Süddeutsche Zeitung - 18.11.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
Tote Stadt, totes Heim: Jonas Kaufmann und Marlis Petersen übernehmen die
Hauptpartienin München. FOTO: WILFRIED HÖSL

D


ie besten Partys steigen, wenn Uner-
wartetes passiert, wenn die Götter
verrückt spielen und das Leben am
Drehbuch schraubt. Beim Literaturfest-Ju-
biläumsabend in der Muffathalle ist es ein
Missverständnis, das der gut getakteten
Show den Weg zum Ereignis ebnet. Albert
Ostermaier hat gerade seine „Ode an das
Lesen“ mit dem Publikum geteilt, kämpfe-
risch, laut, hat Sätze in die Welt entlassen
wie „Es reicht ein Buch für die Unendlich-
keit des Raums“, als Irritationen auf der
Bühne entstehen. Wo ist die Band? Die
Band sollte ihn doch begleiten. Als das
sonst hellwache und beste Laune verbrei-
tende Crossover-KollektivKonnexion Bal-
konbeim zweiten Teil von Ostermaiers Auf-
tritt zupft, trommelt und fidelt, steigert
sich der Autor zu treibender Wortkraft.
Herrlich!


Zehn Jahre Literaturfest München, acht
literarische Gäste, darunter ehemalige Ku-
ratoren, und eine irre Cover-Gruppe, die
spielend Britney Spears, Astor Piazzolla,
dieSpider Murphy Gangund „Barbapapa“
folkloristisch verbrüdert und verschwes-
tert – all das gilt es hier zusammenzubrin-
gen, Motto: „Books For Future“. Die Bühne
steht quer in der Muffathalle, die Gäste nut-
zen die Liegestühle, Sitzwürfel und Tribü-
ne. Der Rest steht. Und staunt. Über die
Vielfalt, die einem hier geboten wird. Der
Samstagabend, eröffnet von Literaturhaus-
Chefin Tanja Graf und moderiert von Mari-
on Bösker-von Paucker, ist ein Speed-Da-
ting mit der Kunst des gesprochenen Wor-
tes. Knapp sechs Minuten hat jeder Zeit,
einzige inhaltliche Vorgabe ist die Frage:
„Warum lesen?“
Autobiografisch nähert sich Doris Dör-
rie dem Thema („Lesen macht schlank. Le-
sen macht schön. Und das ist wahr.“). Und
auch Ingo Schulze, der aktuelle Forum:Au-
toren-Kurator, entdeckt via Ich-Erzähler
die Magie vom Lesen und Schreiben. Elke
Schmitter begleitet sich selbst am E-Pia-
no, ihr Text über die russische Dichterin
Anna Achmatowa ist traurig und ergrei-
fend. Matthias Politycki liest Gedichte vor
(„Gedichtbände sind das Gegenteil von an-
onymen Tweets“), Dagmar Leupold aus ih-
ren Romanen. Rhythmisch und wortschöp-
ferisch stark ist der Poetry-Slammer Bas
Böttcher, der frei spricht, ach was, der frei
Versen Leben schenkt und mit Silben
Shuffle tanzt. Noch lauter als Ostermaier
ist Fiston Mwanza Mujila. Er lacht, singt,
groovt, brummt und grölt. Auf Französisch
und Deutsch. „Lachen ist Poesie.“ Da hat er
recht. Dann übernimmt die Band, ohne Irri-
tation. bernhard blöchl


Am Anfang und am Ende denkt Judith
Schalansky an die Schule. „Ich habe jetzt
so ein Schulgefühl. Dieses: Ich habe die Auf-
gabe nicht richtig verstanden“, sagt die in
Greifswald geborene Autorin. Ingo Schul-
ze, Kurator des Forum:Autoren, hat Scha-
lansky am Freitag gemeinsam mit dem aus
dem Kongo stammenden und in Graz le-
benden Schriftsteller Fiston Mwanza Muji-
la zum zweiten Abend über „Fragen an die
Welt nach 1989“ eingeladen. Vorab hat er
die beiden gebeten zu beschreiben, was
das Jahr ’89 für sie bedeutet. „Eine große
Frage“, sagt Schalansky. Vielleicht habe ei-


