Focus - 09.11.19

(singke) #1
DEUTSCHLAND

53

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weiß
nicht/
k. A.

nein ja

%

Fotos: Daniel Naupold/dpa, Hans Christian Plambeck/laif


FOCUS 46/2019 41

Was nun folgt, ist eine Art Reifeprüfung
für den Grünen-Chef Habeck. In sechs
Tagen ziehen sie beim Parteitag in Biele-
feld eine erste Bilanz. Habeck und Baer-
bock stellen sich zur Wiederwahl – es gilt
als sicher, dass sie sehr gute Ergebnisse
bekommen.
Doch danach gilt es, die Spannung zu
halten. Die Bundestagswahl steht spä-
testens 2021 an. Habeck und Baerbock
müssen die Grünen, die seit 14 Jahren die
Oppositionsbank drücken, in die Regie-
rung führen. Alles andere wäre eine Ent-
täuschung.
Nach der Kür kommt für Habeck und
Baerbock nun also die Pflicht. Und zwar
in einem verschärften Umfeld. Aus Neid
haben die anderen Parteien die Grünen
zum Hauptgegner erklärt. Vor
allem CSU-Chef Markus Söder
versucht, die Themen der Ökopar-
tei zu kopieren und sich im bür-
gerlichen Lager als grüne Alter-
native zu positionieren. Das macht
es für Habeck und Baerbock nicht
einfacher.
Grünen-Parteitage sind etwas
Besonderes. Dann steht die Basis
im Mittelpunkt, an diesen Tagen
rückversichern sich die Berliner
Profipolitiker bei den Krötenrettern
und Plakateklebern aus den Orts-
vereinen. Das war bisher oft kon-
fliktbehaftet, es duellierten sich
Fundis (die sich inzwischen Par-
teilinke nennen) mit den Realos.
Dieser Streit gilt als befriedet,
die Linken haben sich damit
abgefunden, dass die Realos
Habeck und Baerbock aus Sicht der Par-
tei einen guten Job machen. „Aber der
Streit kann jederzeit wieder aufbrechen“,
sagt ein hochrangiger Grüner, „nie war
die Lage so volatil.“ Damit hätten alle
Parteien zu kämpfen. Er könne weder
sagen, wie die Partei noch wie die Repu-
blik in vier Wochen aussehe.
Stargast ist diesmal ein Gewerkschafter:
DGB-Chef Reiner Hoffmann wird zu den
Grünen sprechen. Auch das ist ein Signal:
Die Grünen versuchen, ihre Zielgruppe zu
erweitern, in alle Milieus hineinzuragen.
Eben auch in jenes der Gewerkschaften,
deren natürlicher Partner SPD gerade ums
politische Überleben kämpft.
Dezidiert linke Themen, dezidiert öko-
nomische Themen rücken in den Mittel-
punkt. Beispiel Wohnen: Steigenden Mie-
ten und Kaufpreisen wollen die Grünen
ein Grundrecht auf Wohnen entgegenset-
zen. Für Mieter wollen sie ein Mitbestim-

mungsrecht einführen. Außerdem sollen
sie das Recht erhalten, bestehende Miet-
verträge untereinander zu tauschen. „So
können alleinstehende ältere Menschen
ihre als zu groß empfundene Wohnung
mit der jungen Familie tauschen, die drin-
gend mehr Platz benötigt“, heißt es in
einem Leitantrag zum Thema Wohnen.
Die Mietpreisbremse wollen sie auch auf
Gewerbeimmobilien ausweiten.

Um gegen Baulandspekulationen vor-
zugehen, schlägt die Parteispitze vor, Ent-
eignungen zu erleichtern. Das Grundge-
setz sehe diese Möglichkeit ausdrücklich
vor. Sie wollten die Sozialpflichtigkeit des
Eigentums „wiederherstellen“. Dies solle
auch gelten, wenn Eigentümer dem soge-
nannten Baugebot nicht nachkommen.
Aber es gibt auch Anträge, die eine
Strafsteuer auf umweltschädliche Produk-
te fordern. Danach soll die Mehrwertsteu-
er für SUVs beispielsweise auf 35 Prozent

steigen. Ob das verfängt? Die Grünen
bekommen jetzt das Mitte-Problem. Je
breiter sie sich aufstellen, desto schwie-
riger wird die programmatische Ausrich-
tung. Was sie auf der einen Seite einsam-
meln, verlieren sie auf der anderen.
Inhaltlich wird es auf dem Parteitag um
die großen Fragen gehen. Wie versöhnt man
Ökologie mit Ökonomie? Kein Zufall ist
das, denn die Grünen wissen, dass sie es
im Fall einer Regierungsbeteiligung
mit einer vermutlich schrumpfen-
den Volkswirtschaft zu tun haben
werden. Die Leitanträge seien der
Versuch der Parteispitze, Schaden
abzuwenden, meint der Berliner
Parteienforscher Niedermayer.
Als Opposition hätten die Grünen
unverbindlich bleiben können.
Aber vielleicht geraten sie bald in
Regierungsverantwortung, sollte
die GroKo platzen. „Wenn dann der
C0 2 -Preis tatsächlich auf 40 Euro
pro Tonne steigt, spüren das die
Leute. Deswegen ist es der Partei-
spitze jetzt wichtig zu zeigen, dass
man nicht wirtschaftsfeindlich ist.“
Wachstumskritik wie früher fin-
det sich nur selten. Zwar wollen
die Grünen mittelfristig keine Ver-
brennungsmotoren mehr zulassen
oder Bundesstraßen mehr bauen. Doch
insgesamt klingen die Leitanträge, als
wolle man die soziale Marktwirtschaft
behutsam um den Aspekt Ökologie erwei-
tern. Baerbock und Habeck wollen die
Wähler, die sie in den letzten Monaten von
SPD und CDU gewonnen haben, nicht
gleich wieder mit Radikalismen verlieren.
Neulich traf der Rockstar Habeck auf
einen, der sich selbst mal den letzten
Liverocker in der Politik bezeichnet hat.
Joschka Fischer und Habeck hielten auf
der Bühne des Berliner Hebbel-Theaters
ein kleines Pläuschchen. Der eine Vize-
kanzler außer Dienst, der andere vielleicht
Kanzler der Reserve. Da redeten zwei wie
Vater und Sohn. Und dem Vater gefällt es
offenbar, was der Jüngere macht. „Die
Doppelspitze Robert Baerbock und Anna-
lena ist die einzige, die funktioniert.“ Und
man weiß bei Fischer nie so recht, ob er
sich da bewusst versprochen hat. n

„Im Moment spricht wenig dafür, dass die Grünen


weiter zulegen. Das Potenzial ist ausgeschöpft“
Oskar Niedermayer, Parteienforscher

Quelle: Kantar Emnid

Kurs aufs Kanzleramt
Die Mehrheit der
Deutschen befürwortet
einen Kanzlerkandidaten
der Grünen

FOCUS fragte: Sollten die Grünen einen
eigenen Kanzlerkandidaten küren?

Abgeräumt Finanzminister Olaf Scholz, 61, und Kanzlerin An-
gela Merkel, 65, haben Klimaschutz zur Chefsache gemacht
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