Handelsblatt - 01.11.2019

(Brent) #1

Konjunkturtief in Deutschland


(^48) WOCHENENDE 1./2./3. NOVEMBER 2019, NR. 211



  1. Die Agenda
    „Wir haben derzeit keine Konjunkturkrise, sind
    aber in einer Schwächephase“, heißt es im Bun-
    deswirtschaftsministerium. Das habe insbeson-
    dere mit der schwächelnden Weltwirtschaft zu
    tun: „Die Handelsstreitigkeiten und der immer
    noch nicht gelöste Brexit belasten die Weltwirt-
    schaft, das spürt ein exportstarkes Land wie
    Deutschland.“
    Das klingt nach höherer Gewalt – was kann
    Deutschland schon dafür, wenn sich Peking und
    Washington in die Haare kriegen? Doch tatsäch-
    lich, das konstatieren auch die Analysten der Cre-
    dit Suisse in ihrer Studie über den „Sick Man of
    Europe“, erhält Deutschland nun die Quittung für
    ein seit Jahren ignoriertes Klumpenrisiko: die ein-
    seitige Abhängigkeit der deutschen Volkswirt-
    schaft vom Export einerseits und andererseits von
    der Automobilbranche. Von der unsicher ist, ob
    sie die Mobilitätswende in der derzeitigen Form
    überleben wird.
    Aus vielen anderen Schlüsselbranchen hat sich
    die deutsche Wirtschaft weitgehend verabschie-
    det: Deutsche Banken spielen im Weltmaßstab
    kaum noch eine Rolle, ebenso wenig wie deutsche
    Pharmaunternehmen oder – mit der ewigen Aus-
    nahme SAP – deutsche IT-Konzerne. So kommt
    stattdessen immer mehr vom Gleichen aus
    Deutschland: erstens Autos. Zweitens Maschinen,
    die Autos herstellen. Drittens Kunststoffe, aus de-
    nen Teile für Autos hergestellt werden.


Dass alte Unternehmen aus dem Markt verschwin-
den, ist dabei nicht Deutschlands vordringliches Pro-
blem. Sondern dass neue, innovative Unternehmen
in Zukunftsbranchen nicht schnell genug nachwach-
sen. „Wir haben die Zeiten nicht genügend genutzt,
in denen es uns gut geht“, konstatiert Benjamin
Grosch, als Senior-Partner bei der Boston Consulting
Group (BCG) zuständig für die Beratung des öffent-
lichen Sektors: „Die Politik hat die Zukunft verwal-
tet, nicht gestaltet. Das muss sich dringend ändern.“
Für Stefan Schaible, Global Managing Director
der Unternehmensberatung Roland Berger, gehö-
ren vor allem Investitionen in digitale Infrastruk-
tur auf die Agenda: „Deutschland sollte die Zeiten
der Nullzinspolitik nutzen, um wichtige Investitio-
nen für die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu
tätigen.“ Dazu gehörten auf jeden Fall Investitio-
nen in moderne Infrastrukturen, in innovative
Technologien wie etwa 5G, in die Digitalisierung
vieler Institutionen sowie in ein modernes Bil-
dungssystem. „Nur so kann das Land aus dieser
schwachen Konjunkturphase gestärkt herauskom-
men“, so Schaible.
An Ideen für eine Politik, die Deutschland wie-
der auf einen höheren und stabileren Wachstums-
pfad hebt, mangelt es nicht (siehe dazu auch die
Übersicht auf Seite 46). Wohl aber an der Umset-
zung in der Großen Koalition. „Man merkt doch,
wie die Union wie Mehltau über der Republik
liegt“, hat Olaf Scholz in dieser Woche in einem
Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt


  • und damit indirekt auch die Untätigkeit jener


Bundesregierung angeprangert, in der er selbst als
Vizekanzler dient.
Kaum vorstellbar, dass Kanzlerin Angela Mer-
kel im Herbst ihrer Amtszeit noch einmal zur
Anführerin einer echten Reform- und Wachs-
tumsagenda wird. Zuletzt hatte sie mit einem
groß angekündigten Klimapaket enttäuscht.
Von einem Ruck, der nun angesichts der Rezes-
sion durch Deutschland gehen könnte, ist nichts
zu spüren. Womöglich auch deshalb, weil es an
jener Alarmstimmung fehlt, die in der Krise von
2009 so viel möglich machte. Es regiert weiter der
Attentismus – und gerade der macht das Japan-
Szenario für Deutschland immer wahrscheinli-
cher. In diesem Szenario droht Deutschland in den
kommenden Jahren eine Abfolge aus Rezession,
Stagnation und Phasen schwachen Wachstums.
Auch in Japan hat sich die Regierung zu echten
Reformen nie durchringen können. Japanische
Konzerne, die einst als technologische Speerspit-
ze der Weltwirtschaft galten, haben sich nach
und nach aus immer mehr Zukunftsbranchen zu-
rückgezogen. Sony, der Erfinder von Walkman
und Disc man, hat die Internetrevolution ver-
schlafen, so wie deutsche Autokonzerne allzu
lange die Mobilitätswende ignoriert haben.
Noch hat Deutschland es in der Hand, dieses
Szenario abzuwenden. Noch hat das Land genug
Kraft, um sich neue Wachstrumstreiber jenseits
des Dreiklangs aus Auto. Maschinenbau und Che-
mie zu erschließen. Und auch die deutsche Auto-
branche selbst kämpft darum, den Anschluss bei
alternativen Antriebstechnologien zurückzuge-
winnen.
Dieser Wille zur Anpassung an neue Verhältnis-
se zeigt sich auch in Eisenach bei der Edag Werk-
zeug + Karosserie GmbH. Die Karosserie sei eines
der Felder, die nicht wesentlich unter der Elektro-
wende litten, sagt Geschäftsführer Ritz. Das Eise -
nacher Werk war etwa auch bei der Prototypen-
entwicklung des neuen VW-Stromers ID3 betei-
ligt. Ritz glaubt, dass es in seiner Branche nur eine
Delle geben wird, keinen drastischen Abschwung.
Aber, und das schiebt er gleich hinterher: Die
Wachstumsdynamik werde sehr stark davon ab-
hängig sein, wie gut die neuen Produkte der
deutschen Autobauer ankommen werden – hier-
zulande genauso wie auf dem Weltmarkt.
Bert Fröndhoff, Martin Greive, Jan Hildebrand, Ke-
vin Knitterscheidt, Christian Rickens, Ulf Sommer,
Frank Specht, Klaus Stratmann, Christian Wermke

Grauer Ausblick
Flaggenfertigung in Japan (o.):
Das Land altert und hat not-
wendige Reformen versäumt.
Flüchtling als Azubi in Berliner
Autowerkstatt (r.): Zuwande-
rung hilft der Wirtschaft – wenn
die Richtigen kommen.

Stephanie Steinkopf/OSTKREUZ


45


MILLIONEN
Menschen werden
Ende 2020 in
Deutschland
beschäftigt sein –
Rekordwert trotz
Rezession.
Quelle: IAB

Bloomberg,

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