Amit Shabi
Unsicherheit
ist die einzige
Sicherheit,
die wir hier in
Israel haben.
Inbal Arieli
Unternehmerin und
Autorin
Intelligente
Unordnung
Das kleine Land Israel ist eine große Start-up-Nation.
Inbal Arieli, Schlüsselfigur der Hightech-Szene,
begründet den Erfolg mit einer Kultur
aus Risikobereitschaft und Unverfrorenheit.
Pierre Heumann Tel Aviv
D
ie Seriengründerin Inbal Arieli
schert die Aufregung in ihrer Hei-
mat Israel wenig. Denn während
das Land in Nahost anderthalb Mo-
nate nach der Parlamentswahl im-
mer noch auf eine neue Regierung wartet, blickt
Arieli entspannt auf die derzeitigen Koalitionsver-
handlungen. „Der Hightech-Standort Israel ist so
stark entwickelt“, sagt sie, „dass sich niemand ein
aktives Einmischen der Regierung wünscht.“ Von
daher sei es für die Start-up-Szene des kleinen
Landes nicht so wichtig, wie die derzeitigen Koali-
tionsverhandlungen des Wahlsiegers Benny Gantz
ausgingen. Das nennt man unternehmerischen
Pragmatismus.
Dass Israel weltweit zu den Zentren der Hoch-
technologie zählt, hat sich längst herumgespro-
chen. Tröpfchenbewässerung, USB-Sticks, Syste-
me für autonomes Fahren – viele Ideen, die heute
zum Alltag gehören, dachten sich israelische For-
scher aus. Auch wenn das Staatsgebiet nur etwa
so groß ist wie Hessen, zieht Israel pro Kopf mehr
Wagniskapital an als jedes andere Land auf der
Welt. Mehr als 300 internationale Konzerne sitzen
mit ihren Forschungsabteilungen im sogenannten
Silicon Wadi rund um Tel Aviv. Sie wollen Zugang
zu den klugen Köpfen Israels.
Arieli ist nicht irgendjemand in Israels Unter-
nehmerwelt. Sie ist eine Schlüsselfigur in einem
Land mit erstaunlich vielen innovativen Firmen.
Seit mehr als 20 Jahren ist die 44-Jährige in der
Start-up-Szene des Landes unterwegs. Arieli hat
den ersten Inkubator Israels ins Leben gerufen
und mehrere Innovationsprogramme für Unter-
nehmer aufgelegt. Mit ihrer Firma Synthesis hilft
sie Gründern, ihre jungen Firmen großzuziehen.
Das US-Magazin „Forbes“ zählt Arieli deshalb
schon seit einiger Zeit zu den 100 einflussreichs-
ten Personen des Hightech-Staats am Mittelmeer.
Arieli hat vor Kurzem ein Buch veröffentlicht.
In dem Werk entschlüsselt sie, woher Israels rege
und produktive Start-up-Mentalität rührt. „Chutz-
pah“ heißt es. Und so wie schon im Titel streut
Arieli im Buch immer wieder hebräische Worte
ein, die Israels Lebensweise erklären und mit der
Businesswelt verquicken. Die beiden wichtigsten
Prinzipien lauten „Chutzpah“– eingedeutscht:
Chuzpe, Dreistigkeit, Unverfrorenheit – und „Ba-
lagan“, was so viel wie Durcheinander oder Chaos
heißt.
Und ja, auch das Militär, das oft als Innovations-
motor genannt wird, kommt darin vor. Allerdings,
sagt Arieli, die selbst bei der Eliteeinheit 8 200 ge-
dient hat, sei die Armee zwar ein wichtiger Trei-
ber, aber nicht die Wurzel für den Ideen- und
Gründerreichtum in dem kleinen Land. Die liege
tiefer, nämlich in der Kultur und Mentalität des
Staates Israel.
