Süddeutsche Zeitung - 18.11.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
von thomas kistner

U


nd täglich grüßt das Murmeltier.
Na gut, in diesem Falle nicht täg-
lich, aber doch mit jener absurden
Regelmäßigkeit, die den Beobachter rat-
los stimmt. Deutschlands Olympia-Be-
werbungen verdichten sich allmählich zu
einem gewaltigen Déjà-vu, denn was ge-
rade in der Kandidatenregion Rhein-
Ruhr 2032 vor sich geht, schreibt nur die
zähe Chronik dieser Misserfolge fort.
Am Freitagabend beschloss jetzt der
Landtag Nordrhein-Westfalens in einer
strammen Fraktions-Allianz aus CDU,
SPD, FDP und Grünen, in den Bewerb um
die Sommerspiele 2032 einzusteigen. 14
Städte von Aachen bis Dortmund stehen
bereit. Dass der Deutsche Olympische
Sportbund begeistert ist, liegt in seiner
Natur. Fehlt nur noch diese, tja, äh ...
Bevölkerung!
An Bürgerentscheiden sind die letzten
deutschen Bewerbungen gescheitert. Vo-
ten in München (Winter 2022), Hamburg
(Sommer 2024) und andernorts in Euro-
pa offenbarten, wie desaströs das Image
nicht des Sports, aber seiner Sachwalter
ist. Mit dem Internationalen Olympi-
schen Komitee wollen kundige Staatsbür-
ger eher kein Geschäft machen, die Schat-
tenwelt um den Olymp wie um den Fuß-
ball-Weltverband stößt die Menschen ab.
Aber die Rhein/Ruhr-Bewerber ste-
hen an der üblichen Startlinie. Sie müs-
sen so tun, als sei dieses IOC plötzlich ein
ganz anderes, vertrauenswürdiges Gre-
mium – obwohl die Realität ein völlig an-
deres Bild zeigt. Hohe IOC-Leute hängen
in den Fängen der Justiz, auch wegen
Spiele-Vergaben wie die an Sotschi (2014)
oder Rio de Janeiro (2016). Und auch be-
züglich des Korruptionsverdachts um die
Sommerspiele 2020 in Tokio wirkt die Ak-
tenlage wasserdicht. Dass das in Japan an-
ders gesehen wird, passt ins Bild: Just die-
se Klientelpolitik hinter solchen Mega-
Events ist es, die das Publikum verstört.
Wie der Ringe-Konzern den olympi-
schen Geist ansonsten interpretiert, hat
die Welt im fürsorglichen Umgang mit
Russlands Staatsdoping erlebt; Fortset-
zung folgt in Tokio. Und ein neues Miss-
trauensvotum erhebt der mündige Teil
der Athletenschaft; diese Einschränkung
muss sein, weil sich Funktionäre gern auf
den anderen, strukturell bevormundeten
Teil der Sportlerschar stützen, der ob sei-
ner politischen, wirtschaftlichen oder kul-
turellen Herkunft keine eigene Stimme
hat. Es gibt Absetzbewegungen. Viele
Sportler opponieren dagegen, wie das
IOC den Milliardenreibach verteilt, den
sie mit ihren Leistungen einfahren.


Deshalb wird auch der nächste deut-
sche Bewerber Rhein/Ruhr 2032 den Leu-
ten irgendwie weismachen müssen, dass
sich ein sumpfiges Milieu urplötzlich in
ein hochseriöses verwandelt habe – und
wie so ein sensationeller Kulturwandel
möglich wäre, unter denselben Führungs-
leuten. Dass das IOC in seiner Abwärtsspi-
rale den Bewerbern Argumentationshil-
fen gibt, eine „Agenda 2020“ und ein mo-
difiziertes Bewerberverfahren, ändert
daran nichts. Die Kernelemente bleiben:
Der Host City Vertrag bürdet den Städten
das Finanzrisiko auf und fordert enorme
Garantien, der Steuerzahler pulvert Milli-
arden in das, was solche Events sind: eine
Umverteilung von der öffentlichen in die
private Hand. Und dass die Bewerbung
im Zuge der vom IOC verfügten „New
Norm“ nicht mehr öffentlich, sondern in-
tern verhandelt wird, ist formal der nächs-
te Schritt in die Intransparenz.
Daneben hat Rhein/Ruhr, das schon
vom sperrigen Regionalbegriff her deplat-
ziert in einer Städtekür wirkt, ein politi-
sches Problem, das alle deutschen Vor-
gänger hatten: Es gibt eine Priorität für



