBER 2019, NR. 211^47
- Die Politik
Bei Olaf Scholz (SPD) ist das Glas randvoll. Zumin-
dest jenes, das neben ihm steht und das er am ver-
gangenen Mittwoch im großen Matthias-Erzberger-
Saal des Bundesfinanzministeriums nicht anrührt.
Der Vizekanzler und oberste Kassenwart der Regie-
rung hat „gute Nachrichten“ zu verkünden: „Es
geht unserem Land weiter wirtschaftlich gut.“ Die
Bundesregierung musste zwar gerade ihre Kon-
junkturprognose für 2020 erneut senken, nun von
1,5 Prozent auf 1,0 Prozent Wirtschaftswachstum.
Doch die gute Nachricht des Finanzministers lautet:
Die Wachstumsschwäche schlägt bisher nicht auf die
Steuereinnahmen durch. In diesem Jahr hat der
Bund laut der am Mittwoch präsentierten Steuer-
schätzung sogar vier Milliarden Euro mehr zur Ver-
fügung als noch bei der letzten Schätzung im Mai
prognostiziert. Und im kommenden Jahr soll der
Bund immerhin 328,6 Milliarden Euro einnehmen –
und damit nur 0,2 Milliarden Euro weniger als bis-
her erwartet.
Ein Einbruch sieht anders aus. Und so bilanziert
Scholz zufrieden: Es gebe keine Situation, die „ir-
gendwelche Sonderaktionen“ notwendig mache.
Das liegt vor allem am robusten Arbeitsmarkt. Die
Beschäftigung steigt weiter, die Löhne auch – und
damit die Steuern.
Die Wirtschaftsverbände halten nichts von Scholz’
Politik der ruhigen Hand. „Wie viele Warnhinweise
will die Bundesregierung denn noch ignorieren?“,
fragt BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter.
Wenn sie „weiter die dringend notwendigen Investi-
tionen aufschiebt, dann gefährdet sie langfristig die
Stabilität des Wirtschaftsstandorts Deutschland“.
Scholz tat das, was ein Kassenwart in so einer Si-
tuation immer tut: Er wehrte die Ratschläge ab. Der
Bundesfinanzminister beharrt darauf, dass er be-
reits „expansive Haushaltspolitik“ betreibe und so
die Konjunktur stütze. In diesem Jahr habe die Fis-
kalpolitik für einen Wachstumsimpuls von 0,7 Pro-
zent des Bruttoinlandsprodukts gesorgt, rechnete
Scholz vor. Der kommt unter anderem durch die
Entlastungen der Bürger und Unternehmen bei
Steuern und Sozialabgaben zustande. Im kommen-
den Jahr werde der Impuls sogar noch etwas höher
liegen, so Scholz.
Die Frage ist nur: Reicht das angesichts der im-
mer finsterer werdenden Konjunkturaussichten?
Aus Sicht von Scholz und der Bundesregierung lau-
tet die Antwortet bisher: Ja. Gleichzeitig rüstet man
sich aber für den Fall der Fälle. Schon zu Beginn
des Jahres ließ Scholz seine Beamten im Finanzmi-
nisterium mögliche Maßnahmen zusammentragen,
mit denen sich die Konjunktur stützen ließe. Die
Pläne liegen seitdem griffbereit in der Schublade.
Zu ihnen gehören bessere Abschreibungsmöglich-
keiten für Unternehmen, aber auch weitere Steuer-
entlastungen für die Mittelschicht. In der Unions-
fraktion denkt man zudem darüber nach, den teil-
weisen Abbau des Solidaritätszuschlags um ein Jahr
vorzuziehen auf Anfang 2020. Das könnte die Kauf-
kraft erhöhen und so die Konjunktur stützen.
Egal, wie lange die Krise dauert: Dem deutschen
Staat wird das Geld zum Gegensteuern nicht so
schnell ausgehen. Das ist auch dringend nötig, denn
ein anderer Akteur fällt als Krisenfeuerwehr weitge-
hend aus: die Europäische Zentralbank. Deren Leit-
zinsen liegen bereits jetzt unterhalb des Null-
punkts. Schwer vorstellbar, wie die EZB den Ab-
schwung mit einer noch lockereren Geldpolitik
wirksam bekämpfen will.
