DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT MONTAG, 18. NOVEMBER 2019 THEMA DES TAGES 3
nen. Dort wo die anderen Mig-
ranten sind, wo die meisten Kin-
der nicht mal Socken haben, oder
Schuhe. Wo Kinder in Pappkar-
tons sitzen, weil es dann nicht so
kalt ist. Auf diesem Berg stehen
ein paar verdreckte Dixie-Klos,
auf 200 Menschen kommt eine
Dusche. Für Mahlzeiten kann
man sich im Lager anstellen, drei-
mal am Tag. Wartezeit etwa ein-
einhalb Stunden. Die Straße am
Fuße des Bergs ist überlaufen mit
Menschen, aber viele Auto- und
Lkw-Fahrer nehmen den Fuß
nicht vom Gas. Im September
wurde ein Fünfjähriger von ei-
nem Truck getötet.
Ständig gibt es Ärger, zwischen
Migranten und der Polizei, aber
auch zwischen Migranten unter-
einander. Syrer und Afghanen et-
wa – Letztere stellen aktuell die
deutliche Mehrheit der Neuan-
kömmlinge – geraten immer wie-
der aneinander. Ali, ein Vater von
vier Kindern, steht vor seinem
Zelt und sagt: „Ich komme aus
Idlib, Syrien. Wir sind vor dem
Krieg geflüchtet. Wir sind diese
Zustände nicht gewohnt, Syrien
ist ein reiches Land.“ Die Afgha-
nen hingegen, die würden es ja
gar nicht anders kennen, für die
sei es in Moria nicht so schlimm:
„Warum behandelt man uns ge-
nauso schlecht wie die?“
Neu eintreffende Migranten
erhalten schnell, nach ein paar
Tagen, einen Termin für eine
Asyl-Anhörung. Diese wiederum
liegt oft in ferner Zukunft, aktuell
kann es bis 2021 dauern. Solange
darf man Lesbos nicht verlassen.
So wird es auf den Inseln immer
voller. In den EU-Papieren heißt
es: „Die Zahl der Personen, die
sich auf den ägäischen Inseln auf-
halten, steigt weiter deutlich an.
Zum ersten Mal seit dem Start
der EU-Türkei-Erklärung hat sie
den Höchstwert von mehr als
35.000 Migranten erreicht
(35.630).“ Die offizielle Kapazität
in den Hotspots betrage dagegen
gerade einmal 7625 Personen. Mit
Blick auf die steigende Zahl der
Ankünfte müssten die grie-
chischen Behörden ihre Bemü-
hungen intensivieren, „die Defi-
zite im Migrationsmanagement
anzugehen, insbesondere die Auf-
nahmekapazitäten sowie die
Asylverfahren“. Nach Jahren des
Hinauszögerns steht das grie-
chische System tatsächlich auf
dem Prüfstand. Die neue konser-
vative Regierung von Minister-
präsident Kyriakos Mitsotakis be-
schloss neue, schärfere Asyl-Ge-
setze. Dadurch sollen Asyl-Ent-
scheidungen deutlich schneller
gefällt und abgelehnte Bewerber
umgehend abgeschoben werden.
Seit Ende September lässt Athen
zudem immer wieder per Mas-
sentransfer Migranten von den
Inseln aufs Festland bringen. Die-
ses Vorgehen lässt sich mit dem
EU-Türkei-Deal nicht in Einklang
bringen. Andererseits betonen
Regierungsbeamte in der Haupt-
stadt, dass die ganze EU hier ge-
fordert sei, nicht nur Griechen-
land. Man müsse zudem an die
griechischen Inselbewohner den-
ken. Deren Wunsch: dass endlich
Schluss ist mit dem Elend. In
Kürze will Athen weitere Maß-
nahmen verkünden, um die Asyl-
Krise in den Griff zu bekommen.