  1. Brisbane steht im Ring, die australi-
    sche Küstenstadt wird von John Coates
    gepuscht, langjähriger IOC-Topfunktio-
    när und enger Freund von IOC-Boss Tho-
    mas Bach. Der Kontinent war zuletzt
    2000 mit Sydney olympisch, Europa
    trägt schon 2024 die Spiele in Paris aus.
    Es ist also wie immer. Der deutsche
    Kandidat schaut nur auf sich und fragt
    tapfer: „Können wir das?“ (klar) oder
    „Nutzt uns das?“ (manchen schon). Nutz-
    lose Fragen, weil das IOC – wie die Fifa,
    Katars Winter-WM 2022 lässt grüßen –
    nach eigenem Gusto verfährt. Der Sport,
    die Athleten oder Maßstäbe der Vernunft
    haben da nie eine zentrale Rolle gespielt.


von claudio catuogno

Montreux– ZehnStunden hatte man nun
also verhandelt, hatte Experten gehört
und in Richtlinien geblättert, zehn Stun-
den ging es um die Anti-Doping-Regeln
und um die Frage, ob man sich noch inner-
halb dieser Regeln bewegen kann, wenn
man als Schwimm-Weltmeister und Olym-
piasieger eine Urinprobe verweigert und ei-
ne Blutprobe mit einem Hammer zerstört.
Ja, mit einem Hammer, morgens um 3 Uhr
im Hof einer Wohnanlage in Hangzhou,
China. Neun Männer und eine Frau waren
in den provisorischen Zeugenstand getre-
ten, den der Internationale Sportgerichts-
hof Cas im Hotel „Fairmont Palace“ in
Montreux eingerichtet hatte, um die erst
zweite öffentliche Anhörung seiner
Geschichte durchzuführen. Und vermut-
lich hatte Sun Yang, 27, der Beschuldigte,
jetzt kein bisschen Gespür für die Ironie
des Augenblicks.
Kurz nach halb sieben am Freitag-
abend, Sun Yang darf sein Schlusswort
sprechen. Womöglich sind es so etwas wie
seine letzten Worte als Schwimmsu-
perstar, denn wenn es nach der Welt-Anti-
Doping-Agentur geht, wird man den Chine-
sen lange in keinem Wettkampfbecken
mehr sehen: Der Wada-Anwalt Richard
Young hat gerade eine Sperre von bis zu
acht Jahren beantragt.