ne natürliche Scheu sie deshalb danach su-
chen lassen, was es im Kleinen bedeutet.
In diesem Kleinen ist Schalansky bril-
lant – und weit weg von einer Themaver-
fehlung. So schreibt sie von der Neunjähri-
gen, die sie damals war. Von den Schulbän-
ken, die leer bleiben, von der „Stimmung
wie bei Hitzefrei“, von dem Taschenrech-
ner, den sie von den ersten fünf Mark kauf-
te, vom Ferienlager mitBravo-Heft, bei
dem ihre Kindheit ein Ende nahm. Auch
Mujila gibt eine Antwort, die vom Kleinen
ins Große weist. Er erzählt von einer Zug-
fahrt, von einem Gespräch über sein Land,
vom Einfluss der Blöcke USA und UdSSR
auf Afrika. „Blickte man 1989 auf die Spit-
ze vieler afrikanischer Länder, fand man
dort nichts als Despoten und Diktatoren.“
Der Mauerfall änderte dies.
Gemeinsam ist den beiden Autoren,
dass sie in der Zeit des Umbruchs Kinder
waren – und dass sie im Rückblick ihre Ge-
burtsländer nicht negativ betrachten. „Die
DDR war Kinderland. Und sie war ein gutes
Kinderland“, sagt Schalansky. Und Mujila
erzählt, dass er, wenn er sich an sein Land
unter Diktator Mobutu erinnere, zuerst an
Rumba denke. Dennoch verklären sie im
Gespräch mit Moderatorin Judith Heit-
kamp ihre Kindheitsländer nicht, suchen
die Distanz, sprechen von überschriebe-
nen Erinnerungen, von Inhalten, die mit
dem Ende eines Systems verschwinden
und leere Formen zurücklassen.
Und dann erinnert sich Schalansky am
Ende noch einmal an die Schule, be-

schreibt wieder vom Kleinen ausgehend
das Große. Sie erzählt, dass sie beim Abitur
einen Aufsatz über die Wiedervereinigung
schreiben sollten. Bei dem Wort „Vereini-
gung“ habe sie immer an Hochzeit denken
müssen, erzählt sie. Und also schrieb sie da-
mals im Abituraufsatz: „Es war eine Hoch-
zeitsnacht, in der der Bräutigam die Braut
aufgefressen hat.“ yvonne poppek

Alle reden über 30 Jahre Mauerfall, da will
Volker Braun doch auch erwähnen, was er
am 9. November 1989 gemacht hat: Er hat-
te an jenem Abend eine Lesung in Leipzig,
mit dem unglaublichen, von ihm selbst vor-
geschlagenen Titel „Texte zur Wende“. Die
letzte Frage an ihn bei jener Lesung laute-
te: Wann wohl die Mauer geöffnet werde?
Braun, der eine Minute vor Beginn des
Abends von gewissen Ereignissen in Berlin
erfahren hatte, sagte: „Ich glaube, gerade
ist etwas passiert.“ Ob der Dichter also „ein
Visionär“ sei? „Nee, nee“, wehrt Braun die
Nachfrage von Moderatorin Cornelia Zetz-
sche ab, „ein Zeitgenosse!“
Und was für einer. Kaum ein Schriftstel-
ler hat wie er über viele Jahrzehnte erst die
DDR, dann das vereinte Deutschland so lu-
zide und kritisch begleitet. Völlig zu Recht
gebührt dem heute 80-Jährigen daher als
einzigem Gast beim Forum:Autoren eine
Einzel-Hommage – oder, wie Kurator Ingo
Schulze bei der Sonntags-Matinee im Lite-
raturhaus sagt: „der Thronsessel“. Braun
ist ein so freundlich lächelnder wie uner-
bittlich denkender König im Reich der

