5%
15%
25%
27.09.09 11.03.2011 22.09.13 24.09.2017 20.09.2019
POLITIK
A
usgerechnet Winfried Kretsch-
mann, der alte weise Mann
aus dem Südwesten, hat ih-
nen so richtig einen einge-
schenkt. Ausgerechnet der
Mann, den sie verehren, weil
er lebensklug und besonnen
ein großes Bundesland führt, ausgerech-
net dieser Mann macht einen solchen
Fehler.
Es war ein vergnüglicher Abend am
vorvergangenen Donnerstag im Stuttgar-
ter Schauspielhaus, der grüne Minister-
präsident Kretschmann ist zu Gast bei
Harald Schmidt, der stellt die Frage:
Wer wird denn grüner Kanzlerkandidat?
„Habeck“, antwortet Kretschmann kurz
und bündig. Er kommt gar nicht auf die
Idee, die Frage abzuwehren, er
sagt einfach nur: „Habeck.“
Wenn die Grünen gerade eines
nicht gebrauchen können, dann
ist es die Debatte um die Kanzler-
kandidatur. Seit Monaten versucht
das Spitzenduo Robert Habeck, 50,
und Annalena Baerbock, 38, die-
ses Thema zu ignorieren. Doch
vergebens. Nahezu kein Inter-
view, keine Talkshow, kein Auf-
tritt ohne K-Frage. Und jetzt auch
noch der Kretschmann.
Doch gut möglich, dass sich die
Sache mit dem Kanzleramt bald
aus anderen Gründen erledigt.
Die Grünen sind vom Höhen- in
den Sinkflug gewechselt. Im Som-
mer lagen sie in den Umfragen
bei bis zu 27 Prozent, sie waren
einen kurzen Moment lang sogar
stärkste Kraft in Deutschland. Sie hat-
ten zuvor bei Landtagswahlen in Bayern
(17,6 Prozent) ein spektakuläres Ergebnis
erzielt, in Hessen (19,8 Prozent) ebenso.
Die Europawahl im Mai (20,5 Prozent)
war die beste in der Parteigeschichte.
Es war die Zeit, als Habeck von der Büh-
ne sprang und seine Fans ihn auf Händen
trugen wie einen Rockstar. Jetzt sind sie
laut Emnid bei 18 Prozent angekommen,
ein Minus von neun Prozentpunkten, da
ist Kretschmanns ungeschickte Akklama-
tion des Kanzlerkandidaten schon bei-
nahe peinlich.
Umfragen sind Momentaufnahmen,
sie deuten eine Richtung an. Der Höhe-
punkt ist anscheinend erreicht, grüner
wird’s nicht. Jetzt geht es abwärts. Erneut
könnte sich zeigen, dass die Grünen den
Erfolg nicht festhalten können. Ihnen flie-
gen erst die Sympathien zu – und dann
fliegen sie wieder weg. Die Partei der
Nachhaltigkeit hat Schwierigkeiten mit
der Nachhaltigkeit ihres Erfolgs.
Ist die Geschichte von den grünen Rie-
sen am Ende doch nur ein Märchen? Ein
Märchen, das von einem politischen Zwerg
handelt, einem Gernegroß? Nach dem
Reaktorunfall im japanischen Fukushima
2011 lagen die Grünen bei 24 Prozent.
Jürgen Trittin war damals ihr Spitzen-
kandidat. Und was blieb am Ende? Mick-
rige 8,4 Prozent (siehe Grafik).
In der Gegenwart sitzt Robert Habeck
vor Journalisten. Diesmal im Dreiteiler mit
Nadelstreifen, ein Anzug wie ein Panzer,
das Hemd blütenweiß. Er sieht frisch aus,
aber die Nacht zuvor war enttäuschend.
Thüringen hat am Vortag gewählt – die
Grünen schafften es knapp ins Parlament.
Bei Habeck klingt das dann so: „Die
Wahl hat aber noch mal deutlich gemacht,
wie groß die gesellschaftlichen Heraus-
forderungen sind, sowohl in der Frage,
wer sind wir, also wie geeint ist dieses
Land eigentlich? Wie stark gibt es eigene
regionale Identitäten? Dann aber auch
auf der Frage, wie weit gelingt es, politi-
sche Mandate für gesellschaftliche Auf-
gaben wirklich zu erzielen?“
Es ist nicht sein bester Tag, der große
Kommunikator Habeck schwurbelt rum.
Defensive muss er noch lernen. Er ist die
klare Nummer eins bei den Grünen – und
wenn die Nummer eins schwächelt, hat
das ganze Team ein Problem.
Nach der Kür kommt jetzt die Pflicht
Der Berliner Parteienforscher Oskar Nie-
dermayer erwartet, dass die Grünen in
den Umfragen weiter sinken. „Der
Greta-Hype in den Medien ist vor-
bei und auch Fridays-for-Future
spielt kaum noch eine Rolle. Das
Thema“, sagt Niedermayer, „ist
bei der Bevölkerung nicht mehr
so relevant.“
Dazu passen die Zahlen der For-
schungsgruppe Wahlen. Demnach
hielten im Oktober nur noch 41 Pro-
zent Klimaschutz für ein wichti-
ges Thema. Im September waren
es noch 59 Prozent. Das Poten-
zial der Grünen sei fast ausge-
schöpft, sagt Niedermayer. Union
und SPD seien bereits in einem
desolaten Zustand. Es sei kaum
zu erwarten, dass von dort noch
mehr Wähler zu den Grünen hin-
überwanderten. „Das Image des
Medienlieblings Habeck hat erste
Kratzer bekommen“, sagt Niedermayer,
„weil er sich nicht bei allen Themen als
sattelfest erwiesen hat.“
Immer deutlicher wird, dass die Grünen
zwar geschickt einsammeln, was CDU,
SPD und andere liegen lassen. Zugleich
fehlt diesem Publikum die Bindung,
es ist politisch promiskuitiv, eine gro-
ße, ausgesprochen illoyale Gruppe von
Vielleicht-Wählern mäandert durch die
Parteienlandschaft auf der Suche nach
einer Heimstatt.
Das Auf und Ab der Grünen
Enttäuscht Grünen-Chef Habeck und die Spitzenkandidatin
Anja Siegesmund am Abend der Thüringer Landtagswahl
Bundestagswahl 2009
Die Grünen bleiben mit 10,7 Pro-
zent Opposition. Schwarz-Gelb
verlängert die AKW-Laufzeiten
Bundestagswahl 2017
Nach Zwischenhoch 2016
(Flüchtlingskrise) sacken
die Grünen auf 8,9 Prozent
Bundestagswahl 2013
Mit Forderungen nach Veggie-Day und Steuer-
erhöhungen fallen die Grünen auf 8,4 Prozent
Klimaschutz
Die GroKo verabschiedet das
Klimapaket, der Trend wendet
sich gegen die Grünen
Reaktorunfall Fukushima
Kurz darauf erleben die Grünen
ein bundesweites Umfrage-
hoch, im Südwesten über-
nehmen sie sogar die Macht