Auch im Ministerium für Arbeit und Soziales, ge-
führt von SPD-Minister Hubertus Heil, zeigt man
sich ebenso entspannt wie bei den meisten Arbeits-
marktexperten. „Wir sind in der Mitte einer Rezes-
sion und die Beschäftigung steigt, das hat es früher
nicht gegeben“, sagt Enzo Weber, Leiter des Be-
reichs Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analy-
sen beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufs -
forschung (IAB). „Der Arbeitsmarkt wirkt als Stabi-
litätsanker.“ Das IAB als Denkfabrik der
Bundesagentur für Arbeit (BA) geht davon aus, dass
die Zahl der Erwerbstätigen trotz konjunktureller
Eintrübung bis Ende kommenden Jahres auf knapp
45,4 Millionen weiter steigen wird. Bei der Arbeits-
losigkeit erwarten die Forscher bislang eine Stagna-
tion bei knapp 2,3 Millionen im Jahresdurchschnitt
2019 und 2020.
Der Arbeitsmarkt entwickelt sich noch erstaun-
lich robust. Nicht weiter verwunderlich, reagiert er
in der Regel mit Zeitverzögerung auf konjunkturel-
le Schwächen. Aber es zeigen sich erste Risse im
Bild. Laut der Bundesagentur für Arbeit ging die
Nachfrage im Oktober nach Zeitarbeit „deutlich zu-
rück“. Ein schlechtes Zeichen, reagiert die statisti-
sche Größe doch als erste auf einen Abschwung,
Zeitarbeiter können von Unternehmen schnell ab-
gebaut werden. Erstmals seit gut sechs Jahren lag
auch die Zahl der Arbeitslosen im Oktober nicht
mehr unter dem Niveau des Vorjahrs. „Ein Prozent-
punkt weniger Wirtschaftswachstum bedeutete
noch in den 2000er-Jahren 0,4 Prozent weniger
Beschäftigung“, sagt IAB-Experte Weber. „Heute
liegen wir bei weniger als 0,2 Prozent.“ Die Ex-
portbranchen, die nun die Rezession ausgelöst ha-
ben, arbeiten besonders kapitalintensiv. Das
heißt: Um am Standort Deutschland wettbewerbs-
fähig zu sein, beschäftigen die Unternehmen in
Relation zum Umsatz eher wenige Mitarbeiter und
setzen stattdessen Maschinen ein. Und Pflegekräf-
te, Erzieherinnen, Polizisten oder Lehrer werden
auch gebraucht, wenn der Exportmotor gerade
nicht brummt.
Unstrittig sind die geplanten Maßnahmen gegen
einen Abschwung. So will Heil sich vom Bundestag
eine Verordnungsermächtigung geben lassen, um
bei Bedarf rasch die erweiterte Form des Kurzar-
beitergelds wieder einführen zu können, die sich in
der Krise 2008/09 bewährt hatte. Damals waren
die Zugangsvoraussetzungen und die Bezugsdauer
verlängert worden.
Zwar ist Deutschland mit im September rund
54 000 Beziehern von konjunkturellem Kurzarbei-
tergeld weit vom Höchststand im Mai 2009 mit fast
1,5 Millionen entfernt. Doch nach einer Umfrage
des Ifo-Instituts fuhren im September 5,5 Prozent
der Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe
Kurzarbeit, im Juni waren es erst 3,8 Prozent. Und
12,8 Prozent erwarten Kurzarbeit in den kommen-
den drei Monaten. Das Kriseninstrument des Jahres
2009 erlebt also ein Comeback, während die Poli-
tik noch immer nicht von Krise sprechen mag.
30
PROZENT
des Umsatzes
im deutschen
Maschinenbau hängen
an Aufträgen aus
der Autobranche.
Quelle: brancheninterne
Schätzung
BMW, Covestro
Volles Risiko
BMW-i8-Fertigung (o.):
Die deutsche Schlüssel-
branche tut sich schwer mit
dem Umstieg auf die
Elektromobilität. Beschich-
tung mit Produkten von
Covestro (u.): Auch die
deutsche Chemieindustrie
ist auf Aufträge aus der
weltweiten Autobranche
angewiesen – und bemerkt
Zurückhaltung bei ihren
Kunden sofort.
Wie viele
Warnhin-
weise will die
Bundes-
regierung
denn noch
ignorieren?
Steffen Kampeter
Hauptgeschäftsführer
Arbeitgeberverband
BDA