Handelsblatt - 18.11.2019

(Tina Meador) #1

FOKUS → JANSSEN-CILAG GMBH


Die Vision: Krankheiten verhindern,


bevor sie ausbrechen


Nach heutigem Verständnis ist ein Mensch entweder
gesund oder krank – dazwischen gibt es nichts, erklärt Dr.
Christoph Bug, Medizinischer Direktor und Mitglied der
Geschäftsführung des Pharmaunternehmens Janssen
Deutschland. Das forschende pharmazeutische Unter-
nehmen beschäftigt sich bereits seit einigen Jahren
mit einem neuen medizinischen Ansatz, der dies ändern
könnte.

Bei Janssen streben Sie eine Zukunft an, in der
Krankheiten der Vergangenheit angehören. Ist
das nicht völlig unrealistisch?
Unsere Vision ist in der Tat sehr ambitioniert. Wenn wir
uns jedoch die Fortschritte anschauen, die die moderne
Medizin in den vergangenen Jahren gemacht hat, dann
wird deutlich, dass sie durchaus realistisch ist. Forschung
und Medizin entwickeln sich rasant. Heute ist bereits vieles
möglich, was vor einigen Jahren noch als unerreichbar galt.

Üblicherweise gilt ein Mensch als krank, wenn
er Symptome einer Erkrankung aufweist. Der Arzt
stellt eine Diagnose und verordnet eine Therapie.
Doch Sie wollen Krankheiten bereits erkennen
und behandeln, bevor sie ausbrechen.
Aus der Forschung wissen wir, dass zwischen dem Beginn
des Krankheitsprozesses und dem Auftreten erster Symp-
tome teilweise Jahre vergehen können – beispielsweise
bei vielen Krebserkrankungen und bei der Alzheimer-
Demenz. Obwohl wir immer früher und individueller
diagnostizieren und therapieren können, kommen wir –
zumindest bei progressiven Erkrankungen – häuig zu spät:
Der Tumor hat sich bereits gebildet, oder, wie im Fall der
Alzheimer-Demenz, das Gehirn ist bereits irreversibel
geschädigt. Wir sehen für die Zukunft die realistische
Chance, diese Erkrankungen zu erkennen und aufzuhalten,
bevor die ersten Symptome auftreten. Diesen Ansatz
nennen wir Disease Interception.

Wie soll das gehen?
Disease Interception sieht vor, mithilfe validierter Biomarker
Menschen zu identiizieren, die ein besonders hohes Risiko
in sich tragen, eine bestimmte Erkrankung zu entwickeln.
Zu diesem Zeitpunkt sind diese Menschen noch keine
Patienten im klassischen Sinne. Biomarker sind es auch,
die anzeigen, dass der Krankheitsprozess begonnen hat.
Das Zeitfenster zwischen dem Nachweis des krank-
machenden Prozesses und dem Auftreten von Sympto-
men nennen wir „Interception Window“. Das Ziel von
Disease Interception ist, in diesem Zeitfenster ursächlich
in den Krankheitsverlauf einzugreifen und ihn somit bereits
in der präklinischen Phase aufzuhalten, zu verzögern oder
sogar umzukehren.

Ist das schon heute möglich?
Da es sich bei Disease Interception um einen völlig neuen
medizinischen Ansatz handelt, ist dies leider noch
Zukunftsmusik. Wir sind jedoch bereits heute in der Lage,
individuelle Veränderungen im menschlichen Körper
mithilfe bestimmter Biomarker zu einem sehr frühen
Zeitpunkt nachzuweisen – zu einem Zeitpunkt, zu dem die
Betrofenen im klassischen Sinne noch nicht erkrankt sind,
die Wahrscheinlichkeit für eine Erkrankung jedoch hoch
ist. Bis die ersten Disease-Interception-Therapien zugelas-
sen werden, ist jedoch noch intensive Forschungsarbeit
nötig. Wir gehen aber davon aus, dass Disease Interception
bereits in wenigen Jahren in ersten Indikationen Realität
werden könnte.

An welche Bereiche denken Sie dabei?
Wir suchen in der Hämato-Onkologie nach Ansätzen, um
den Übergang von einer schwelenden Knochenmarks-
erkrankung, dem sogenannten Smoldering Myelom, zum
behandlungsbedürftigen Multiplen Myelom zu verhindern.
In der Alzheimer-Forschung arbeiten wir daran, die Biomarker
besser zu verstehen, um das demenzielle Syndrom mit
neuen Therapieoptionen hinauszuzögern. Und bei Typ-1-
Diabetes wollen wir möglichst früh Hinweise auf eine Krank-
heitsentwicklung inden, um beispielsweise durch eine
Immuntherapie zu intervenieren.