Sprache. „Meine Sanftmut ist hart erarbei-
tet“, sagt er, und damit meint der gebürtige
Dresdener wohl durchaus auch seine frü-
hen Jahre als Tiefbauarbeiter im Gaskom-
binat Schwarze Pumpe. Von den Verhältnis-
sen „ins Politische hineingerissen“,
schrieb er bald bei aller drastischen Komik
bitterernste Dramen, Prosa und Gedichte,
die „rückhaltlos aus dem Inneren kamen“.
Das wurde auch von Seiten des Staats als
Provokation gelesen; ein Buch wie sein
„Hinze-Kunze-Roman“ wurde 1985 erst
nach vierjährigem Hin und Her in der DDR
(und gleichzeitig der BRD) veröffentlicht.
Braun liest daraus Passagen, liest auch Ge-
dichte aus den Jahren vor und nach dem
Umbruch, zum Beispiel sein wohl berühm-
testes Gedicht „Das Eigentum“ von 1990,
mit lauter unsterblichen Zeilen wie „Die
Hoffnung lag im Weg wie eine Falle“.
Da könnte man nun schön zum Forum-
Motto „Einübungen ins Paradies“ überlei-
ten, hätte Braun das in seinem nie nachlas-
senden Widerspruchsgeist nicht gleich zu
Beginn als „fantastisch, blödsinnig, ab-
gründig“ bezeichnet, als „sarkastischen
Coup“ Schulzes. „Mit dem Paradies will ich
eigentlich gar nichts zu schaffen haben“,
sagt er. Das Paradies sei eine „ermattende,
deprimierende Vorstellung“. Elend sei,
wenn es keine Ideen mehr gebe, sagt Vol-
ker Braun, man keine Alternativen sehe.
Und: „Unser Utopia ist der Realismus.“
Wahrzunehmen, was ist, und sei es erschre-
ckend, das ist für ihn die „große utopische
Leistung der Literatur“. antje weber

München– Aneiner musikalischen Ge-
schwisterliebe der feinsten Art ließen Kirill
und Alexandra Troussov ihr Publikum in
der Allerheiligen-Hofkirche teilhaben. Die
beiden Petersburger, zwar wohnhaft in
München, aber längst unterwegs im inter-
nationalen Virtuosen-Jetset, begeisterten
in ihren verschiedenen Kollaborationen
von Violine und Klavier mit einem Pro-
gramm von Beethoven und Tartini bis Ra-
vel und Sarasate.
Bei Beethovens „Frühlingssonate“ sorg-
te vor allem im ersten Satz die fabelhafte
Klavierkunst von Alexandra Troussov für
emphatisches Espressivo. Aber schon im
Adagio zog der Schmelz von Kirill Trous-
sovs Stradivari magisch in Bann. Die diffi-
zilste Herausforderung für die musikali-
sche Partnerschaft des höchst attraktiven
Paares bescherte dann die Sonate für Violi-
ne und Klavier von Maurice Ravel. Denn
der wollte dort eigentlich die unvereinbare
Selbständigkeit von Klavier und Violine
komponieren. Dementsprechend heikel ge-
staltet sich die musikalische Partnerschaft
wenn es weniger um Synthese geht, son-
dern mehr um dialektische Auseinander-
setzung. Bravourös aber trafen sich die bei-
den immer wieder in den fulminanten Brio-
Ausbrüchen und im kecken „Blues“ nach
französischem Gusto wurde es fast surre-
al. Dann aber beherrschten die Violinküns-
te von Kirill Troussov die Szene. In der Teu-
felstriller-Sonate von Giuseppe Tartini, ge-
spielt in der Fassung von Fritz Kreisler, de-
monstrierte er nicht nur technische Souve-
ränität, sondern auch mühelose Eleganz.
Gleichzeitig gelang ihm in seiner Klangent-
faltung eine Beseelung, die jedes artifiziel-
le Virtuosentum transzendierte. Noch
mehr von dieser klangsinnlichen Besee-
lung gab es in den Zigeunerweisen von Pa-
blo de Sarasate. Zwei Zugaben mit Rachma-
ninow und Chatschaturjan stillten die Bei-
fallsstürme. klaus p. richter


München– Nach einer halben Stunde
steht Wincent Weiss in Flammen. Auf Kon-
fetti in jeglicher Variante – mal golden, mal
aus Farbpulver – folgen Feuerbälle, die an
der Bühne hochgeschossen werden, und
schließlich ein 26-jähriger Popsänger, des-
sen Hoodie brennt. Alles für die Show na-
türlich. Wincent Weiss gibt sich am Sams-
tagabend größte Mühe, das Publikum im
ausverkauften Zenith zu unterhalten. Bei
seinen Fans kommt das gut an.
Das mag unter anderem daran liegen,
dass für jeden etwas dabei ist: Für die Tee-
nie-Fans gibt er mehrmals bekannt, Single
und (noch viel besser) ein „Beziehungstyp“
zu sein. Für die Münchner singt er in Leder-
hose „Ein Prosit“ (oder stimmt es zumin-
dest an). Für die Mitte-40-Vorstadtmuttis
bekundet er seine Abneigung gegenüber
Großstädten und den Wunsch, sesshaft zu
werden. Und ein Geburtstagsständchen
für einen jungen Fan gibt es auch.
Wincent Weiss spielt mit dem Image
des charmanten Schwiegersohns mit per-
fekt gestylten Haaren, der trotz seines Er-
folges total nahbar geblieben ist. 2016 ver-
öffentlicht der Singer-Songwriter aus
Schleswig-Holstein seine Single „Musik
sein“ und zählt seitdem zu den erfolg-
reichsten deutschsprachigen Newcomern.
Die Single ist bis heute das wohl originells-
te Werk von Weiss. Viele der anderen
Songs verschwimmen in ähnlichen musi-
kalischen Strukturen und kitschigen Flos-
keln, die im Zenith noch kitschiger werden


