Handelsblatt - 18.11.2019

(Tina Meador) #1
Silke Kersting Bielefeld

R


egnete es am Samstag
für die beiden wieder-
gewählten Bundesvor-
sitzenden noch Konfet-
ti, lieferten sich die
Grünen am Sonntag harte Debatten
um ihre Klima- und Wirtschaftspoli-
tik. Vor allem um die Höhe eines
CO 2 -Preises und ein Datum für den
Kohleausstieg wurde am dritten Tag
des Bundesparteitags der Grünen in
Bielefeld gerungen. Das Führungs-
duo Annalena Baerbock und Robert
Habeck übernahm es gleich mehr-
fach, Änderungsanträge, die dem
Bundesvorstand zu weit gingen, mit
einer Gegenrede abzuwehren.
Am Nachmittag stand fest: Die Grü-
nen bleiben bei ihren Forderungen,
bis 2030 aus der Kohle auszusteigen
und ab 2030 keine Autos mit Ver-
brennungsmotoren neu zuzulassen.
Eine Änderung beschlossen sie beim
CO 2 -Preis im Verkehr- und Wärmesek-
tor. Ihr Konzept sieht nun vor, dass
dieser 2020 bei 60 Euro pro Tonne
liegen soll und in Schritten von 20
Euro pro Jahr ansteigen soll. Zugleich
schlagen sie ein unabhängiges Gremi-
um vor, das bis zu einer Einigung auf
europäischer Ebene Preissteigerung
und soziale Auswirkungen kontrol-
liert und den Preis, wenn notwendig,
anpasst. Damit, so heißt es, solle ein
optimales Zusammenwirken mit den
begleitenden ordnungsrechtlichen
Maßnahmen zum Klimaschutz herge-
stellt werden.
Der Bundesvorstand wollte 60
Euro erst ein Jahr später und keinen
festen Anstieg festlegen. Forderun-
gen nach einem Einstiegspreis von
80 Euro wurden indes abgeblockt.
Grünen-Chefin Baerbock, die am
Samstag mit einem für die Grünen
sensationellen Ergebnis von 97,1 Pro-

zent wiedergewählt worden war, hat-
te noch am Morgen die Delegierten
um Realismus in den bevorstehen-
den Abstimmungen beschworen.
„Leute, lasst uns genau hingucken“,
sagte Baerbock und warnte vor un-
realistischen Forderungen. Ziele sei-
en das eine. „Aber wir müssen auch
liefern.“

Machthungrig wie nie
Dieser Anspruch zog sich durch den
gesamten Bundesparteitag, der am
Freitagabend begonnen hatte. Die
Grünen regieren in vielen Bundeslän-
dern mit, doch im Bund sitzen sie
seit 14 Jahren auf der Oppositions-
bank. In Bielefeld präsentierten sie
sich machthungrig wie nie. Habeck
beschwor die Grünen bereits in sei-
ner Eröffnungsrede auf eine Regie-
rungsbeteiligung. „Die Ära Merkel
geht erkennbar zu Ende, eine neue
beginnt“, rief Habeck, der später mit
90,4 Prozent – also einem niedrige-
ren Ergebnis als Baerbock – wieder-
gewählt wurde. Diese Ära wollten die
Grünen mitgestalten. Man sei keine
Bürgerbewegung mehr, sondern eine
politische Kraft, die den Auftrag zur
Gestaltung habe. Dafür seien die Grü-
nen gegründet worden, „und jetzt lö-
sen wir es ein“.
Winfried Kretschmann, Regie-
rungschef in Baden-Württemberg,
stärkte Baerbock und Habeck am
Samstag in Bielefeld den Rücken. „Es
wächst uns eine neue Rolle zu“, sagte
der bislang einzige grüne Regierungs-
chef auf Landesebene. „Jetzt wählen
uns eben nicht mehr nur einge-
fleischte Ökos, sondern ganz viele
Menschen suchen Orientierung bei
uns und erwarten von uns realisti-
sche Antworten“, sagte Kretsch-
mann, der bei den Landtagswahlen

2021 ein weiteres Mal als Spitzenkan-
didat antreten will. Das reale Klima
werde heißer, so Kretschmann, das
gesellschaftliche Klima durch Rechts-
populisten und Rechtsradikale dage-
gen kälter. Da müssten die Grünen
politisch Führung übernehmen.
Die Klimapolitik im Bund geht dem
grünen Oberrealo Kretschmann nicht
weit genug. Der von der Koalition be-
schlossene Einstieg in den CO 2 -Preis
auf Sprit, Heizöl und Erdgas sei deut-
lich zu niedrig: „Man kann Leute
nicht mitnehmen, wenn man sich
ganz hinten anstellt, wo die Ängstli-
chen und Verzagten stehen“, sagte
der 71-Jährige. Sprüche wie „der Weg
ist das Ziel“ könne „man ins Poesie-
Album schreiben, aber Politik kann
man so nicht machen“.

