Handelsblatt - 18.11.2019

(Tina Meador) #1

D


ie deutsche Industrie steht
an der Schwelle zu einem
großen Experiment. Der
nächste Mobilfunkstan-
dard 5G soll die komplett
vernetzte Produktion im großen Stil
Wirklichkeit werden lassen. Während
die meisten Staaten die dafür nötigen
Frequenzen fast ausschließlich an
Netzbetreiber geben, ist Deutschland
Pionier bei einem anderen Ansatz.
Die Bundesregierung hat einen Teil
der Frequenzen unter anderem für
Unternehmen reserviert. Sie sollen
eigene Netze errichten können und
so mit den Vorzügen der neuen
Technologie experimentieren – un-
abhängig von den Netzbetreibern.
Lange war die Bundesregierung
uneins darüber, wie viel Geld sie
für die lokalen Netze verlangen
wollte. Doch nun ist der Weg frei.
Innerhalb der nächsten Tage wird
die Bundesnetzagentur den Be-
werbungsprozess für Unterneh-
men starten, die ein eigenes
5G-Netz aufbauen wollen.
Die Höhe der Gebühren wird
nach einem speziellen Schlüssel be-
rechnet. Sie fallen jedoch relativ ge-
ring aus im Vergleich zu den 6,5 Mil-
liarden Euro, die die Netzbetreiber
Deutsche Telekom, Vodafone, Telefó-
nica und 1&1 Drillisch in diesem Jahr
für die bundesweiten 5G-Frequenzen
bezahlt haben. Das Handelsblatt stellt in
fünf Szenarien vor, wie viel der Aufbau
von lokalen 5G-Netzen kostet (Seite 5).
Von Dax-Konzernen bis Mittelständ-
lern loten derzeit viele Firmen das Poten-
zial der lokalen Netze aus. „5G bietet her-
vorragende Möglichkeiten“, sagte etwa
der ehemalige BMW-Chef Harald Krüger. In
China hat der Autobauer – in Kooperation
mit dem chinesischen Hersteller Brilliance –
seine Fabriken mit 5G aufgerüstet. Dort setz-
ten BMW und Brilliance auf die Netzbetreiber
als Partner. In Deutschland steht der Konzern
nach eigenen Angaben in den Startlöchern, auch
die deutschen Werke mit 5G aufzurüsten. Hierfür
zieht BMW auch lokale Netze in Betracht. Konkur-
rent Volkswagen kündigt auf Anfrage sogar konkret
den Kauf von lokalen Frequenzen an. Derzeit wür-
den Pilotprojekte ausgearbeitet. Gespräche mit
Netzausrüstern liefen, heißt es aus Wolfsburg.
Nicht nur Großkonzerne, auch Mittelständler vi-
sieren den Aufbau eigener 5G-Netze an. Die Deut-
sche Messe AG in Hannover will ihre Gelände zur
5G-Pilotregion umbauen und die dafür nötigen Fre-
quenzen bei der Bundesnetzagentur beantragen.
Mit einer Gesamtfläche von über 100 Hektar ist das
Messegelände in Hannover eines der größten der
Welt. Schnellstmöglich soll das Areal mit einem öf-
fentlichen und privaten 5G-Netz versorgt werden.
Projektdirektor Marcus Eibach sagt: „Wir haben al-
lein zehn Kilometer Straßen auf unserem Gelände.
Dort lassen sich mit 5G viele Zukunftstechnologien
in der Praxis testen: autonome Shuttlebusse, intel-
ligente Parkleitsysteme, Gesichtserkennung am
Eingang oder Videoüberwachung zur Verbesse-
rung der öffentlichen Sicherheit.“

Netzbetreibern entgeht Geschäft
Den Netzbetreibern dürften solche Nachrichten
nicht gefallen. Sie hatten auf das Geschäft mit Un-
ternehmenskunden gehofft, um die hohen Moder-
nisierungskosten im Zusammenhang mit 5G zu er-
wirtschaften. Die Netzbetreiber versuchen daher,
Firmenkunden davon zu überzeugen, die Techno-
logie bei ihnen direkt einzukaufen, statt eigene lo-
kale Netze aufzubauen. Bislang sieht das Portfolio
an Lösungen für Firmenkunden jedoch dünn aus.
Die Deutsche Telekom hat als erster deutscher
Netzbetreiber Firmenkunden konkrete Angebote
unterbreitet. Allerdings macht das Unternehmen

„Fundament für


Disruption“


Deutschland macht den Weg für ein großes


Experiment frei: Firmen können sich lokale


5G-Frequenzen sichern. Das soll die


Vernetzung in der Industrie beschleunigen.