Unverfroren, Chaos – nicht sehr vertrauenser-
weckende Vokabeln für einen soliden Business-
plan, oder? Den Einwand könne sie durchaus ver-
stehen, sagt Arieli. Und doch seien „Chutzpah“
und „Balagan“ kultureller Bestandteil von Israel
und erklärten, warum das Land trotz widrigster
Umstände so viele Innovationen entwickle. Men-
schen hielten sich gerne an klar definierte Struk-
turen, weil diese ihnen ein Gefühl von Stabilität
vermittelten. Bei Innovationen gehe es jedoch
darum, eine bestehende Ordnung umzustoßen.
Innovation brauche daher Chaos, sprich „Bala-
gan“.
„Unsicherheit ist die einzige Sicherheit, die wir
hier in Israel haben“, sagt Arieli. Begriffe wie
„Chutzpah“ oder „Balagan“ seien daher Alltag in
Israel, weder positiv noch negativ konnotiert.
Wenn, dann sei es eher wie beim Krafttraining:
„Je mehr man damit vertraut ist, in einem chaoti-
schen Umfeld aufzuwachsen, umso intensiver
trainiert man die entsprechenden Muskeln, die
die Anpassungsfähigkeit stärken.“ Schon auf der
Spielplatzrutsche lernten israelische Kinder das
Chaos-Prinzip. „Man sagt den Kindern hier nicht,
dass sie die Leiter besteigen und dann herunter-
rutschen sollen. Deshalb probieren die Kinder
mehrere Varianten aus und erklettern die Rutsche
etwa von unten nach oben.“ Das fördere die Krea-
tivität der Kleinen deutlich mehr, als der Anleitung
ihrer Helikoptereltern strikt Folge zu leisten.
Während „Balagan“ für die kreative Unordnung
in der Gesellschaft stehe, sei „Chutzpah“ der ei-
gentliche Schlüsselbegriff für Israels Unternehmer-
geist. Gründer müssten auch mal forsch auftreten,
wenn sie etwas Positives erreichen wollten, ist
Arieli überzeugt – völlig egal, wie das erst einmal
wirke. Wer ständig über sich und die optimalen
Prozesse nachdenke, verhindere Kreativität, sagt
die Expertin, die mit „Chutzpah“ ein „mutiges,
ehrgeiziges Denken“ verbinde. Ein Beispiel für die-
se positive Dreistigkeit sei etwa, wenn israelische
Firmen ihre Technologie an deutsche Autobauer
wie Daimler oder Volkswagen verkauften, und das
obwohl Israel keine eigene Autoindustrie hat: „Oh-
ne Chutzpah hätten die israelischen Firmen das
nie gewagt.“
Deshalb rät sie den ordnungsliebenden Deut-
schen, die eigenen „Chuzpe-Muskeln“ zu trainie-
ren. „Die schnelle Veränderung der Arbeitswelt
durch die Digitalisierung erfordert das.“ Als Vor-
bild sieht Arieli das Agilitätskonzept aus der Soft-
wareentwicklung, in dem formale Hierarchien
und Titel erst einmal zweitrangig sind.
Langfristig planen, aber bereit sein, kurzfristig
umzuschwenken, lautet Arielis Parole. Beim Denk-
prozess solle es darum gehen, die richtigen Fragen
zu stellen, nicht darum, die fertigen Antworten zu
kennen. Das würde neue Chancen eröffnen, weiß
Arieli aus ihrer Arbeit mit jungen Gründern.
Und, was ist nun mit dem Militär? Ist es berech-
tigt, dass Israels Streitkräfte so oft in einem Atem-
zug mit der vitalen Start-up-Szene des Landes ge-
nannt werden? Ja, lautet Arielis kurze Antwort.
Der Wehrdienst ist für jeden israelischen Erwach-
senen – ob männlich oder weiblich – Pflicht. Weil
Soldaten bereits im Alter von 18 Jahren auf Projek-
Inbal Arieli:
Chutzpah – Why
Israel Is a Hub of
Innovation and
Entrepreneurship
Harper Business
2019, 272 Seiten,
ca. 23 Euro.
Literatur
(^52) WOCHENENDE 1./2./3. NOVEMBER 2019, NR. 211