Handelsblatt - 18.11.2019

(Tina Meador) #1
Wahlkampf in Großbritannien

Das Endspiel des Mr. Brexit


Nigel Farage war zunächst als
härtester Gegner der
Regierung angetreten – und ist
nun selbst so angeschlagen
wie nie zuvor.

Kerstin Leitel London

V


or wenigen Wochen noch galt
der 55-jährige Nigel Farage als
derjenige, den Premierminis-
ter Boris Johnson bei der Wahl am


  1. Dezember besiegen muss. Aber
    nun scheint das Lebenswerk des ehe-
    maligen Bankers in Gefahr. Frühere
    Parteifreunde wenden sich gegen
    ihn, und Politikexperten spekulieren,
    ob der Brite, der seit Jahrzehnten für
    den Brexit kämpft, diesen noch ver-
    hindern könnte. Schon als er 1993
    die Partei Ukip gründete, wollte er
    Großbritannien aus der EU führen.
    Von Ukip hat sich Farage abgewandt,
    er gründete Anfang 2019 die Brexit-
    Partei – mit der gleichen Absicht.
    Dass Großbritannien drei Jahre nach
    dem Sieg der „Leave“-Wähler noch
    immer Teil der EU ist, hatte Farage
    viel Zulauf verschafft. Bei der Europa-
    wahl siegte seine Partei überragend.
    Doch seit Wochen sinken die Um-
    fragewerte, vor allem, seit Johnson


zum Premierminister ernannt wur-
de. Hatten im Sommer noch 20 Pro-
zent der Briten in Wahlumfragen er-
klärt, die Brexit-Partei wählen zu wol-
len, sind es nun, 24 Tage vor den
Wahlen, weniger als zehn Prozent.
Mit seinem Brexit-Kurs schafft es
Johnson anscheinend, die unzufrie-
denen „Leave“-Wähler zurück zu den
Konservativen zu locken.

Mehrere Fehler
Mehrere Ereignisse hätten zuletzt
den Niedergang von Farage und sei-
ner Brexit-Partei begünstigt, meint
Politikexperte Callum Tindall von der
University of Nottingham: als Erstes
die Entscheidung des Parteichefs,
nicht selbst für einen der 650 Abge-
ordnetenposten anzutreten. Sieben
Mal schon hatte Farage versucht, ei-
nen Platz im Londoner Unterhaus zu
erhalten – bislang vergeblich. Ein
achtes Mal wollte Farage wohl nicht
das Risiko einer solchen Blamage ein-
gehen, aber für die Stimmung in der
Partei war das ein schlechtes Signal.
Außerdem verkündete der Partei-
chef zur Überraschung vieler Anhän-
ger, dass die Brexit-Partei keinen
Kandidaten in den 317 Wahlkreisen
aufstellen werde, in denen die Kon-
servative Partei bei den letzten Wah-

len eine Mehrheit bekommen hatte.
Es ist eine drastische Kehrtwende.
Schließlich hatte Farage ursprünglich
angekündigt, in „fast allen“ der 650
Wahlkreise Großbritanniens einen
Kandidaten aufzustellen. Nun sahen
300 Anhänger der Brexit-Partei ihren
Traum von einem Platz im Parlament
vorzeitig platzen. Man sei fallen gelas-
sen worden „wie eine heiße Kartof-
fel“, wütete Robert Wheal, der für
die Partei eigentlich für einen der
nun gestrichenen Posten kandidieren
wollte. Farage sei „als Politiker erle-
digt“. Andere brandmarkten den Par-
teichef als „Verräter“. Schließlich ha-
be dieser damit seine Unterstützung
für die Regierungspartei und ihre
Brexit-Politik signalisiert. Andere da-
gegen appellierten an ihn, auch die
verbleibenden Kandidaten im Rest
des Landes zurückzuziehen. Ein sol-
cher Schritt würde die Konservative
Partei auf ihrem Ziel zu einer Parla-
mentsmehrheit nach vorn bringen.
Denn entscheidend für den Aus-
gang der Wahl gelten die Bezirke in
der „Roten Mauer“: ein Landstrich in
Mittelengland, in dem viele Wähler
die Labour-Partei unterstützen, die
aber im Referendum 2016 für den
Austritt aus der EU gestimmt haben.
Auf sie fokussiert sich Johnson in sei-

