Die Welt Kompakt - 18.11.2019

(Tina Sui) #1
werden, was viele Delegierte
bang auf ihren Fahrplan nach
dem Zug für den Heimweg
schielen ließ. Das Ergebnis: Gut
51 Prozent der Delegierten
stimmten für die Änderung, al-
so die Streichung der Schulden-
bremse. In diesem Punkt muss-
te der Vorstand eine Niederlage
hinnehmen. Mit dieser nicht
nebensächli-
chen Ände-
rung bestä-
tigten die
Delegierten
nahezu ein-
stimmig den
zentralen
Antrag mit
dem Titel
„Anders
wirtschaften für nachhaltigen
Wohlstand – Auf dem Weg in
die sozial-ökologische Markt-
wirtschaft“.
Immerhin: Der Begriff
„Marktwirtschaft“ gehört nun
zur Programmatik der Grünen.
Damit setzten sich Habeck und
Baerbock im Bemühen um ein
mittigeres, linksliberales Selbst-
verständnis durch. Allerdings
soll der Markt im „Green New
Deal“ streng geregelt werden.
So soll es neben dem Mindest-
lohn auch ein Mindesthonorar
fffür Selbstständige geben. Leih-ür Selbstständige geben. Leih-
arbeiter sollen das gleiche ver-
dienen wie die Stammbeleg-
schaft. Nach den Aufsichtsräten
sollen auch die Vorstände von
Unternehmen eine Frauenquote
bekommen. Die betriebliche
Mitbestimmung wird ausgewei-
tet auf Personalentscheidungen.
Bereits am Freitag hatten die
Grünen ihre Programmatik
zum Bereich Mieten und Woh-
nen festgelegt. Habeck hatte
durch eine persönliche Inter-
vention eine Forderung nach
gesetzlicher Ausweitung von
Enteignungen verhindert. Doch
als Ultima Ratio sollen sie mög-
lich sein. Und Mieter sollen
Wohnungen künftig tauschen
dürfen, ohne die Wohnungsge-
sellschaft fragen zu müssen.
Am Ende des Parteitags en-
terte Claudia Roth das Redner-
pult, um auf Folgen des Klima-
wandels, darunter den „uner-
messlichen Verlust der Hei-
mat“, hinzuweisen. Bereits 30
Millionen Menschen seien
durch umweltpolitische Krisen
vertrieben worden, sagte die
Bundestagsvizepräsidentin. Sie
führte das nicht näher aus, aber
die Zahl dürfte Schäden ein-
schließen, die durch Überbevöl-
kerung, Überweidung und über-
mäßige Wasserentnahme an
Seen entstanden sind.
Es gehe nicht darum, alle die-
se Menschen nach Europa zu
holen, versicherte Roth. Aber in
dem von ihr beworbenen und
von den Delegierten angenom-
menen Antrag heißt es: Durch
den Klimawandel könnten „Si-
tuationen entstehen, die einer
Verfolgung im Sinne der Genfer
Flüchtlingskonvention entspre-
chen – und damit internationa-
les Asylrecht begründen“.

Die Grünen-Chefs
Annalena Baerbock
(l.) und Robert
Habeck danken
NNNara Baré, einerara Baré, einer
indigenen Aktivistin
aus Brasilien,
fffür deren Redeür deren Rede

ger Habeck mit seinem beschei-
deneren Ansatz.
Gleichwohl bleiben die von
den Grünen geforderten „Maß-
nahmen für ein klimaneutrales
Land“ sehr ambitioniert. Zu
den Maßnahmen gehören auto-
freie Innenstädte und ein Koh-
leausstieg bis 2030 – also acht
Jahre früher, als es der zwi-
schen Bundesregierung, Wis-
senschaft, Umweltverbänden,
Wirtschaft und Gewerkschaf-
ten ausgehandelte „Kohlekom-
promiss“ vorsieht. Der Min-
destlohn soll von 9,19 Euro auf
zwölf Euro pro Stunde angeho-
ben werden. Mit diesem Votum
des Parteitags ziehen die Grü-
nen gleich mit SPD und Links-
partei. Das würde für Grün-
Rot-Rot passen; nach wie vor
erkennbar das Lieblingsmodell
der Mehrheit der Delegierten.
Habeck berief sich auf Realis-
mus, als er argumentierte, nie-
mand fordere, den Energiebe-
darf Deutschlands zu 100 Pro-
zent aus erneuerbaren Ener-
gien abzudecken. „Wir leben in
Europa, ein Kontinent hat die
richtige Größe“, um die nötige
Energie zu produzieren.
Deutschland könne ja auch Ka-
pazitäten an Wasserkraft aus
Norwegen oder an Sonnenener-
gie aus dem Süden aufkaufen.

Eine überraschende Strate-
gie: Dann müssten andere EU-
Staaten so viel erneuerbare
Energie (und keineswegs nur
erneuerbaren Strom) gewin-
nen, dass sie damit nicht nur
den eigenen Bedarf decken,
sondern auch noch exportieren
könnten. Das würde wohl allen-
falls dann zu einer europäi-
schen CO 2 -Neutralität führen,
wenn die Nachbarn anstelle
von Öl, Kohle oder Gas weiter-
hin Kernkraft einsetzen. Die
Kernenergie der Nachbarn al-
lerdings zur Vorbedingung ei-
ner Kernkraft- und CO 2 -freien
Bundesrepublik zu machen ist
angesichts des deutschen Ato-
mausstiegs nicht gänzlich iro-
niefrei.
Eng wurde es bei der Frage
der Schuldenbremse. Habeck
und Baerbock wollten sie lo-
ckern, aber für die Länder be-
grifflich beibehalten. „Was hilft
es denn unseren Kindern, wenn
dieser Planet schuldenfrei un-
tergeht?“, rief daraufhin ein De-
legierter unter großem Jubel
des Saals. Es wurde abge-
stimmt, zunächst per Handzei-
chen, dann durch Aufstehen,
nochmals durch das Heben der
Hände – die beiden Lager waren
nahezu gleich groß. Es mussten
die Stimmkarten ausgeteilt