Klare Regeln gefordert
Baerbock sprach von einem „Drei-
klang“ aus ökologischer, wirtschaftli-
cher und gesellschaftlicher Verant-
wortung. Sie forderte klare politische
Regeln für eine klima- und umwelt-
verträgliche Wirtschaft. Raubbau an
der Natur zerstöre nicht nur den Pla-
neten, sondern auch die Grundlage
der Wirtschaft, sagte die 38-Jährige.
Sowohl sie als auch Habeck bekann-
ten sich mehrfach zur Marktwirt-
schaft, so wie sie es auch zuvor in ih-
rem Wirtschaftsleitantrag formuliert
hatten. Allerdings gehörten Leitplan-
ken dazu. Geregelte Märkte könnten
eine Wucht entfalten, die gebraucht
werde, um die Klimakrise in den
Griff zu bekommen, aber dennoch
Wohlstand sichern.
Die gestärkte Grünen-Chefin for-
derte Mut, in der Europäischen Uni-
on als größtem Binnenmarkt Stan-
dards für Umweltschutz und Rechts-
staat zu setzen. Als Beispiele nannte

Bundesparteitag der Grünen


Markt, Staat und Regeln


Annalena Baerbock und Robert Habeck schwören ihre Partei in Bielefeld auf


eine Regierungsbeteiligung ein. Um Klimapolitik wird heftig gerungen.


Annalena Baerbock und
Robert Habeck: Rekord-
ergebnis für die Grünen-
Chefs.

sie Digitalisierung, Finanzmärkte und
große Industrieprojekte. „Natürlich
braucht auch ein Markt Regeln“, sag-
te Baerbock. Und ja, „natürlich kann
man das auch Verbote nennen, wenn
man sagt, gewisse Dinge gehören
nicht auf diesen Markt“, rief sie unter
großem Beifall. Es brauche alles:
„Markt und Staat und klare politische
Ansagen.“ Sie wolle nicht, dass die
Gestaltungsmacht der globalisierten
Wirtschaft überlassen werde. „Ich
will, dass Politik die Verantwortung
übernimmt, unsere Zukunft zu ge-
stalten.“
Bekräftigt wurde die Forderung
nach höheren Investitionen beispiels-
weise in die Infrastruktur. Die Schul-
denbremse für den Bund soll im Rah-
men der EU-Regeln gelockert wer-
den, damit der Staat deutlich mehr
als bisher investieren kann. Ein aus-
drückliches Bekenntnis zur Schul-
denbremse für die Bundesländer
wurde aus dem Leitantrag des Bun-
desvorstands mit knapper Mehrheit
gestrichen.

Schärferes Mietrecht
Zudem beschlossen die Grünen, den
Mindestlohn von derzeit 9,19 Euro
auf zwölf Euro anzuheben, wie es
auch Linke und SPD wollen. Um den
angespannten Wohnungsmärkten et-
was entgegenzusetzen, beschlossen
sie eine stärkere Regulierung und Be-
grenzung von Mieten. Auch wenn sie
wissen, dass sie mit solchen Entschei-
dungen die ohnehin fragile Balance
zwischen den Rechten der Mieter
und Vermieter gefährden, soll die
Mietpreisbremse dauerhaft im Miet-
recht verankert werden. Man wolle
zudem einen Rechtsanspruch für
Mieter schaffen, ihre Mietverträge
untereinander zu tauschen, heißt es.
Damit solle erreicht werden, dass
Menschen, denen ihre Wohnung im
Alter zu groß geworden ist, sie mit ei-
ner jungen Familie tauschen können,
ohne sich finanziell zu verschlech-
tern. Private Kleinvermieter sollen
davon ausgenommen sein.
Habeck mahnte seine Partei, für
Kritik offen zu bleiben, auch wenn
die Angriffe härter würden. „Bei al-
lem, was die Parteien umtreibt“, sag-
te er, „eins eint sie: der Wunsch, dass
die Grünen wieder kleiner werden.“
Die prompte Reaktion der CSU, die
die Grünen schon zuvor als ihren
größten Feind ausgemacht hatte, gab
ihm recht: Habeck und Baerbock sei-
en die Fassade einer im Kern linken
Partei, sagte CSU-Generalsekretär
Markus Blume und machte das an
Verboten, einer Anti-Auto-Politik und
Enteignungsfantasien fest – Vorwür-
fe, die regelmäßig gegen die Grünen
erhoben werden. Dabei waren alle
Enteignungsfantasien schon am Frei-
tag abgebügelt worden. Der Bundes-
vorstand verweist lediglich auf eine
Baupflicht bei Bauland.
Baerbock und Habeck hatten die
Parteiführung der Grünen Ende Janu-
ar 2018 übernommen – unmittelbar
nachdem die Gespräche zur Bildung
einer Jamaika-Koalition mit Union
und FDP geplatzt waren. In Umfra-
gen stehen sie derzeit bei stabilen 20
Prozent und sind damit zweitstärkste
Kraft nach der Union. Wer von ihnen
beiden möglicher Kanzlerkandidat
vor den nächsten Bundestagswahlen
wird, ist weiterhin offen.

> Kommentar Seite 14

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uns eben


nicht mehr


nur


eingefleischte


Ökos.


Winfried Kretschmann
Ministerpräsident von
Baden-Württemberg

AFP

Wirtschaft & Politik
MONTAG, 18. NOVEMBER 2019, NR. 222
8

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