nem Wahlkampf, denn in vielen Be-
zirken hängt der Wahlausgang von
wenigen Stimmen ab. Farages Partei
tritt beim Thema Brexit in Konkur-
renz zu den konservativen Tories an,
und das könnte die entscheidenden
Stimmen kosten, sodass die Parla-
mentssitze an Labour gehen.
Doch Farage lehnt es ab, die restli-
chen Kandidaten abzuziehen. Derarti-
ge Forderungen seien unverschämt.
Zugleich entbrannte ein offener Streit
zwischen den beiden Parteien: Fa -
rage zufolge haben die Tories ver-
sucht, ihn und andere führende Ver-
treter seiner Partei zum Rücktritt zu
überreden – mit fragwürdigen Metho-
den: Hochrangige Mitglieder der Kon-
servativen hätten Kandidaten angeru-
fen und ihnen Jobs angeboten. Die
Behauptungen hatte Johnson am Frei-
tag als „Unsinn“ abgetan. Sicher gebe
es aber Gespräche zwischen beiden
Parteien, sagte er der BBC. Mittler-
weile prüft die Polizei die Vorwürfe.
Für Politologe Matthew Goodwin
von der Universität Kent geht Farage
das Risiko ein, sein Lebensprojekt zu
zerstören: Wenn er dazu beitrage,
dass die Tories ohne klare Mehrheit
aus den Wahlen hervorgehen, könnte
er „als Konsequenz daraus den Brexit
zum Scheitern bringen“.

Repression in China

Präsident Xi:


„Absolut keine


Gnade“


Dokumente geben Einblick in
Chinas Unterdrückungsstaat
und nähren die Ängste der
Demonstranten in Hongkong.

Dana Heide Hongkong

E


s sei eine der wichtigsten Ent-
hüllungen aus dem Inneren
des chinesischen Regimes seit
Jahrzehnten: Der „New York Times“
sind 403 Seiten interne Dokumente
der Kommunistischen Partei (KP) in
die Hände gefallen. Die Schriftstücke
belegen, wie die KP die Rechte musli-
mischer Bürger in der Region Xinjiang
systematisch verletzt. „Absolut keine
Gnade“ solle im Kampf gegen „Terro-
rismus, Infiltrierung und Separatis-
mus“ gezeigt werden, hat Chinas
Staats- und Parteichef Xi Jinping laut
den Dokumenten in einer parteiinter-
nen Rede gefordert.
Menschenrechtsorganisationen wer-
fen der chinesischen Staatsführung
schon seit Langem vor, 1,5 Millionen
Menschen in Lagern in Xinjiang men-
schenrechtswidrig interniert zu haben
und unter Zwang zu indoktrinieren.
Die Dokumente belegen unter ande-
rem, wie die Internierung vor Angehö-
rigen der Opfer gerechtfertigt werden
soll. Peking behauptet, dass es sich bei
den Internierungslagern um Ausbil-
dungsstätten handelt.
Auch in Hongkong gibt Peking seit
Monaten ein fatales Bild ab. Seit dem
Beginn der Proteste in der chinesi-

