Handelsblatt - 18.11.2019

(Tina Meador) #1

Worte des Tages


„Vor 40 Jahren haben wir gesagt, wir haben diese
Erde von unseren Kindern nur geborgt. Und heute


  • heute müssen wir sagen: Es ist an der Zeit,
    sie ihnen endlich zurückzugeben. Das ist
    unsere Aufgabe.“
    Annalena Baerbock, Grünen-Chefin


Grüne


Wille zur


Macht


M


it der K-Frage haben es die
Grünen nicht eilig. Eine
Entscheidung über eine
mögliche Kanzlerkandidatur stehe
jetzt nicht an, so lautet ihr Kom-
mentar dazu auch weiterhin.
Zu Recht. Aus welchem Grund
sollten die Grünen ihre gut funktio-
nierende Doppelspitze sprengen?
Zumal in einer Situation, in der
noch gar nicht klar ist, ob sie die
Zustimmung der Wähler bis zu den
nächsten Bundestagswahlen halten
können. In einer Umfrage sind die
Grünen erstmals seit Langem wie-
der unter 20 Prozent gerutscht.
Der Parteitag am Wochenende
war da die passende Gelegenheit,
für Aufmerksamkeit zu sorgen. Mit
einem mit Rekordwerten wiederge-
wählten Spitzenduo, einem Rund-
um-Paket zur Stabilisierung des
Wohnungsmarkts und klaren Signa-
len an Wirtschaft und Markt, eher
Freund denn Feind zu sein.
20 Jahre nach ihrem Parteitag in
Bielefeld, als es in der Frage der
Nato-Beteiligung am Kosovokrieg
um den ersten Realitätscheck ging,
senden die Grünen abermals eine
Botschaft aus Bielefeld: Wir wollen
regieren. Und das mit einem Realis-
mus, den sie sich früher nur unter
großer Quälerei abringen konnten.
Wenn die Basis ausscheren wollte,
wurde sie von Baerbock und Ha-
beck eingefangen; einzig beim
CO 2 -Preis und bei der Schulden-
bremse mussten sie Zugeständnisse
machen. Das Signal sollte stimmen,
das Signal einer geeinten, progressi-
ven Partei, die willens und fähig ist,
drängende Probleme anzupacken –
auch jenseits der Klimakrise. Nicht
jeder Satz ihres Programms muss
jedem gefallen. Doch eine überzo-
gene, realitätsfremde Politik kann
man ihnen nicht mehr vorwerfen.
Und: Sie öffnen sich den Themen.
So verstehen sich die Grünen schon
jetzt als Regierung im Wartestand,
doch Vorsicht: All diejenigen, die
für die Grünen bislang nur aus Un-
zufriedenheit mit anderen Parteien
stimmen würden, die können auch
schnell wieder weg sein. Jetzt geht
es für die Partei darum, Wähler
über ihre Kernklientel hinaus von
sich und ihren Konzepten wirklich
zu überzeugen.


Die ehemalige Protestpartei zeigt
sich auf ihrem Parteitag in
Bielefeld so zielorientiert wie nie,
beobachtet Silke Kersting.

Die Autorin ist Korrespondentin
in Berlin.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]


D


ie SPD hat bei einem ihrer Prestigepro-
jekte weit mehr erreicht, als im Koaliti-
onsvertrag vereinbart war. Die neue
Grundrente kommt ab 2021, ohne Be-
dürftigkeitsprüfung. Stattdessen soll
die Rentenversicherung mit Daten der Finanzämter
nur prüfen, ob bestimmte Einkommensgrenzen
überschritten werden. Versteuert ein Rentner weni-
ger als 15 000 Euro oder ein Rentnerpaar weniger als
23 400 Euro im Jahr, zahlt die Rentenversicherung
einen Zuschlag zur Rente, sofern ein Rentner we-
nigstens 35 Jahre zu geringem Lohn gearbeitet, An-
gehörige gepflegt oder Kinder erzogen hat. Die SPD
hat sich mit ihrer Forderung durchgesetzt. 1,2 bis 1,
Millionen Personen mit geringen Rentenansprüchen
erhalten mehr Geld von der Rentenversicherung,
und die Kosten werden aus Steuergeldern finanziert.
Trotz dieses Erfolgs wird die Grundrente der SPD
nicht zu einem Comeback in der Wählergunst ver-
helfen. Der Niedergang der SPD resultiert nicht da-
raus, dass die Partei sozialpolitische Themen ver-
nachlässigt, wie dies etwa der Mindestlohn oder die
Rente ab 63 zeigen. Fakt ist vielmehr: Die SPD hat
noch nie eine Wahl gewonnen, wenn sie sich auf die
Geringverdiener fokussiert hat. Diejenigen, die sich
eine unbegrenzte Ausweitung des Sozialstaats wün-
schen, wählen lieber gleich das Original, die Linke.
Die SPD darf daher den Sozialstaat nicht länger als
Selbstzweck ansehen und als ein Auffangnetz verste-
hen, das mit jeder Reform dichter geknüpft und et-
was höher gehängt werden sollte. Die Verhinderung
von Armut ist ohne Zweifel eine wichtige Aufgabe ei-
nes modernen Staats, aber keineswegs dessen einzi-
ge. Noch nie war das Armutsrisiko in Deutschland so
gering wie heute. 2018 waren 18,7 Prozent der Bevöl-
kerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung be-
droht. Für die übrigen 81,3 Prozent dürfte eine Par-
tei, die sich in erster Linie auf die Ausweitung des
Sozialstaats fixiert, nicht sehr attraktiv sein.
Weit mehr punkten könnte die SPD, wenn sie sich
Themen widmet, die für breite Bevölkerungsgrup-
pen relevant sind, wie die Wohnraumpolitik und die
Versöhnung von Ökologie und Ökonomie. Woh-
nungspolitik bewegt sich im Spannungsfeld von
langfristig angelegter Allokationspolitik und kurzfris-
tiger Verteilungspolitik. Markteingriffe zum Schutz
der Mieter führen oft dazu, dass das Wohnungsange-
bot sinkt. Denn das wird vor allem von den Nach-
Steuer-Renditen der Investoren bestimmt; Mietde-
ckel und Kündigungsschutz mindern die Renditen,
niedrige Baukosten und Steuerentlastungen für die
Investoren erhöhen sie. Effektiver als das Bündel
unkoordinierter Einzelmaßnahmen wäre daher ei-

