Handelsblatt - 18.11.2019

(Tina Meador) #1
Neue EU-Richtlinie

Industrie fürchtet Sammelklagen


Diese Woche sollen die
EU-Staaten den Weg frei
machen für kollektive
Schadensersatzklagen. Die
Industrie läuft dagegen Sturm.

Till Hoppe, Dietmar Neuerer
Brüssel, Berlin

F


ührende Wirtschaftsverbände
schlagen Alarm wegen der in
Brüssel diskutierten Pläne für
kollektive Schadensersatzklagen. In
einem gemeinsamen Schreiben an die
Bundesregierung warnen BDI, DIHK
und etliche weitere Verbände, der
von den EU-Staaten geplante Richtli-
nienentwurf berge die Gefahr „massi-
ver Fehlanreize und Missbrauchsmög-
lichkeiten mit erheblichen Nachteilen
für die Wirtschaft“. Ein weiterer Brief
wurde von europäischen Industrie-
Dachverbänden an die übrigen EU-
Staaten verschickt und liegt dem Han-
delsblatt ebenfalls vor.
Die EU-Botschafter der Mitglied-
staaten sollen am Mittwoch über den
Entwurf der „Richtlinie über Ver-
bandsklagen zum Schutz der Kollek-
tivinteressen der Verbraucher“ ab-
stimmen. In der Industrie wird be-
fürchtet, dass der von der finnischen
Ratspräsidentschaft vorgelegte Text
die nötige Mehrheit bekommt und
damit die finalen Verhandlungen mit
dem Europaparlament beginnen
können.
Auch EU-Diplomaten gehen davon
aus, dass der Rat den Weg frei ma-
chen wird. Dabei sehe die Bundesre-
gierung den Entwurf kritisch und
werde ihm wohl nicht zustimmen.
Das ändere aber nichts an den Mehr-
heitsverhältnissen. Das Bundesjustiz-
ministerium erklärte auf Anfrage, der
Richtlinientext werde noch innerhalb
der Bundesregierung geprüft, um die
Position der Bundesregierung festzu-
legen.
Der von Finnland vorgelegte Kom-
promiss ebne einer „ungehemmten
Kommerzialisierung des Rechts und
sogar Erpressbarkeit von kleinen und
mittleren Unternehmen den Weg“,
warnten die Wirtschaftsverbände.
Problematisch sei vor allem, dass
zwischen nationalen und grenzüber-
schreitenden Kollektivklagen unter-
schieden werde und für Erstere keine
prozessualen Mindeststandards vor-
gesehen seien. Dadurch werde den
klagenden Organisationen ein soge-
nanntes „Forum Shopping“ ermög-
licht, in dem es zu einem „Wettbe-
werb um die geringsten Anforderun-
gen und höchsten Erträge
entsprechender Klagen“ komme. Das
gelte umso mehr, als sich der Ort der
Klage nur nach der Registrierung des
Klägers richte, nicht nach dem
Wohnsitz der betroffenen Verbrau-
cher oder dem Sitz des beklagten Un-
ternehmens.
Verbraucherschützer halten die
Kritik für unberechtigt. „Ich sehe
nicht, dass der Vorschlag die Tür für
Missbrauch öffnet“, sagt Augusta Ma-
ciuleviciute vom europäischen Dach-
verband BEUC. Die Regierungen hät-
ten auf der Unterscheidung zwischen
nationalen und grenzüberschreiten-
den Kollektivklagen bestanden, um
selbst höhere Anforderungen an die
klageberechtigten Organisationen
stellen zu können, nicht niedrigere.
In den Mitgliedstaaten, die bereits in
ihren Rechtssystemen Verbandskla-

gen vorsähen, seien die Standards
ebenfalls hoch, und es sei kein Miss-
brauch zu beobachten.
Auch Deutschlands oberster Ver-
braucherschützer Klaus Müller wies
die Kritik zurück. „Missbrauchsszena-
rien, die vonseiten der Wirtschaft in
den Raum gestellt werden, gehen von
amerikanischen Verhältnissen aus“,
sagte der Chef des Verbraucherzen-

trale Bundesverbands. Die zentralen
Elemente der amerikanischen Sam-
melklagen – Erfolgshonorare, Opt-
out-Modelle, Strafschadensersatz –
seien aber nicht Teil der geplanten
EU-Sammelklage.
EU-Justizkommissarin Vera Jourova
hatte im April 2018 vorgeschlagen,
EU-weit die Möglichkeit zu kollekti-
ven Schadensersatzklagen einzufüh-

ren. Sie reagierte damit auf aufsehen-
erregende Fälle wie den Dieselskan-
dal bei Volkswagen, von dem mehr
als acht Millionen VW-Kunden in
Europa betroffen sind.
Die Bundesregierung hatte die Plä-
ne von Beginn an kritisch gesehen,
da sie über die Bestimmungen der
vor einem Jahr eingeführten Muster-
feststellungsklage hinausgehen.


 


 

 









 








    


 

     

  
  
  

 
  

  
  

Wirtschaft & Politik
MONTAG, 18. NOVEMBER 2019, NR. 222
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