  • durch eine Leinwand, auf der mal Kinder-
    fotos des Sängers zu sehen sind, mal Im-
    pressionen von der Tournee, und etwas,
    das an einen Bildschirmschoner aus den
    Nullerjahren erinnert.
    Alles wirkt ein bisschen zu auswendig
    gelernt: die übertriebene Emotionalität,
    Aussagen wie „nehmt euch Zeit für die Fa-
    milie“, oder nicht ganz jugendfreien Witze,
    die dank Kommentar zum Schluss doch
    noch kinderfreundlich werden. Das einzi-
    ge, woran er aber noch arbeiten könnte, ist
    der Stage Dive. vivian harris


München– Als Simon Stone im September
2016 in Basel seine erste Oper inszenierte,
stand er auf dem Gipfel eines frühen
Ruhms. Im selben Jahr war er beim Berli-
ner Theatertreffen vertreten gewesen, mit
Ibsens „John Gabriel Borkman“ in einer
hochbesetzten Edelboulevard-Variante, er
war Hausregisseur in Basel, wo ihn Inten-
dant Andreas Beck förderte und forderte –
ein Ergebnis etwa war der fabelhafte
Abend „Angels in America“, der diese Sai-
son am Münchner Residenztheater wieder-
aufgenommen wird. Gerade mal gut zwei
Jahre war es damals her, dass er, aus Austra-
lien kommend, zum ersten Mal in Deutsch-
land inszeniert hatte, die „Orestie“ in Ober-
hausen, dann kam Beck und Stones Karrie-
re ging steil nach oben.
Schon damals, 2016, wusste man, dass
er eine Fernsehserie drehen werde. Was
man nicht wusste, war, dass Simon Stone
dafür seine Verträge mit dem Residenzthea-
ter und auch dem Wiener Burgtheater sau-
sen lassen und sein Förderer Andreas Beck
auf einmal ohne die geplante Eröffnungs-
premiere seiner Münchner Intendanz da-
stehen werde. Seine Operninszenierung in

München findet indes statt; diesen Montag
hat Erich Wolfgang Korngolds „Die tote
Stadt“ an der Bayerischen Staatsoper Pre-
miere. Es ist jene Inszenierung, die Stone
2016 in Basel herausbrachte.
Vermutlich braucht man für die Über-
nahme einer Operninszenierung den Regis-
seur gar nicht so dringlich, schließlich ist ja
alles da. Außerdem kommt es im Opernbe-
trieb regelmäßig vor, dass Solistinnen oder
Solisten kurzfristig einspringen müssen;
die werden dann auch mal nur mittels eines

Videos mit der Inszenierung vertraut ge-
macht, wenn es keine Zeit mehr für Proben
gibt. Weiter braucht man aber gar nicht
über die Herstellung der Münchner Premie-
re spekulieren, denn deren musikalische
Qualität kommt schließlich vom Haus: Ki-
rill Petrenko dirigiert, die beiden Hauptpar-
tien übernehmen Jonas Kaufmann – er
gibt als Paul sein Rollendebüt – und Marlis
Petersen.
Korngold, Jahrgang 1897, war jung und
genialisch, als er sich an die „Tote Stadt“
machte. Beim Libretto half ihm noch der Pa-
pa, bei der Musik brauchte er keine Hilfe.
Die Doppeluraufführung fand 1920 in Ham-
burg und Köln statt. Korngold war einer je-
ner Komponisten, die Spätromantik mit
Moderne und viel eigenem Geschmack ver-
schmolzen und die Zeit zwischen Ende des
Ersten Weltkriegs und Beginn der Nazibar-
barei zur spannendsten machten, die die
Oper in Deutschland erlebt haben dürfte.

