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NIF - Nachrichten im Film UG, Wolfgang Volz/laif, imago images, Andreas Große Halbuer (2), dpa (2), ddp images, Christian Werner, ullstein bild
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DEUTSCHLAND
Berlin, verhüllt Christo schenkt der Stadt 1995 ein Spektakel und küsst die Künste wach
Dezember 1997
Die Erotikmesse
Venus findet zum
ersten Mal statt.
Inzwischen gilt
sie als bedeutendste
Messe ihrer Art
1998
Elf Berliner Musiker
gründen die
Dancehall-Combo
Seeed. Sänger
Demba Nabé ist
2018 verstorben
- August 1997
Das bekannteste
deutsche Nobelhotel,
das „Adlon“, wird in
einem Neubau am
Boulevard Unter den
Linden wiedereröffnet - Juni 1995
Das Künstlerpaar
Christo und
Jeanne-Claude verhüllt
den Reichstag mit
silberfarbener
Plastikfolie - September 1994
Die Berliner nehmen
nun auch Abschied
von den rund 12 000
Soldaten der
westalliierten
Staaten - August 1994
Verabschiedung der
russischen Truppen.
Über 500 000 Soldaten
und Zivilisten
verlassen Berlin in eine
ungewisse Zukunft - April 1994
Till Lindemann
gründet Rammstein,
die bis heute zu den
bedeutendsten
Rockbands
Deutschlands zählt
Stephan Landwehr, 61,
Gastronom und
Rahmenbauer, half
erst der Kunst, gut
auszusehen, und
gab der Jeunesse dorée
im „Grill Royal“ dann
zu essen
Stephan Landwehr: Nachts saß ich im
„Exil“. Irgendwann deutlich nach Mit-
ternacht rollten wir, gut abgefüllt, raus
in die Nacht Richtung „Hasir“, Linsen-
süppchen löffeln. Dann ging’s irgend-
wann heim. Ab zwölf Uhr kehrte wieder
Leben ein in Kreuzberg. Nach ein paar
Zigaretten und einem anständigen Kaffee
widmeten wir uns langsam den geschäfti-
gen Aktionen. Gegen frühen Abend gab
es dann die erste kleine Mahlzeit, gern
mal ein Butterbrot, dazu ein Bierchen, da
blieb man dann auch dabei. Der Rhyth-
mus der Achtziger und frühen Neunzi-
ger war so viel entspannter, null Hektik
und kein Stress.
Westbam: Eigentlich wurde Techno erst
durch die Leute aus dem Osten groß. In der
Erzählung wird der Siegeszug von Techno
gern durch die vielen leeren Gebäude im
Osten erklärt, aber der springende Punkt
waren nicht die verlassenen Häuser, son-
dern die Kids.
Inga Humpe: Die Anfänge von Techno
waren hypnotische Sequenzen – in Ber-
lin funktionierte das gut, in New York zum
Beispiel gar nicht, weil die Stadt sowieso
schon hart genug war. In Berlin tanzte
man stundenlang, in New York bekam
man Angst. Die Leute hier konnten den
extremen, fast körperlich anstrengenden
Sound ertragen. Die Liebe zum Leben, sich
auszudrücken, Sex auf der Tanzfläche zu
haben, die Freiheit, das war schon auch
eine eigenartige Community.
Steffi-Lotta, 42,
war härter an der
Tür der „Bar25“
als der härteste
Türsteher des
„Berghain“, aber nur
zu Leuten, die Berlin
nicht mochten
Steffi-Lotta: „Friede, Freude, Eierkuchen“,
das war unser Ideal und nicht etwa, den
geilsten Werbevertrag in der Tasche zu
haben und mit 20 eine Wohnung kaufen
zu können. Die Stadt habe ich geliebt,
weil was möglich war. Es gab keine Sperr-
stunde, die Bullen waren ziemlich okay,
irgendwelche Veränderungen hab ich
damals null wahrgenommen.
Jonas Burgert, 50,
malt sehr erfolgreich
sehr große Bilder
und dankt dafür
mit den „Ngorongoro“-
Events während
des Gallery
Weekend
Jonas Burgert: Völlig neue Stile wurden
geboren. Auf die politische Revoluti-
on folgte so etwas wie eine ästhetische
Revolution, etwa in der Musik, in den
Clubs. Vorher hatte ein typischer Song
zwei, drei Strophen, einen Refrain – und
das war’s. Dann kam Techno. Auf einmal
ging es um Klangteppiche, um endlose
Trancezustände. Es entstand eine Szene
von Verrückten und Entrückten, die in
den Nächten lebten. Die Musik wollte
nicht mit einer Melodie verzaubern, die
Unterhaltung fiel weg, der Zustand kam.
Ich bin damals auch eingetaucht in diese
Welt. Ich bin kein großer Tänzer, aber die
Szene ist faszinierend. Auch heute noch
gehe ich ab und an ins „Berghain“, in
dieses Schattenreich.
Westbam: Was macht eine große Popkul-
tur aus? Wenn man Musik macht, denkt
man natürlich immer, dass man der Aller-
beste ist und etwas genau so und nicht
anders klingen muss. Aber die Wahrheit
ist, dass Musik der Schlüssel sein muss,
der in das Schloss der Zeit passt. Wir hat-
ten es mit einer ganz neuen Generation
von Leuten zu tun, für die alles anders
war, für die die Karten neu gemischt wur-
den. Also brauchten die einen Sound-
track, der das widerspiegelte: den Glau-
ben an die Zukunft, an den Westen und
totale Modernität.
Stephan Landwehr: Jede Nacht mach-
te irgendwo eine neue Bar, der nächste
Club auf. Plötzlich gab es das „WMF“:
Um reinzukommen, musste man auf
Christo
FOCUS 46/2019