einer (sozial und ökologisch
eingehegten) Marktwirtschaft
Bestand haben würde. Manche
wollten lieber von einem neuen
„Wohlstandsverständnis“ spre-
chen. Letztlich lenkten sie aber
ein. Es kam in diesem Punkt
nicht zur Kampfabstimmung.
Bei der Höhe der CO 2 -Be-
preisung machte der Bundes-
vorstand Zugeständnisse: Sie
soll im nächsten Jahr schon bei
60 Euro pro Tonne Kohlendi-
oxid liegen – nicht erst ab 2021,
wie zunächst vorgesehen. Ha-
beck brachte diesen Kompro-
miss persönlich in die Abstim-
mung ein. Nicht weit genug
ging dieser den Grünen unter
anderem aus Konstanz, der ers-
ten Stadt, die im Frühjahr einen
„Klimanotstand“ ausgerufen
hatte. „Wir wünschen uns 80
Euro“, erläuterten die Delegier-
ten vom Bodensee. Kurzfristig
müssten es gar 180 Euro wer-
den, um auf einer Höhe mit den
Forderungen von Fridays for
Future (FFF) zu liegen: „Wir
dürfen die jungen Leute doch
nicht verlieren.“ Die Klimaakti-
visten aus den Schulen setzen
die neuen Standards. Und so
fand die Forderung nach Solida-
rität mit den FFF-Kids viel Bei-
fall – aber die eindeutige Mehr-
heit folgte dem Hoffnungsträ-

E

s flogen, anders als
vor 20 Jahren, diesmal
keine Farbbeutel in
Bielefeld. Aber gerun-
gen wurde gleichwohl auch an
diesem Wochenende, 20 Jahre
später, beim Grünen-Parteitag.
Damals ging es um den ersten
Kriegseinsatz der Bundeswehr
im Kosovo. Diesmal wurde von
Rednern der „Krieg gegen das
Klima“ beklagt, gegen den sich
die Partei stemmen müsse.

VON ANSGAR GRAW
AUS BIELEFELD

Die Fronten verliefen zwi-
schen der Parteiführung, die
um gemäßigte Forderungen
und ein regierungsfähiges Ima-
ge bemüht war, und dem linken
Flügel, der sich vor allem aus
der Grünen Jugend und einzel-
nen Kreisverbänden, darunter
dem aus dem Berliner Bezirk
Friedrichshain-Kreuzberg, re-
krutiert. Der Titel des Partei-
tags lautete „Mehr wagen, um
nichts zu riskieren“. Und ob-
gleich sich das vorstandstreue
Lager als das in den meisten
Fragen stärkere erweisen sollte,
blieben die Parteitags-Fundis
einflussreich. Und so begehrte
eine Delegierte, eine Lanze zu
brechen „für die, die mehr wa-
gen, für den progressiven Teil
der Gesellschaft“. Die Progres-
siven hier, die weniger Wage-
mutigen im Parteivorstand –
das entspricht nicht ganz dem
grünen Selbstverständnis.
Da fügte es sich gut, dass die
Parteitagsregie die Vorstands-
wahl bereits am Samstag hatte
durchführen lassen, bevor am
Abschlusstag äußerst umstritte-
ne programmatische Entschei-
dungen zur Klimapolitik und
zur Wirtschaft anstanden. Die
Ergebnisse der Wahl signalisier-
ten große Einigkeit; es gab nicht
einmal Gegenkandidaturen. So
wurde Annalena Baerbock mit
dem Rekordergebnis von 97,
Prozent als Parteivorsitzende
bestätigt. Bisherige Rekordhal-
terin war Claudia Roth, die 2001
in Stuttgart mit 91,5 Prozent zur
Parteivorsitzenden gewählt
worden war. Robert Habeck, Ba-
erbocks Partner in der Doppel-
spitze, bekam eindrucksvolle
90,4 Prozent. Auch der politi-
sche Bundesgeschäftsführer Mi-
chael Kellner, die stellvertreten-
de Parteivorsitzende Jamila
Schäfer, Ricarda Lang als frau-
enpolitische Sprecherin in
Nachfolge der nicht mehr kan-
didierenden Gesine Agena und
Schatzmeister Marc Urbatsch
erzielten starke Resultate.
Nachdem dies am Samstag so
glatt gelaufen war, trennten
sich die grünen Welten. Die
meisten Delegierten machten
Party bis tief in die Nacht. Die
Vorständler und Wortführer
der Parteilinken feilschten hin-
gegen ebenso lange um Formu-
lierungen und Vokabeln. Bis
Sonntagmittag war nicht klar,
ob der Wunsch der Parteifüh-
rung nach einem Bekenntnis zu

DPA

/GUIDO KIRCHNER

Manch Grüner wähnt


sich im Klimakrieg


Habeck und Baerbock schaffen es in Bielefeld zwar, ihre Partei


mittiger und linksliberaler zu positionieren. Doch der Markt soll


mit strengen Maßnahmen gezügelt werden – und der Einfluss


junger Klimaaktivisten ist unverkennbar


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