Das Handelsblatt präsentiert konkrete


Szenarien und Kosten für den Ausbau.


kaum Angaben zu den Kosten. Die Preise für seine
„Campusnetze“ seien zu stark abhängig vom Ein-
zelfall, so eine Sprecherin. Anfang des kommenden
Jahres soll es ein Einführungsangebot für kleine
und mittelgroße Betriebe geben, bei dem bis zu 20
SIM-Karten maximal 1 000 Euro im Monat kosten
sollen. Allerdings sind dabei die Kosten für den
Netzausbau auf dem Firmengelände nicht mitge-
rechnet. Vorzeigebeispiel des Netzbetreibers ist der
Lichtkonzern Osram. Im Werk Schwabmünchen
bei Augsburg hat die Telekom ein Campusnetz auf-
gebaut, mit dessen Hilfe mobile Transportroboter
gesteuert werden. Noch nutzt Osram LTE, doch
das Unternehmen will mithilfe der Telekom so
schnell wie möglich auf 5G umstellen. Über den
Kooperationspartner habe Osram bereits „ alle nö-
tigen Lizenzen und Frequenzen abgedeckt“.
Anders als die Netzbetreiber ist die Bundesregie-
rung davon überzeugt, dass firmeneigene 5G-Netze
auf großes Interesse stoßen werden. „Wir legen hier
das Fundament für disruptiven Wandel“, sagt etwa
Thomas Jarzombek, Beauftragter des Bundeswirt-
schaftsministeriums für die Digitale Wirtschaft. Bisher
seien Unternehmen von der Versorgung durch Tele-
kommunikationsanbieter abhängig gewesen. Gerade
im ländlichen Raum sei das ein Problem gewesen.
Lob für die Initiative kommt vom Bundesverband der
Deutschen Industrie (BDI): „Tempo beim Roll-out ist
entscheidend für den Erfolg von 5G in Deutschland“,
betont BDI-Vorstandsmitglied Iris Plöger.
Die lokalen Frequenzen erlauben Unternehmen,
zu 5G-Pionieren zu werden, was gerade mit Blick
auf den Streit über Sicherheitsrisiken im 5G-Netz
und den chinesischen Netzausrüster Huawei von
Bedeutung ist. Nicht nur, dass Betriebe selbst ent-
scheiden könnten, von welchen Anbietern sie
Komponenten beziehen: „Es ist sogar möglich, was
bislang undenkbar war: Netze aufzubauen, die
vom Internet getrennt sind“, erläutert Jarzombek.
Das biete ein hohes Sicherheitsniveau.
Das 5G-Netz ist mehr als eine reine Weiterent-
wicklung der bestehenden Mobilnetztechnologie.
Es ist um ein Vielfaches schneller als das bisherige
4G-Netz. Dazu gilt es als verzögerungsfrei, verläss-
lich und kapazitätsstark. 5G soll künftig alles mit al-
lem vernetzen: Fabriken, Stromnetze, medizini-
sche Geräte, selbstfahrende Autos. Experten be-

zeichnen es als „zentrales Nervensystem“ der
Digitalwirtschaft und als eine der wichtigsten Infra-
strukturen des Landes.
Rund ein Dutzend jüngst veröffentlichter Studien
untersucht die Potenziale von 5G. Alle sind sich ei-
nig, dass der neue Mobilfunk die Kosten reduzie-
ren, Effizienz steigern und neue Produkte möglich
machen wird. Der Netzausrüster Ericsson hatte in
einer Studie mit dem Anbieter ABI Research die
Potenziale von 5G ausloten lassen. Dabei ergab die
Untersuchung, dass der Einsatz der neuen Mobil-
funktechnik in einer 500 000 Quadratmeter gro-
ßen Autofabrik in Deutschland in fünf Jahren eine
Ertragssteigerung von 4,9 Prozent erreichen könn-
te – bei einer gleichzeitigen Reduktion der Kosten
um 505 Millionen Dollar. In einer Hochrechnung
für ein 50 000 Quadratmeter großes Warenlager
bescheinigte die Untersuchung sogar eine Ertrags-
steigerung um 13,2 Prozent bei einer Reduktion der
Kosten um 356 Millionen Dollar.
Jochen Bechtold von der Beratungsgesellschaft
Capgemini bescheinigt lokalen Netzen besonderes
Potenzial, da sie vernetzte Fabriken möglich ma-
chen könnten, noch bevor die neue Mobilfunkge-
neration in Deutschland flächendeckend ausgerollt
ist. „Die Produktivität der Fabriken wird dadurch
signifikant gesteigert“, sagte Bechtold. In einer Un-
tersuchung erwartete Capgemini einen zusätzli-
chen Betrag zur globalen Wirtschaftswertschöp-
fung durch intelligente Fabriken von 1,5 Billionen
Dollar bis zum Jahr 2023. Wolfgang Bock, Senior
Partner bei Boston Consulting, mahnt allerdings:
„Viele Industrieunternehmen dürften die eigenen
Fähigkeiten beim Managen solcher Netze über-
schätzen.“ Letztlich könnten sie doch auf die Hilfe
der Telekommunikationsanbieter angewiesen sein.
Die Netzbetreiber stehen derweil vor einem ande-
ren Problem: Sie wissen noch nicht, welchen Ausrüs-
ter sie für ihre 5G-Netze verwenden dürfen. Bislang
hatten Betreiber darauf gesetzt, Komponenten vom
chinesischen Netzausrüster Huawei zu verwenden.
Doch im Bundestag regt sich Widerstand. Abgeordne-
te drängen auf einen Ausschluss von Huawei. Noch ist
unklar, wie die Debatte ausgeht. M. Fasse, A. Höpner,
M. Koch, S. Matthes, S. Menzel, S. Scheuer, K. Terpitz

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Titelthema


5G in der Industrie


MONTAG, 18. NOVEMBER 2019, NR. 222
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