Focus - 09.11.19

(singke) #1
Fotos: Peter Rigaud, Markus C. Hurek/beide für FOCUS-Magazin, Bernd Borchardt/Norbert Bisky, VG Bild-Kunst, Bonn 2019

FOCUS 46/

EDITORIAL

bis ich 14 Jahre alt war, schien in meinem
Leben so ziemlich alles klar vorgezeichnet:
keine Zulassung zum Abitur, statt Stu-
dium eine Handwerkerlehre und mit viel
Glück ein Wartburg mit 21, der viele Jahre
zuvor schon beantragt wurde. Ein Leben
in Grenzen, ohne große Not, aber auch
ohne Freiheit. Mein Traum, Journalist zu
werden, das wusste ich, würde niemals in
Erfüllung gehen.
Während ich heute, 30 Jahre später, die-
se Zeilen schreibe, schaue
ich aus meinem Büro auf
den Potsdamer Platz, damals
noch die Todesstreifenbrache
im geteilten Berlin. Ich darf
denken und sagen, was ich
will, ohne im Gefängnis zu
landen. Welch ein Wert!
Mein 9. November 1989
ist ein Tag, der niemals en-
det. So viel Glück, so viel
Geschichte passen nicht in
24 Stunden. Eine alte Welt
ging unter, eine
neue Welt auf.
Der Tag verän-
derte das Leben
von Millionen
Menschen – und
auch das meiner Familie,
wenngleich wir das am
Abend dieses 9. November
nicht ahnen konnten.
„Vati, die öffnen die Mau -
er“, rief ich in die Küche,
als der SED-Mann Günter
Schabowski die neuen Reise-
regelungen für DDR-Bürger
herausstammelte und meine
Eltern gerade das Abendbrot
vorbereiteten. Ein Satz dieses
Abends, den ich nie verges-
sen werde, war dieser: „Och,
Robbi, lass erst mal die ande-
ren rüber, die machen die
Grenze eh nicht mehr dicht“,
antwortete mein Vater sanft
und glückselig, als ich darauf
drängte, sofort nach Berlin
zu fahren. Der nüchterne
Sachse hatte das Ende der
maroden DDR schon Monate

zuvor prophezeit; meine Eltern und ich
hatten auf den Leipziger Montagsdemos
auch für diesen Tag demonstriert.
Der 9. November 1989 war ein Ge-
schenk. Mein Vater wurde Unternehmer,
meine herzensgute Mutter blieb mit Freu-
de Kindergärtnerin, endlich ohne staat-
liche Gängelung. Und ich durfte Abitur
machen, Journalist werden – einen Tag
nach dem Abi startete ich in einer Zei-
tungsredaktion.
Ich denke sehr oft mit Dankbarbeit
und Demut an den Tag des Mauerfalls:
wenn ich etwa meinem
Sohn in die Augen schaue –
ein Kind der Einheit, weil
Mama West. Oder wenn
ich morgens auf dem Weg
in die Redaktion durchs
Brandenburger Tor spazie-
re. Auch auf der A 9 werde
ich sentimental, immer auf
Höhe der Raststätte Fran-
kenwald.
Nein, diese Freiheit ist
nicht selbstverständlich!
Gerade in Berlin,
wo an jeder Ecke
jeden Tag ein Stein
an das Gestern er-
innert, vibriert die-
ses deutsche Mär-
chen. In dieser Woche natür-
lich ganz besonders.
Am Montag ehrte der Ver-
band Deutscher Zeitschrif-
tenverleger am Gendar-
menmarkt die Organisation
Reporter ohne Grenzen und
den Bundestagspräsiden-
ten Wolfgang Schäuble mit
der Goldenen Victoria. Es
sei leicht, für Freiheitsrech-
te einzutreten, wenn man
immer in Freiheit aufge-
wachsen sei, sagte Schäuble
in seiner Dankesrede. Frei-
heit sei der Kern der deut-
schen Frage: „Wir sollten
alles dafür tun, Freiheit und
Demokratie nicht wieder zu
verlieren.“
Schäuble hat so Recht. Die
Gefährdung der freien Mei-
nungsbildung war lange nicht Herzlich Ihr

mehr so akut wie heute. Presse- und Mei-
nungsfreiheit sind selbst in Europa keine
Selbstverständlichkeit mehr. Deshalb star-
tete Hubert Burda Media, das Unterneh-
men, zu dem FOCUS gehört, am Montag
eine Kampagne für Verlagsjournalismus:
„... Print macht stark“.
Am Dienstag in Berlin: Ich bin Lauda-
tor auf einer Preisverleihung im „Soho
House“. Bis 1989 saß in dem Gebäude
nahe dem Alexanderplatz das Zentralko-
mitee der SED, heute steigt hier der Jetset
ab. Was für ein Witz.
Mittwoch: In der Mittagspause fällt mir
auf, dass ich mehrfach die Sektorengrenze
übertrete – Pflastersteine im Asphalt zeich-
nen den Verlauf der ehemaligen Berliner
Mauer nach.
Donnerstag: Der wunderbare Künstler
Norbert Bisky zeigt seine neuen Ausstel-
lungen in Berlin und in der Potsdamer
Villa Schöningen, die an der Glienicker
Brücke steht. Ein Ort der Kunst, einst
tauschten hier Ost und West Agenten aus.
Freitag: Ein Freund, der zu DDR-Zei-
ten sein erstes Geld mit dem Verkauf von
„Bravo“-Postern verdiente und nach der
Wende Multimillionär wurde, lädt ein zu
„Rotwein aus dem Jahr 1989 – auf eine
bewegende Nacht vor 30 Jahren“.
Wenn Sie dieses Editorial regelmäßig
lesen, wissen Sie, dass ich mich an dieser
Stelle schon oft über die Hauptstadt und
den rot-rot-grünen Senat aufgeregt habe,
zuletzt, als die Politiker in einem neo-
sozialistischen Rausch das Immobilien-
eigentum der Bürger infrage stellten. Und
doch liebe ich diese aufregende Stadt, ne-
ben Leipzig, meiner Heimat (was die Städte
kurioserweise verbindet: Seite 145).
„Berlin, Berlin, big city of dreams“,
heißt es in einem Song. Es wäre auch eine
passende Überschrift für unsere Titelge-
schichte gewesen, in der Menschen, die
die Stadt in den letzten 30 Jahren bewegt
haben, die Story eben dieser Weltstadt
erzählen. Sie schauen auf Berlin, das als
Sehnsuchts- und Freiheitsort strahlt. Korea
ist noch geteilt, ebenso Zypern – lassen Sie
uns in diesen Tagen Berlin und die fried-
liche Revolution von 1989 feiern. Lassen
Sie uns Mauern einreißen.

Von Robert Schneider, Chefredakteur

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Der Maler Norbert Bisky
setzt Berlin ein Denkmal auf
Leinwand

Der Titel der neuen
Burda-Kampagne

Die Einladung: in der Nacht
zum 9. November Rotwein
aus dem Jahr 89

Robert Schneider und
im Hintergrund die Lichter
der Philharmonie

Unsere Freiheit und der Beat Berlins


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