Nach 1945 galt genau solche Musik wie die
von Korngold als Anachronismus – Korn-
gold blieb in seinem Exil Hollywood und
freute sich über zwei Filmmusik-Oscars.
Erst in den Siebziger Jahren des 20. Jahr-
hunderts erwachte wieder ein Interesse an
der „Toten Stadt“, deren Musik ein grandio-
ser Strom klanglicher Schönheit und psy-
chologischer Wahrheit ist, in der Mitte die
zentrale Nummer „Glück, das mir ver-
blieb“, unendlich verführerischer Aus-
druck von Sehnsucht. Die Oper spielt im
von der Welt vergessenen Brügge, Paul trau-
ert um seine verstorbene Frau Marie, ver-
kriecht sich in seinem Haus, einer „Kirche
des Gewesenen“, begegnet der Tänzerin Ma-
rietta, die er als Wiedergängerin der Toten
lieben will. In Stones Inszenierung in Basel
saß Paul am Ende in der Küche, trank eine
Flasche Appenzeller Bier, sang die letzte Re-
prise der „Glück, das mir verblieb“-Arie
und man wusste nicht so recht, bleibt er

jetzt einfach hundert Jahre so sitzen, bricht
er auf ins Leben oder schläft er erst einmal
ganz lange, traumlos, befreit von Erinne-
rungen.
Stone behandelte damals seine Sänger
wie Schauspieler. Er wollte einfach nur er-
zählen, unzynisch, ohne Ironie, ohne De-
konstruktion, ohne Intellektualismus.
Ralph Myers hatte ihm einen schmucklo-
sen, unendliche Einsamkeit ausstrahlen-
den Bungalow auf die Bühne gestellt, Haus-
nummer 37. Es gab kein altes, totes, pitto-
reskes Brügge, nur den Kasten, den man
drehen und aufbrechen konnte, dessen
Zimmer wie Zellen voneinander separiert
werden konnten, in die man hineinschauen
konnte – dann sah man Vintage-Design
mit Filmplakaten an den Wänden, Antonio-
nis „Blow Up“ oder Godards „Pierrot le fou“.
Vielleicht hängt dort irgendwann einmal
auch ein Plakat von einem Simon-Stone-
Film.
Pauls Leben in der Erinnerung breitete
Stone mit schmerzhafter Präzision aus. Es
gab eine Devotionalienkammer voller Fo-
tos und der Perücke der toten Marie. Offen-
bar war sie an Krebs gestorben, Wiedergän-
gerinnen bevölkerten Pauls Erinnerungs-
traum, im OP-Hemd, mit Glatze wie nach ei-
ner Chemotherapie. Marietta lud Paul zu ei-
nem Erinnerungskaraoke, aber vor allem
war viel Tod in Pauls Haus, ein Tod, wie er
viele Häuser und Wohnungen füllt, wenn
der geliebte Mensch nicht mehr da ist. Da
wurde die Erzählung einer Oper zu einer Be-
gegnung mit menschlicher Wahrheit, unge-
heuer ergreifend und am Ende haltlos beju-
belt. Es gibt also gute Gründe, diese Arbeit
nach München zu holen, vom hiesigen Pu-
blikum dürfte sie ohnehin kaum jemand ge-
sehen haben. egbert tholl

Die tote Stadt, Regie: Simon Stone, Musikalische
Leitung: Kirill Petrenko, Montag, 18. November,
19 Uhr, Staatsoper