Immer schneller und schneller liest Sun
Yang von seinem Blatt ab – „man verlangt,
dass mir meine Mutter beim Pinkeln zu-
sieht, in meinem Alter, ich frage Sie: Ist das
respektvoll?“ –, fast atemlos spricht Sun
Yang, als sei das so etwas wie die Schluss-
bahn eines 1500-Meter-Rennens. Dann
bricht er ab – und es erscheint ein junger
Mann im blauen Hemd, springt in den pro-
visorischen Verhandlungssaal, setzt sich
neben Sun und blickt in die verblüfften Ge-
sichter der Top-Anwälte aus London, Lau-
sanne, Colorado Springs ...
Franco Frattini, ein ehemaliger italieni-
scher Außenminister, leitet das aus drei
Richtern bestehende Cas-Panel im Fall
Sun Yang, er guckt jetzt, als sitze da plötz-
lich der Papst in Badehose vor ihm. „Was
geht hier vor? Wer ist dieser Kerl?“
Nun, Sun Yang habe ihn gebeten, ins
Englische zu übersetzen, sagt der Mann im
blauen Hemd. Sun sorge sich, dass ansons-
ten die Nuancen seines Vortrags nicht zur
Geltung kommen. Er könne auch gerne in
der Dolmetscherkabine Platz nehmen,
wenn das besser sei.
„Ich bitte um Entschuldigung“, sagt Sun
Yangs Londoner Anwalt Ian Meakin und
grinst ein bisschen schief, „das war mit
uns nicht abgesprochen.“
Der Topadvokat Meakin dürfte den Sub-
text der Szene erfasst haben: Sie drängt
sich auf als Miniatur des gesamten spekta-
kulären Falls. Sie steht pars pro toto für
das Problem Sun Yang. Da will einer sogar
hier in Montreux noch nach den eigenen
Regeln spielen. Da geht es in diesem Pro-
zess zehn Stunden lang darum, dass Sun
Yang in jener Hammer-Nacht von Hang-
zhou drei Kontrolleure nicht akzeptierte –
wegen „fehlender Akkreditierung und Au-
torisierung“, sicher hundert Mal fällt am
Freitag diese Formulierung –, und am En-
de weigert sich Sun Yang, die Dolmetsche-
rin zu akzeptieren. Und findet es ganz nor-
mal, einfach irgendwen ins Tribunal des
Weltsports marschieren zu lassen, ohne
Akkreditierung und Autorisierung.
„Dies ist ein Gericht!“, stellt Frattini also
klar. „Wir haben Verfahrensregeln. Sie kön-
nen hier nicht aus dem Nichts auftauchen.“
Der Blauhemdmann wird davon geschickt.
Und Sun Yang muss für seine letzten Worte
weiter mit der Übersetzerin neben ihm Vor-
lieb nehmen, die dort auch nur deshalb
sitzt, weil die beiden Dolmetscherinnen,
die Sun Yang für seine eigene Befragung
am Morgen mitgebracht hatte, mit Akkre-
ditierung, immer wieder für Sprachverwir-
rung gesorgt hatten.
Dann geht es weiter mit Sun Yangs emo-
tionalem Kraulsprint durch sein Manu-
skript: „Wo bleibt der Spirit des Fair-play,
wenn Sportorganisationen ihre eigenen Re-
geln nicht beachten? Was heißt es für den
Traum junger Sportler vom olympischen
Geist, wenn grundlegende Regeln nicht re-
spektiert werden ...“ Und so weiter und so
weiter.
Lost in Translation. Man hat in der Anhö-
rung im Fall Sun Yang eine Menge darüber
lernen können, wie die Vertreter verschie-
dener Hemisphären auch im Sport anein-
ander vorbeireden – der Sport als Abzieh-
bild der Gegenwart –, wie die einen „Richt-
linie“ rufen und die anderen „Respekt“.
Und wenn die Cas-Richter, vermutlich im
Januar, ihr Urteil verkünden, das eher kein
Freispruch werden dürfte, dann kann man

zum Beispiel in Chinas sozialem Netzwerk
Weibo, wo Sun Yang 33 Millionen Fans hat,
schon jetzt in den Kommentarspalten mit-
lesen, wie eine Verbannung des Olympia-
siegers und Weltmeisters gedeutet würde:
als Teil der westlichen Verschwörung ge-
gen das chinesische Volk.
Und das Problem wird dann sein: Es gibt
in dem Fall tatsächlich nicht nur schwarz
und weiß. Jeder kann sich Details heraussu-
chen, um die eigene Sichtweise zu stützen.
Man muss noch einmal eintauchen in
diese verhängnisvolle Nacht vom 4. auf
den 5. September 2018, in der Sun Yang ge-
gen 23 Uhr von drei Testern erwartet wur-
de, die Urin und Blut von ihm einsammeln
sollten, nach mehr als vier Stunden Disput
aber unverrichteter Dinge wieder abzogen.
Person eins: eine junge Kontrolleurin von
der schwedischen Kontrollfirma IDTM,
beauftragt vom Schwimm-Weltverband
Fina. Person zwei: ein Assistent, der als
Chaperon (Begleiter) die Urinabgabe über-
wachen sollte. Person drei: eine Kranken-
schwester für die Blutabnahme. Alle drei
sind chinesische Staatsbürger und fürch-
ten jetzt offenbar um ihre Unversehrtheit:
Dafür, dass die drei in der öffentlichen An-
hörung nicht aufgetreten sind, gebe es
„Gründe des Persönlichkeitsschutzes und
der Sicherheit“, sagte der Anwalt Young.
Denn es gehört auch zur Wahrheit in die-
sem Fall, dass das Prozedere jener Nacht,
die nun die Karriere eines der erfolgreichs-
ten Sportler der Gegenwart beendet haben
könnte, tatsächlich keine Sternstunde des
Dopingkontrollwesens war.
„Am Anfang war alles friedlich“, berich-
tete Sun Yang am Freitag noch mal unge-
fähr das, was er auch beim Doping-Panel
der Fina schon ausgesagt hatte – die Fina
hatte ihn im Januar aus formalen Gründen
freigesprochen. „Aber dann, während der
Vorbereitung für den Bluttest, begann der
Chaperon mich zu filmen. Er sagte: ,Ich bin
hier, um dich zu sehen, ich will ein Foto von
dir machen.‘ Das ist wirklich unprofessio-
nell! Das kann ich nicht akzeptieren. Wenn
so ein Foto irgendwo landet, kann das für
mich Konsequenzen haben.“
Dürfen Kontrolleure private Erinne-
rungsfotos machen? „Absolut nein!“, sagte