schen Sonderverwaltungszone Anfang
Juni eskaliert die Situation immer wei-
ter. Die Hongkonger Regierung macht,
gestützt von der Zentralregierung in
Peking, wenig Bemühungen, die Lage
zu deeskalieren. Im Gegenteil: Die Po-
lizei geht immer härter gegen die Pro-
testierenden vor, selbst vor dem Ge-
brauch ihrer Schusswaffen schrecken
manche Polizisten nicht mehr zurück.
Auch die Demonstranten sind zu-
nehmend gewaltbereit. Radikale Grup-
pen bewaffnen sich mit Pfeil und Bo-
gen, werfen Molotowcocktails und
bauen Katapulte. Ein Polizist wurde
von einem Pfeil ins Bein getroffen. Im
Laufe der Woche hatten die Protestie-
renden insgesamt vier Universitäten
besetzt, gaben die Belagerung von drei
von ihnen aber wieder auf.
Vor Kurzem hatte Chinas Staats-
und Regierungschef Xi Jinping eine
harte Drohung ausgesprochen, die Be-
obachter als an die Hongkonger Pro-
testierenden gerichtet interpretiert
hatten: „Jeder, der versucht, eine Regi-
on von China zu trennen, wird unter-
gehen, mit zertrümmerten Körpern
und zu Pulver gemahlenen Knochen“,
sagte er. Chinesische Staatsmedien
stellen die Protestierenden immer wie-
der als Separatisten dar.
Auf externe Kritik an Pekings Vorge-
hen in Xinjiang oder Hongkong rea-
giert die chinesische Staatsführung ex-
trem harsch und verweist auf innere
Angelegenheit. Nach einem Aufeinan-
dertreffen von Bundesaußenminister
Heiko Maas mit dem regierungskriti-

schen Hongkonger Aktivisten Joshua
Wong im September in Berlin hatte die
chinesische Regierung den deutschen
Botschafter in Peking einbestellt.
Mehr als fünf Monate dauern die
Antiregierungsdemonstrationen in
Hongkong inzwischen an. Ein Tabu-
bruch am Wochenende hat die Angst
vor einem stärkeren Zugriff Chinas
noch weiter geschürt. Erstmals seit Be-
ginn der Proteste rückten am Samstag
etwa 50 Soldaten der chinesischen
Volksbefreiungsarmee aus ihrer Kaser-
ne in Hongkong zu einem Einsatz aus.
Eine halbe Stunde räumten sie Pflas-
tersteine weg, die die Protestierenden
als Straßenbarrikade genutzt hatten.
Schon seit Beginn der Proteste be-
fürchten Beobachter, dass Peking die
Armee einsetzen könnte, um die Aus-
einandersetzungen gewaltsam zu be-
enden. Äußerungen von chinesischen
Regierungsvertretern hatten diese Be-
fürchtungen in den vergangenen Wo-
chen immer wieder befeuert.
Am Samstag hielten die Demons-
tranten nur noch die Polytechnische
Universität besetzt. Die Anspannung
war den jungen Frauen und Män-
nern anzumerken.

„Keine Fotos!“, brüllte einer der
schwarz gekleideten, vermummten
Protestierenden Reportern zu. Mit
13 anderen stand er am späten
Samstagnachmittag, eine Stein-
schleuder in seiner linken Hand, ein
Megafon in seiner rechten, auf dem
Dach einer Überführung. Ein anderer
hielt einen Bogen in der Hand, man-
che trugen selbst gebaute Schutz-
schilde.
In der Nacht zum Sonntag griff die
Polizei an, über Stunden hinweg. Am
Tag rückte sie dann mit Tränengas,
Gummigeschossen und Wasser -
werfern vor. Die Demonstranten ant-
worteten mit Molotowcocktails und
brennenden Pfeilen, und sie warfen
Steine.
Anfang vergangener Woche er-
reichte die Gewalt eine neue Eskalati-
onsstufe, nachdem ein junger De-
monstrant nach dem Sturz aus einem
Parkhaus verstorben war. Auch auf-
seiten des Pro-Regierungs-Lagers gab
es einen Toten. Donnerstagnacht ver-
starb ein 70-jährigen Mann, nachdem
er im Streit mit Demonstranten mit
einem Pflasterstein am Kopf getrof-
fen worden war.

Bewaffneter Regimegegner in Hongkong: Beide Seiten sind zunehmend gewaltbereit.

LightRocket/Getty Images

Nigel Farage: Der
Parteichef der Brexit-
Partei kämpft seit
Jahrzehnten für einen
Ausstieg der Briten
aus der EU.

imago images/ZUMA Press

Jeder, der


versucht, eine


Region von


China zu


trennen, wird


untergehen –


mit zer -


trümmer ten


Körpern.


Xi Jinping
Chinas Staatschef

Wirtschaft & Politik


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MONTAG, 18. NOVEMBER 2019, NR. 222
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