Für den Moment aber sind die
Bedürfnisse der Menschen nicht
gestillt. Am Freitagmittag kommt
es ein paar Hundert Meter vom
Lager entfernt am Tor eines Fa-
brikgeländes zu Gedränge und
Geschrei. Die dänische Hilfsorga-
nisation (NGO) „Team Humani-
ty“, Team Menschlichkeit, hat
hier ihren Sitz. Jeden Freitag hän-
digen die Leute Windeln und
Milchpulver aus, und heute gibt
es noch mehr: Kinderwagen.
Hunderte Migranten sind gekom-
men, nur Mütter mit Babys wer-
den durch die Menschenkette ge-
lassen, denen ein NGO-Mitarbei-
ter mit dem Kugelschreiber eine
Nummer zwischen 1 und 350 auf
die Hand geschrieben hat. Das
System ist leicht zu manipulie-
ren, Chaos droht.
Salam Aldeen, der Gründer
greift sich ein Megafon, ruft, zerrt
Mütter samt ihrer Kinder zurück
auf die Straße. Er hatte heute 350
Kinderwagen, alle sind bereits
verteilt. Er muss verhindern, dass
jemand stundenlang für nichts
wartet. Nur für die kleinsten Ba-
bys hat er einen Trolley, der Rest
geht leer aus. Mütter weinen.
Nach zwei Stunden bittet Aldeen
die Menschen vor dem Tor, zu ge-
hen, es gebe nichts mehr. Nie-
mand bewegt sich. Kinder drü-
cken ihre Köpfe weiter durch die
Gitterstäbe. Und es kommen im-
mer mehr Leute. Ein Mann ver-
sucht, die Menschenkette zu
durchbrechen. Ein anderer be-
schimpft Aldeen, ruft: „You not
good!“ Es bricht aus dem Dänen
heraus. „I am not good?“, ruft er
zurück und marschiert in die
Menge. Die Männer fuchteln sich
mit den Armen herum. Aldeen
schlägt vor das Eisentor, er breitet
die Arme aus und schreit durch
das Megafon: „Go away! Go away!
Finish!“ Niemand bewegt sich.
AAAldeen geht zurück auf das Ge-ldeen geht zurück auf das Ge-
lände, setzt sich in die Hocke und
schlägt die Hände vors Gesicht. In
der Flüchtlingskrise wurde er be-
rühmt, weil er seinen Job in Däne-
mark aufgab, um vor Lesbos Mig-
ranten aus dem Wasser zu ziehen.
Fotos, auf denen er Babys im
Meer in den Armen hält, gingen
um die Welt. Filmemacher trafen
ihn, nachdem er während eines
Rettungseinsatzes festgenommen
worden war. Der Vorwurf: Men-
schenschmuggel. Später wurde er
fffreigesprochen. Warum tut er dasreigesprochen. Warum tut er das
hier? „Wegen der Kinder! Schau
dir die Kinder an!“, ruft er. „Für
mich ist das hier nicht Europa.
Die Lage hier ist schlimmer als in
den Flüchtlingslagern im Mittle-
ren Osten. Europa sollte sich
schämen.“ Die großen Hilfsorga-
nisationen? Würden Millionen
kassieren, nichts verbessern. „Es
ist eine Schande!“
AAAls die Dunkelheit einbricht inls die Dunkelheit einbricht in
Moria, geben sie die letzten Kin-
derwagen aus. Durch einen Seiten-
aaausgang ziehen Mütter und Kinderusgang ziehen Mütter und Kinder
davon, ein Moment des Glücks im
Elend. Das Eisentor ist mittlerwei-
le fest verschlossen, aber die Leute
gehen nicht weg. Vielleicht pas-
siert ja noch ein Wunder.
TIM RÖHN (3)
,,
Wir sind vor dem
Krieg geflüchtet.
Wir sind diese
Zustände
nicht gewohnt,
Syrien ist ein
reiches Land
Ali, ein Vater von vier Kindern
Salam Aldeen (unten) ist Gründer der Organi-
sation „Team Humanity“ auf Lesbos