am Freitag auch Young, der Wada-Anwalt,
in seinem Plädoyer, ein routinierter Anti-
Doping-Experte, der schon Lance Arm-
strong aus dem Sport verbannt hat. „Aber
ist es akzeptabel, deshalb die Kontrolle zu
verweigern und die Probe zu zerstören?
Ebenfalls nein! Für Beschwerden aller Art
gibt es im Kontrollformular den Kommen-
tarbereich.“ Soll heißen: Der fotografieren-
de Assistent mag der Funke gewesen sein,
der den Streit entzündet hat. Aber den Spi-
ritus, der dann alles in die Luft gejagt hat,
den haben schon Sun Yang und seine Ver-
trauten ins Feuer gegossen.
Empört über den Assistenten ließ sich
Sun Yang jedenfalls die Papiere der drei
Tester zeigen. Vorgelegt bekam er dies:
einen Autorisierungsbrief von der Fina,
ausgestellt auf die Firma IDTM und die
Kontrolleurin, ein Krankenschwester-Zer-
tifikat und vom Assistenten einen chinesi-
schen Pass. Mehr nicht. Reicht das?

Das Fina-Doping-Panel urteilte: nein.
Es habe damit keine gültige Kontrolle statt-
gefunden, somit könne man Sun auch
nicht vorwerfen, sie verweigert oder mani-
puliert zu haben. In den Regeln sei eine
„identifizierbare Autorisierung“ verlangt,
wiederholte auch Suns Anwalt Meakin in
Montreux immer wieder, auch für die bei-
den Helfer. Richard Young hingegen nann-
te all das spöttisch „grammatikalische
Gymnastikübungen“, als er begründete,
warum die Wada gegen diesen Freispruch
zum Cas gezogen war.
Die Wada-Seite hatte drei Zeugen be-
nannt, sie alle sollten dieses Bild stützen:
dass Sun in jener Nacht die gleichen Doku-
mente präsentiert bekam, wie Zehntausen-
de andere Sportler jährlich auch. Ja, es ge-
be weitergehende Richtlinien, sagte der zu-
ständige Wada-Vizedirektor Stuart Kemp,
die seien zwar „best practise“ – aber schon
deshalb nicht bindend, weil sie nicht auf
jede Kontrollsituation in jedem Land der
Welt anwendbar seien. Dann befragte der

zweite Wada-Anwalt Brent Rychener den
IDTM-Manager Neal Soderstrom: „Seit
wann ist IDTM für die Fina tätig?“ – „Seit
1994.“ – „Immer nach dem gleichem Proto-
koll?“ – „Ja.“ – „Stehen ein Athletenname
oder die Namen des Testpersonals auf dem
Formular?“ – „Nein.“ – „Hat sich die Fina je
beklagt, dass das unzureichend sei?“ –
„Nie.“ – „Für wie viele andere Verbände ist
IDTM tätig?“ – „Für etwa 30.“ – „Wie viele
Tests waren das in 2018?“ – „Etwa 19 000.“