Wenn es aktuell noch keine entsprechenden
Therapien auf dem Markt gibt – warum ist die
Auseinandersetzung mit Disease Interception
bereits heute so relevant?
Wir treiben die Diskussion um die Chancen und Herausfor-
derungen von Disease Interception schon heute voran, weil
wir wollen, dass Betrofene von diesem neuen Ansatz proi-
tieren können, sobald entsprechende Therapien auf dem
Markt sind. Würde in naher Zukunft die erste Therapie im
Sinne von Disease Interception zugelassen, wären weder
unser Gesundheitssystem noch wir als Gesellschaft darauf
vorbereitet.

Das müssen Sie bitte erläutern.
Wenn Disease Interception Wirklichkeit wird, wäre damit ein
Paradigmenwechsel verbunden, für Betrofene, ihre Ange-
hörigen, Ärzte, unser Gesundheitssystem – für uns als Ge-
sellschaft insgesamt. Der Ansatz wirft viele Fragen auf –
nicht nur medizinische, sondern auch ökonomische
und ethische. Gleichzeitig verändert er Rollen und Verant-
wortlichkeiten. Die Rolle des Arztes würde sich vom

FOTO: JANSSEN-CILAG GMBH / FOTOGRAF: STEFFEN HÖFT

INTERVIEWPARTNER
DR. MED. CHRISTOPH BUG
JANSSEN DEUTSCHLAND
MEDIZINISCHER DIREKTOR UND
MITGLIED DER GESCHÄFTSFÜHRUNG

BILD: BUCHCOVER „DISEASE INTERCEPTION“
EIN AKTUELLES WISSENS- UND STIMMUNGSBILD BIETET DAS VON JANSSEN
UNTERSTÜTZTE BUCH „DISEASE INTERCEPTION — IMPLIKATIONEN EINER
FRÜHEN DIAGNOSE UND KRANKHEITSUNTERBRECHUNG FÜR MEDIZIN
UND GESELLSCHAFT“, IN DEM ZAHLREICHE EXPERTEN DIE CHANCEN UND
HERAUSFORDERUNGEN VON DISEASE INTERCEPTION AUS IHRER JEWEILIGEN
PERSPEKTIVE DISKUTIEREN.

Behandler zum Berater wandeln. Wir alle als potenzielle
Betrofene müssten mehr Verantwortung für unsere Ge-
sundheit übernehmen und beispielsweise entscheiden, ab
welchem Erkrankungsrisiko wir informiert werden möch-
ten. Darüber hinaus müssen wir verbindlich regeln, wie wir
künftig mit dem individuellen Recht auf Nicht-Wissen
umgehen und wie wir es schützen. Wie sollen Ärzte und
Krankenkassen damit umgehen, wenn ein Versicherter von
seinem Recht auf Nicht-Wissen Gebrauch macht oder eine
Intervention ablehnt und später erkrankt? Was sollen und
dürfen die Arbeitgeber über das Erkrankungsrisiko ihrer
Mitarbeiter wissen? Um diese Fragen zu beantworten,
brauchen wir eine gesamtgesellschaftliche Debatte. Wir
müssen uns mit den Chancen von Disease Interception für
Betrofene auseinandersetzen und ebenso mit den gesell-
schaftlichen Hürden, die es zu bewältigen gilt. Disease
Interception hat das Potenzial, unser Gesundheitssystem
grundlegend zu verändern – weg vom „Reparaturbetrieb“,
in dem Krankheiten behandelt werden, hin zur Erhaltung
unserer Gesundheit. Das wäre ein enormer Schritt auf dem
Weg in eine Welt ohne Krankheiten. Aber: Die grundlegen-
den Fragen, die damit einhergehen, müssen wir als Gesell-
schaft diskutieren und gemeinsam nach Antworten
suchen. Je früher wir damit beginnen, desto besser.

Weitere Informationen inden Sie unter:
→ http://www.monitor-versorgungsforschung.de/DI/
DI-Buch

DIE DREI ELEMENTE VON DISEASE INTERCEPTION

CHANCEN DER MEDIZIN 5
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