ne stringente, auf wenige Instrumente fokussierte
Politik.
Der Schutz des Weltklimas scheint derzeit das Ge-
winnerthema zu sein, wie der Höhenflug der Grünen
zeigt. Doch obwohl viele Wähler Klimaschutz als wich-
tig erachten, sind die meisten nicht bereit, ihren Le-
bensstil anzupassen, also weitgehend auf individuelle
Mobilität zu verzichten, ihre Essgewohnheiten zu än-
dern und weniger zu heizen. Ein Konzept, das beiden
Wünschen gerecht wird, fehlt bislang nicht nur, es
wird noch nicht einmal diskutiert. Die meisten Bürger
haben vermutlich keine Vorstellung, was es wirklich
bedeutet, unsere Volkswirtschaft binnen drei Dekaden
auf Klimaneutralität umzubauen, ohne dabei Kern-
kraft und unterirdische CO 2 -Speicherung zu nutzen.
Hinzu kommt, dass eine Volkswirtschaft mit star-
ker Industrie mehr Energie benötigt als eine auf
Dienstleistungen fokussierte – und die erfolgreiche
deutsche Industrie sorgt direkt und indirekt für die
Hälfte aller Arbeitsplätze. Eine Partei, die wichtige
Industriesektoren mehr oder weniger verteufelt, ist
für die Belegschaften eigentlich nicht wählbar.
Eine kluge Strategie einer traditionellen Arbeiter-
partei würde diese Widersprüche aufzeigen und
Konzepte zur Verbindung von Ökologie und Ökono-
mie diskutieren, statt den Grünen nachzujagen.
Wahre Öko-Fans ziehen das Original der Kopie vor.
Der größte Fehler der SPD von heute ist es aber,
wirtschaftlichen Aufstieg skeptisch zu betrachten.
Viele Parteifunktionäre scheinen vergessen zu ha-
ben, dass sozialer Aufstieg und wirtschaftlicher Er-
folg alte sozialdemokratische Ideen sind – und die
SPD immer nur dann stärkste Regierungspartei wur-
de, wenn sie programmatisch nicht nur für Rentner
und Arbeitnehmer, sondern auch für Aufsteiger und
Intellektuelle attraktiv war.
Zu guter Letzt krankt die Partei daran, dass sie kei-
ne exponierten und akzeptierten Vertreter beider
Parteiflügel hat, die trotz inhaltlicher Differenzen zu-
sammenarbeiten, integrieren und auch disziplinie-
ren können. So hätte der wirtschaftsnahe Gerhard
Schröder 1998 seinen Wahlsieg nicht ohne den hoch-
intelligenten Exponenten der Linken, Oskar Lafon-
taine, erringen können. Heute fehlen solch charis-
matische Kommunikatoren, die potenzielle Wähler
begeistern können.
Ganz gleich, welches Duo der Parteitag Anfang De-
zember an die SPD-Spitze wählen wird: Ändern wird
sich an diesem Befund leider nichts.

Leitartikel


Gewonnen und


doch kein Sieger


Die SPD hat bei
der Grundrente
ihre Vorstellungen
durchgesetzt,
doch viel helfen
wird ihr das bei
den nächsten
Wahlen nicht,
meint Bert Rürup.

Weit mehr


punkten könn-


te die SPD,


wenn sie sich


Themen wid-


met, die für


breite Bevöl-


kerungsgrup-


pen relevant


sind wie die


Wohnraum-


politik und die


Versöhnung von


Ökologie und


Ökonomie.


Der Autor ist Chefökonom des Handelsblatts und
Präsident des Handelsblatt Research Institute.
Sie erreichen ihn unter: [email protected]

Meinung

& Analyse

MONTAG, 18. NOVEMBER 2019, NR. 222
14


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