  • „Alle mit diesem Protokoll.“ – „Ja.“
    Subtext des Stakkato: Sollen diese Tau-
    senden Tests nun ebenfalls irregulär sein?
    Will der Cas das wirklich so entscheiden?
    Der IDTM-Mitarbeiter Tudor Popa, der
    in der Nacht auf den 5. September mehr-
    mals von Stockholm aus mit der Kontrol-
    leurin in China telefonierte und das Desas-
    ter live mitbekam, wurde gefragt: „Wuss-
    ten Sie, dass die Krankenschwester gar kei-
    nen IDTM-Ausweis hatte?“ – „Ja“, entgeg-
    nete Popa. „Sie brauchte auch keinen.“
    Suns Yangs Seite kommt bei der Bewer-
    tung der Rechtslage zu einem anderen Er-
    gebnis: Es brauche eine „identifizierbare
    Autorisierung“. Dass der Cas der Auffas-
    sung der Wada folgen könnte, deutete sich
    allerdings an, als einer der drei Richter, der
    Londoner Rechtsprofessor Philippe Sands,
    am späten Nachmittag – hinter dem Gen-
    fer See ging gerade die Sonne unter –, das
    Plädoyer des zweiten Sun-Anwalts Fabrice
    Robert-Tissot unterbrach. „Wie stellen Sie
    Ihren Fall auf, wenn Sie bei der Akkreditie-
    rungs-Frage falsch liegen?“, wollte Sands
    wissen. „Oder ist es so, dass Ihre gesamte
    Begründung auf dem Akkreditierungs-
    Punkt beruht? Weil wenn das so ist, ist es
    schwer zu sehen, wie Sie damit Ihren Stand-
    punkt verteidigen wollen.“
    Dann, tja dann, entgegnete Robert-Tis-
    sot: „Dann würden wir in die Richtung ar-
    gumentieren, dass es keine Manipulation
    war.“ Dann ginge es also nur noch darum,
    die Sperre so kurz wie möglich zu halten.
    Die fünf Zeugen, die Sun Yangs Seite ge-
    laden hatte, argumentierten bereits in die-
    se Richtung. Seine Mutter Ming Yang etwa,
    die in jener Nacht den Hammer kommen
    ließ, mit dem ein Wachmann schließlich
    den Glasbehälter zu Scherben schlug, saß


am Mittag in leuchtendem Pink auf dem
Zeugenstuhl. Sie berichtete, man habe sich
von der Kontrolleurin und der Kranken-
schwester geradezu ermuntert gefühlt, ei-
ne Lösung zu finden, um den Sicherheitsbe-
hälter mit dem abgenommenen Blut ir-
gendwie aufzukriegen. Ihr holt das Blut
raus, wir nehmen das Equipment wieder
mit, so wollen Sun und seine Entourage
das Testteam verstanden haben. Wer griff
sich den Behälter? Wer reichte ihn wem?
Machte die Kontrolleurin die möglichen
Konsequenzen klar? Um diese Frage dreh-
te sich die Anhörung immer wieder. Und
am Ende könnte zugunsten Sun Yangs
auch berücksichtigt werden, dass es nicht
er selbst war, der in jener Nacht entschied:
Kein Blut, kein Urin verlassen das Gelände!
Das entschieden, teils telefonisch in die
Szenerie geschaltet, teil persönlich herbei
geeilt: Hao Cheng, der Leiter des chinesi-
schen Schwimmteams, Dr. Ba Zhen, Suns
Arzt, und Dr. Han Zhaoqi, Direktor in einer
Klinik und Chef einer lokalen Anti-Doping-
Agentur, ein Mann mit allerlei Interessens-
konflikten. Han Zhaoqi war es auch, der
der Kontrolleurin am Telefon den Hinweis
gab, den Test auf dem Formular besser
nicht als „Verweigerung“ des Athleten zu
klassifizieren. Andere Kontrolleure, die
eine „Verweigerung“ notierten, hätten in
China nun keine Arbeitsstelle mehr.
War das eine Drohung? Läuft das so in
China mit den Dopingkontrollen? Eine Dro-
hung, nein, sagte Doktor Han in Montreux,
„das war nur ein freundlicher Hinweis“.
Und übrigens: Es sei ein Unding, wenn
ein Testteam „ohne gültige Akkreditie-
rung und Autorisierung“ in das Heim eines
Athleten marschiere. Immer wenn es eng
wurde, hielten sich Suns Zeugen an diese
Begriffe: Keine Akkreditierung, keine Auto-
risierung! Bis dann am frühen Nachmittag
Doktor Ba auf dem Zeugenstuhl saß.

