Focus - 09.11.19

(singke) #1

KULTUR KOLUMNE


Illustrationen: KAFI, Matthias Seifarth/FOCUS-Magazin

102 FOCUS 46/2019


Buch & Welt


FOCUS-Autor Uwe Wittstock
über die hervorragende Idee,
Schriftsteller auf offener
Straße in Glaskästen auszustellen

Wie man sich durch Mord


vor der Todesstrafe retten kann


Georges Simenon war der schnellste
Schriftsteller der Welt. Zumindest der
schnellste, der für höhere literarische
Ehren infrage kam. Berühmt wurde er mit
seinen Krimis um Kommissar Maigret. Für
einen Roman brauchte er wenige Tage,
für eine Erzählung wenige Stunden.
Kenner sagen, er habe 193 Romane und
167 Erzählungen unter eigenem Namen
veröffentlicht und in jungen Jahren
201 Heftchenromane und 169 Erzählun-
gen unter Pseudonym.
Irgendwann kam eine Zeitung auf die
Idee, er solle auf einem öffentlichen Platz
in Paris in einem Glaskasten Platz neh-
men und seinen nächsten Roman vor aller
Augen schreiben. Simenon war einver-
standen. Leider ging die Zeitung pleite,
bevor der Vorschlag realisiert wurde.
In meiner Lieblingsanekdote über
Simenon ruft ein Schriftstellerkollege bei

ihm zu Hause an. Doch Madame Simenon
muss den Mann enttäuschen: „Georges
hat sich eingeschlossen, er schreibt einen
neuen Roman. Ich darf erst stören, wenn
er fertig ist.“ Daraufhin der Kollege: „Okay,
ich bleib so lange dran.“
Jetzt erscheint ein Roman von Sime-
non, der kein Roman ist: „Die Verbrechen
meiner Freunde“ (Hoffmann und Campe,
21,90 Euro). Den Titel darf man wörtlich
verstehen. Simenon erzählt von seiner
Jugend in Lüttich kurz nach dem Ersten
Weltkrieg. Es war keine angenehme
Zeit, Armut, Drogen, Komasaufen. Mit
16 Jahren heuerte er als Reporter bei
einer kleinen Zeitung an, und seine unge-
heure Karriere begann. Die Burschen,
mit denen er sich damals herumtrieb,
waren keine sonnigen Gemüter: Ein
gescheiterter Maler erhängte sich, zwei
andere ernährten sich von Zuhälterei
und Erpressung.
Als er zehn Jahre später sei-
ne ersten Krimis geschrieben
hatte, begegnete er den beiden
wieder – in den Schlagzeilen.
Der eine hatte den Liebhaber
seiner Freundin umgebracht,
der andere in Frankreich seine
Geliebte und seine Mutter
erschlagen. Da ihm als Mörder
in Frankreich die Todesstrafe
drohte, in Belgien aber nur
lebenslängliche Haft, floh er
nach Lüttich, erschoss dort
ziemlich wahllos einen Mann
und stellte sich der Polizei.
„Ich selbst“, sagte Simenon
einmal, „bin im Dunkeln gebo-
ren und im Regen, doch ich
bin entkommen. All die Verbrechen, über
die ich schreibe, sind häufig Verbrechen,
die ich vermutlich selbst begangen
hätte, wäre ich nicht entkommen. Ich
gehöre zu den Glücklichen.“

Schreibtischtäter
Wäre er nicht Schriftsteller
geworden, wäre er wohl
wie einige Freunde im
Knast gelandet, bekannte
Georges Simenon

Ist „My Zoe“ ein feministisches Statement?
Delpy: Das war nicht meine Absicht,
jedenfalls nicht direkt. Klar, er hat etwas
Feministisches, denn es ist eine weibliche
Hauptfigur, die etwas Unerhörtes tut.
Brühl: Ich sehe das genauso, zumal du
ja auch eine Feministin bist. Und ich wohl
eher ein Macho (lacht).
Delpy: Na ja, du hast ein winziges Quänt-
chen von Feminismus in dir, das ich kaum
zu fassen bekomme. Nein, das ist ein Witz.
Daniels Machismo sehe ich ausschließlich
in seiner Fußballbesessenheit. Mir ist klar,
dass man Männer nicht komplett ihrer
Maskulinität berauben darf.
Brühl: Ich bin oft schockiert, wie sich
manche Männer verhalten, wie gewalt-
tätig sie auch sind. In vielen Ländern sind
Frauen extrem gefährdet.
Im Film geht es ja nicht um Gewalt, sondern
um das Überschreiten von Grenzen in der
Wissenschaft, etwa um das Klonen. Welche
Botschaft soll der Film vermitteln?
Delpy: Keine. Ich stelle Fragen. Mir war
wichtig, dass der Film eben nicht Stel-
lung bezieht, sich nicht eindeutig für oder
gegen das Klonen positioniert. Deshalb
gibt es übrigens auch keine Musik, die Zu-
schauer beeinflussen könnte. Ich bin fast
wie eine Wissenschaftlerin ans Werk gegan-
gen, obwohl es gerade beim Thema Klonen
hochemotionale Aspekte gibt. Deshalb
spricht der Film auch Gefühle an.
Brühl: Wir wissen ja noch gar nicht, wie
die Entwicklung weitergeht.
Der letzte Teil des Films spielt im Jahr 2024.
Wenn das Klonen eines Menschen möglich
wäre, hielten Sie es dann für unethisch?
Delpy: Es gibt viel Schlimmeres, jeden
Tag passieren Millionen furchtbarer, un-
moralischer Dinge, Völker werden ausge-
löscht, Kriege geführt, Massaker began-
gen, die Umwelt zerstört. Und da soll es
schrecklich sein, ein gestorbenes Kind zu
klonen? Natürlich hat das ethische Impli-
kationen, es geht ja auch um die Seele,
aber was diese Mutter tut, ist nichts Böses.
Brühl: Es geht um eine religiöse Dimen-
sion, Gottes Schöpfung, und das macht
uns Angst.
Delpy: Ach, wir spielen doch schon lan-
ge Gott. Wir greifen in das Schicksal ein,
indem wir zum Beispiel Antibiotika ein-
nehmen oder die Anti-Baby-Pille.
Brühl: Die Argumente leuchten mir ein,
dennoch bleibe ich bei derartigem Fort-
schritt skeptisch. Ich habe wenig Vertrau-
en in die Menschheit. Mir gefällt die Idee,
dass es da eine Macht über uns gibt, sei
es nun Gott oder sei es die Natur. n


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