LEBEN SPORT
Einzel Seit 2014 ist Medwedew ATP-Profi und
spielte bislang 9,6 Millionen US-Dollar ein
Doppel 2018 heiratete Medwedew seine
Langzeitfreundin Daria in Moskau
Fotos: instagram.com/medwed33
124 FOCUS 46/2019
dann mit eigentümlichen Zwischenfällen
- etwa als er 2017 in Wimbledon einmal
einer Schiedsrichterin Geldmünzen vor
den Stuhl warf, um sie der Käuflichkeit zu
bezichtigen. „Ich stand mir lange selbst
im Weg. Ich hatte große Probleme mit
meinen Wutausbrüchen“, sagt Medwe-
dew, „oft dachten die Fans: Der Kerl ist
doch wahnsinnig.“
Erst vor anderthalb Jahren bekam Med-
wedews Karriere einen sanften, aber ent-
scheidenden Schub: Er stellte seine Ernäh-
rung um, verzichtete auf Süßigkeiten und
Fast Food. Er engagierte einen persönli-
chen Physiotherapeuten. Und er arbeite-
te regelmäßig mit einer Mentaltrainerin
zusammen, um die Dämonen der Vergan-
genheit zu besiegen: seinen Jähzorn, seine
zuweilen irren Blackouts. „Mein Leben ist
einfach ein Stück normaler geworden. Ich
zocke auch nicht mehr die ganze Nacht
auf der PlayStation herum“, sagt Medwe-
dew. Party, sagt er, „mache ich jetzt lieber
auf dem Platz“. Auch seiner Ehefrau Daria
verdanke er „unheimlich viel“: „Sie ist der
große Halt für mich. Seit meinem Heirats-
antrag ging es immer nur aufwärts.“
Vom Schurken zum Helden
Bei den US Open, dem schillerndsten
aller Grand Slams, war Medwedew im
Sommer die auffälligste Erscheinung in
der Karawane der Profis gewesen. Als er
einem arglosen Ballmann in der Dritt-
rundenpartie gegen den spanischen
Veteranen Feliciano López wütend das
Handtuch entriss und dann auch noch
dem aufgebrachten Publikum klamm-
heimlich den Mittelfinger zeigte, war
er zunächst wieder in die Rolle des Bad
Boy zurückgestolpert. Erst recht, als er in
seinen Court-Interviews danach noch mit
diabolischem Grinsen behauptete: „Ihr
habt mir so viel Energie gegeben, als ihr
gegen mich wart.“ Doch nach diesem
leicht zynischen Auftritt wandelte sich
allmählich die Wahrnehmung des kämp-
ferischen Russen. Medwedew wurde
zum geliebten Bösewicht, er bot den ver-
rückten New Yorkern genau jene leichte
Crazyness, aber auch Courage, die sie
so mögen.
Als Medwedew das Finale gegen Nadal
nach dramatischen fünf Sätzen verlor,
wurde er mit brausendem Applaus ver-
abschiedet, er war auch als Verlierer zum
Gewinner geworden. Keiner, so erklärte
Experte Boris Becker, „habe jemals einen
der Top-Leute in einem Endspiel so in
Gefahr gebracht wie Medwedew“. Der
Russe, sagte Becker, sei jetzt erst mal der,
„auf den man schauen muss in dieser
Generation: Er ist unter den Jungen in
einer Pole-Position.“
Medwedews größte Stärke ist, keine
echte Schwäche zu haben. Er verfügt
nicht über jene meisterliche Eleganz
und Dynamik wie der ewige Federer.
Er ist kein leidenschaftlicher Matador
wie der Mallorquiner Nadal. Am ehes-
ten ist er noch eine modernere Variante
des Zermürbungsspezialisten Djokovic,
einer, der mit enormer Variation und
faszinierender Ausdauer seine Gegner
vor immer neue Rätsel stellt. „Er macht
praktisch keine Fehler. Gegen ihn musst
du fast immer 25, 30 Bälle spielen, um
einen einzigen Punkt zu gewinnen“,
sagt der Japaner Kei Nishikori über
den Tennis-Kronprinzen aus Moskau,
„er durchschaut dich gnadenlos. Und
er spielt gegen alle möglichen Gegner
einfach sehr, sehr gut.“ Medwedew ver-
teile „so gut wie keine Geschenke“, er
gebe einem „einfach gar nichts“, sagt
der Grieche Stefanos Tsitsipas, selbst
einer der Stars der neuen Generation:
„Er spielt so, dass du Fehler machst.
Und du weißt nicht mal, wieso du die
Fehler machst.“
Ein unfassbarer Typ
Sein Aufschlag ist Medwedews gefähr-
lichste Waffe. Bis zum großen WM-Tref-
fen in London hatte er bereits 653 Asse
geschlagen, beim Stuttgarter ATP-Tur-
nier im Frühling gelang ihm ein beson-
deres Kunststück: Gegen den Kontrahen-
ten Lucas Pouille aus Frankreich gewann
er eines seiner Aufschlagspiele mit vier
Assen hintereinander in 29 Sekunden –
ein neuer Geschwindigkeits-Weltrekord.
Medwedew ist allerdings auch ein
exzellenter Returnspieler, einer, der mit
außergewöhnlicher Hand-Augen-Ko-
ordination die kleine Filzkugel so groß
wahrnimmt wie einen Fußball – und sie
daher perfekter als die große Masse der
Berufsspieler trifft. Manchmal habe er
das Gefühl, er betreue „ein Genie“, sagt
Medwedews Trainer Gilles Cervara und
fügt hinzu: „Allerdings versteht man
Genies auch nicht immer.“
Medwedew ist erfrischend anders im
gleichförmigen modernen Tennisbetrieb.
Wo sich viele Spieler kaum noch unter-
scheiden in ihrem Repertoire, wo ermü-
dende Grundlinienduelle das Bild bei
Damen und Herren prägen, weiß man
bei Medwedew nie, was im nächsten
Moment passiert. Der Russe ist ein Meis-
ter des Verwirrspiels, der faszinierenden
Schachzüge, des Tempowechsels. Sein
Spiel kennt keine Gewissheiten für den
Gegner, auch weil er selbst oft nicht weiß,
„was im nächsten Moment kommt, ein
Stopp, ein Schnittball, ein Schlag mit vol-
ler Power“. Wo das alles noch enden soll
für ihn, für den charmanten Störenfried
der Tennis-Weltordnung? Daniil Medwe-
dew sagt: Ich will die Nummer eins wer-
den, ganz klar.“ n
JÖRG ALLMEROTH
„Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich ein Genie trainiere“
Medwedews Coach Gilles Cervara
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