Ba Zhen. Kurzes Haar, Brille. Jener Arzt,
der Sun Anfang 2014 das Herzmittel Tri-
metazidin verschrieb, woraufhin beide
drei Monate gesperrt wurden. Ba Zhen, der
dann trotz Sperre weiter Athleten betreute


  • und eine zweite Sperre kassierte. Ba
    Zhen, der Mann, dem Sun Yang vertraut.
    Wie war das 2014, wurde Ba Zhen ge-
    fragt. Das wolle er gerne erklären, sagte Ba
    Zhen: Sun Yang habe damals hart trainiert
    und danach mehrmals über Herzunwohl-
    sein geklagt. Er, Ba, sei es dann gewesen,
    der das falsche Medikament verschrieben
    habe. Er habe übersehen, dass der Wirk-
    stoff inzwischen auf der Verbotsliste
    stand. „Es war mein persönlicher Fehler.“
    Das sei ja sehr generös, entgegnete Rich-
    ter Sands, aber nun zur eigentlichen Frage:
    Hat er, Ba Zhen, an diesem Abend – oder
    später – für einen Moment darüber nach-
    gedacht, welche Konsequenten es hätte,
    wenn er bei der Frage nach der fehlenden
    Akkreditierung falsch liege? Dass er, Ba
    Zhen, seinem Athleten dann nach 2014
    schon zum zweiten Mal mit einem Irrtum
    weitreichende Konsequenzen aufbürdet?
    Ba Zhen schluckte und schwieg. Fast
    konnte man die Last spüren, die nun auf
    seinen Schultern lag. Denn man wird in
    China ja einen Schuldigen suchen, wenn
    die Sache für Sun Yang hier schiefgeht.
    Er habe sich da ganz auf Doktor Han ver-
    lassen, sagte Doktor Ba schließlich. „Dok-
    tor Han ist der Experte.“
    Die Entscheidungen der Ärzte in dieser
    Herbstnacht in Hangzhou: „Das wargam-
    bling“, sagte später in seinem Plädoyer der
    Wada-Anwalt Young. Glücksspiel. Die Ge-
    schichte mit dem Hammer: Das „war spek-
    takulär“. Aber den eigentlichen Anti-Do-
    ping-Verstoß habe Sun schon Stunden vor-
    her begangen. Als er das erste Mal unbe-
    gleitet auf die Toilette marschierte, weil er
    den Assistenten nicht akzeptieren wollte
    und auch nicht den Kompromissvor-
    schlag, dass ja seine Mutter dem Assisten-
    ten zusehen könne, wie dieser Sun Yang
    beim In-den-Becher-Pinkeln zusieht.
    Denn: „Mal angenommen, der Cas wür-
    de Sun Yang das durchgehen lassen, was
    wäre die Folge? Jeder Athlet, der eine Do-
    pingkontrolle verweigern oder verzögern
    will, könnte sich künftig an das Sun-Yang-
    Drehbuch halten.“ Zweifel am Prozedere
    dürften niemals zur Verweigerung der Kon-
    trolle führen. Er sei, als er seinen Ärzten
    vertraute, „einem furchtbaren Irrtum auf-
    gesessen“, rief Richard Young hinüber zu
    Sun Yang, und nun müsse er fürchten, „ei-
    nen hohen Preis“ zu bezahlen.
    „Will die Wada so den Geist des Sports
    schützen? Indem sie Kontrolleure unter-
    stützt, die die wichtigsten internationalen
    Regeln brechen?“, fragte dann Sun Yang in
    seinem Abschlussstatement zurück.
    Anfang 2020 soll das Urteil bekannt wer-
    den, in sicher geschliffenem Englisch und
    präzise ins Chinesische übersetzt.


Berlin– Am Tag vor dem Rennen sagte der
Trainer Bernd Berkhahn zu seiner Schwim-
merin Sarah Köhler, 25: „Weltrekord ist
auf alle Fälle drin.“ Dann hatte sie noch ei-
ne Nacht, um darüber nachzudenken, wie
das wäre: „Ich hätte ja nie gedacht, dass ich
die zwei Buchstaben WR hinter meinem
Namen mal sehen würde.“ Aber ganz si-
cher, dass Berkhahn das ernst gemeint hat-
te, war sich Köhler auch am nächsten Mor-
gen noch nicht, also fragte sie sicherheits-
halber noch mal nach bei ihrem Heimtrai-
ner, der auch der Teamchef der deutschen
Nationalmannschaft ist: „Bernd, das war
jetzt gestern kein Scherz, oder?“
Nein, war es nicht.
Wahrscheinlich hat sich auch Florian
Wellbrock, 22, der neue deutsche
Schwimm-Weltmeister, noch nie so sehr