München– Dunkel ist es im Labor des
Meisters. Träge verflüchtigen sich noch
letzte Nebelschwaden. Wenn sich schließ-
lich seine Silhouette und die seiner Amanu-
enses ausmachen lassen, weiß man: Nicht
lange mehr, dann gilt es sich zu vertiefen in
die Welt Ludovico Einaudis. Melodieparti-
kel, Tonwiederholungen, rhythmische Pat-
terns. Und dann und wann ein anderer Ak-
kord. Was der eminent erfolgreiche Kom-
ponist und Pianist hier im Zusammenspiel
mit Federico Mecozzi (Geige) und Redi Ha-
sa (Cello) präsentiert, ist eine Auswahl aus
seinem jüngsten Großprojekt „Seven Days
Walking“.
Für Einaudi sind vier Wochen wie ein
Tag. Jeden Monat ist ein Album erschie-
nen, sieben Mal hintereinander. Einaudi
verarbeitet darin Natureindrücke, er
macht Wolkenschau zum Klangerlebnis,
Regengüsse zur Partitur. Seine Stücke sind
komponierte Rundwege. Manchmal unter-
stützen Cello und Geige die Oberstimme,
manchmal die Unterstimme. Meist bleibt
der Musikfluss im dynamischen Bereich
zwischen Piano und Mezzopiano. Und
dann und wann ein anderer Akkord. Nach
einigen Minuten unterbricht dröhnende
Stille das melancholische Strömen. Ap-
plaus, und noch einmal von vorne.
Ludovico Einaudi hat ein Modell gefun-
den und es perfektioniert – Variationen
über kein Thema. Wer würde dem Berio-
Schüler verübeln, dass er es immer und im-
mer wieder anwendet? Er wird dafür ge-
liebt. Einaudi spielt sich so in fließendem
Übergang von einem Stück ins nächste, ein-
mal schaltet er diskretes Radio-Rauschen
dazu. Seine Finger gleiten vor allem über
weiße Tasten, die melodischen Floskeln
sind in ihrer Durchsichtigkeit kaum greif-
bar. Und dann wann ein anderer Akkord.
Viele im Publikum lächeln. Einaudi zele-
briert eine Art des Künstlertums, das sich
von der Originalität als Basiskategorie ver-
abschiedet hat. Seine Auftritte sagen nicht
„Bewundert mich!“. Vielmehr scheinen sie
die Umsetzung des Mottos „Das könnt ihr
auch, eigentlich!“. Dafür erntet er den ste-
hend vorgebrachten Jubel eines ausver-
kauften Konzertsaals. Und plötzlich ist
Schluss. paul schäufele

München– Der Kabarettist Ottfried Fi-
scher erhält den diesjährigen Sonderpreis
des Kulturpreises Bayern für sein Lebens-
werk. Dies gab Kunstminister Bernd Sibler
(CSU) am Sonntag bekannt. Sibler erklärte,
Fischer sei „dem Publikum im ganzen
deutschsprachigen Raum seit Jahrzehnten
ein Begriff. Er ist der bayerische Schauspie-
ler schlechthin!“ Fischer ist beispielsweise
aus Fernsehserien wie „Der Bulle von Tölz“
oder „Pfarrer Braun“ sowie als Moderator
von „Ottis Schlachthof“ bekannt. Der
Kunstminister lobte ihn zudem als Schrift-
steller humoristisch-melancholischer An-
ekdoten und stellte die „nie enden wollen-
den künstlerischen Vielfalt“ heraus. Der
Sonderpreis, den unter anderen Gerhard
Polt, Klaus Doldinger, Dieter Dorn und Bru-
no Jonas erhalten haben, wird am 21. No-
vember am Nockherberg verliehen. pop

Beseeltes Duo


Kirill und Alexandra Troussov
in der Allerheiligen-Hofkirche

Alles, was nett ist


Wincent Weiss versucht im Zenith,
es jedem recht zu machen

Trautes Heim, kein Glück allein


DieBasler Inszenierung von Korngolds „Tote Stadt“ kommt an die Staatsoper, Regie führte Simon Stone


Bücher für die Unendlichkeit


Bei „Booksfor Future“ feiern Autoren und Kuratoren zehn Jahre Literaturfest in der Muffathalle. Und im Literaturhaus


denken Schriftsteller wie Judith Schalansky, Fiston Mwanza Mujila und Volker Braun über die Umbrüche von 1989 nach


Judith Schalansky denkt über
die Zeit nach 1989 nach, die sie
als Kind in Ostdeutschland
erlebte. Fiston Mwanza Mujila
zeigt: „Lachen ist Poesie.“

Klang der Wolken


Ludovico Einaudi verzaubert
in der Philharmonie

Ottfried Fischer


erhält Kulturpreis


Beim Fest „Books for future“, mit dem das Literaturfest bei freiem Eintritt in der Muffathalle feiert, trägt die ehemalige Kuratorin Elke Schmitter einen ergreifenden
Text über die russische Dichterin Anna Achmatowa vor und begleitet sich dabei selbst am E-Piano. FOTOS: CATHERINA HESS

Die musikalische Qualität
kommt aus dem Haus:
Kirill Petrenko dirigiert

LITERATURFEST


KURZKRITIK


R16 (^) KULTUR Montag, 18. November 2019, Nr. 266 DEFGH

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