darüber gefreut, dass ihm jemand die
Schau stiehlt: Er jubelte am Samstagnach-
mittag so lange noch in der nassen Badeho-
se am Beckenrand, dass Berkhahn ihn zum
Umziehen schicken musste, „nicht dass er
sich noch erkältet“. Aber es hatte ja tatsäch-
lich geklappt, ein Weltrekord mit Ansage
über 1500 Meter Freistil bei den Deutschen
Kurzbahn-Meisterschaften in Berlin: In
15:18,01 Minuten verbesserte Sarah Köhler
die alte Marke der Spanierin Mireia Bel-
monte von 2014 um 1,7 Sekunden. „Für
mich geht definitiv ein Traum in Erfül-
lung“, sagte Köhler danach. Und Köhlers
Traum ist auch Wellbrocks Traum – die
beiden sind ein Paar.
Sarah Köhler stammt aus der Nähe von
Frankfurt, ihre ersten Jahre als Weltklasse-
Schwimmerin verbrachte sie am Stütz-

punkt in Heidelberg. Seit September 2018
trainiert sie nun – wie Wellbrock – bei Berk-
hahn in Magdeburg, das brachte ihr offen-
kundig noch mal gewaltigen Auftrieb: Bei
der WM auf der langen Bahn im Sommer
in Gwangju, Südkorea, gewann sie über die

1500 Meter Silber (und Gold mit der Frei-
wasser-Mixed-Staffel). Nun also, zu Be-
ginn der Olympia-Saison, die Erfolge im
kleineren Becken: Schon am Donnerstag
über 800 Meter hatte Köhler ihren eigenen
deutschen Rekord verbessert. Bestzeiten
auf der 25-Meter-Bahn haben zwar vor al-
lem in der Vorbereitung auf die Spiele in To-
kio nicht die höchste Priorität, das betonte

auch Köhler: „Natürlich ist es die Lang-
bahn, die dieses Jahr besonders zählt.“
Aber: „Jetzt ist es erst mal ein Weltrekord,
und das ist der absolute Wahnsinn.“
Nach der Rückkehr aus dem Höhentrai-
ningslager in der Sierra Nevada in Spanien
(dem bis Sommer zwei weitere folgen wer-
den) fiel der erste Leistungstest in der
Olympiasaison hervorragend aus. Auch
bei Wellbrock: Er verbesserte über 800 Me-
ter in 7:32,04 Minuten den deutschen Re-
kord. Dass Köhler und Wellbrock damit
das Ticket für die Kurzbahn-EM in Glas-
gow (4. bis 8. Dezember) lösten, war neben-
sächlich, auf die Teilnahme in Schottland
verzichten die beiden aussichtsreichsten
deutschen Medaillenkandidaten für To-
kio. Training für Olympia ist wichtiger als
Edelmetall auf der Kurzbahn. cca, sid

Florian Wellbrock schwimmt über
800 Meter deutschen Rekord

Sarah Köhlers Weltrekord


Die Schwimmerin aus Magdeburg verbessert die Kurzbahn-Bestmarke über 1500 Meter Freistil um 1,7 Sekunden


RHEIN-RUHR 2032

Flirt mit der


Schattenwelt


Der Richter schaut jetzt, als säße
der Papst in Badehose vor ihm,
und ruft: „Wer ist dieser Kerl?“

Seine Mutter ließ den Hammer
kommen, mit dem ein Wachmann
die Blutprobe zerschlug

Der Arzt Ba Zhen schluckt und
schweigt. Hat er Sun Yang in einen
folgenschweren Irrtum getrieben?

Scherbengericht


Die einen rufen „Richtlinie“, die anderen „Respekt“: Der Doping-Prozess


gegen den Olympiasieger Sun Yang ist ein Lehrstück im Aneinandervorbeireden.


Dass der Schwimmer einer Sperre entgeht, erscheint kaum vorstellbar


Problem für deutsche Träume:


Für 2032steht Brisbane im Ring


DEFGH Nr. 266, Montag, 18. November 2019 (^) SPORT HF3 29
„Ich hätte ja nie gedacht, dass ich die zwei Buchstaben WR hinter meinem Namen
mal sehen würde“: Sarah Köhler bejubelt ihre Weltbestmarke. FOTO: BERND KÖNIG / IMAGO
Kampf um die Karriere: Der chinesische Schwimmer Sun Yang, 27, versucht beim Sportprozess in
Montreux,eine lange Dopingsperre zu verhindern. FOTO: DENIS BALIBOUSE / REUTERS

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