Deutsch Perfekt - 13.2019

(Ann) #1

Angst ist schon etwas Besonderes. Sie hat


ihren Weg in die Weltsprache Englisch


gefunden – obwohl für Angst die typische


Übersetzung fear ist.


So beschreibt das englische Adjektiv

angst-ridden eine Person, die viele ver-


schiedene Ängste hat. Außerdem ken-


nen englische Muttersprachler die Ger-


man Angst. Das deutsche Wort Angst wird


mit der englischen Vokabel für deutsch


kombiniert. Die German Angst ist eine


sehr spezielle, als besonders deutsch ge-


sehene Form der Angst. Es handelt sich


um die Idee, dass die Deutschen generell


besonders viel Angst vor der Zukunft ha-


ben und ein pessimistisches Volk sind.


Beispiele dafür sind die Skepsis, die viele


Deutsche bei moderner Technik haben.


Oder die besonders präsente Sorge um


die Zukunft des Planeten. Auch dass sich


Deutsche gegen besonders viele ver-


schiedene Risiken versichern und dafür


sehr viel Geld ausgeben, wird oft als ein


Beispiel für German Angst gesehen.


Sprachwissenschaftlerin Luth weiß

aber nicht, ob es diese typisch deutsche


Angst wirklich gibt. „Ob es tatsächlich so


ist, dass wir ängstlicher sind als andere


Kulturen, das kann ich nicht sagen.“ Die


Germanistin Milena Belošević ist sogar


eher der Meinung, dass dieses Phänomen


nicht existiert: „Ich würde nicht sagen,


dass die Deutschen ein besonders ängstli-


ches Volk sind. Für mich gibt es also keine


German Angst.“


Die Serbin, die an der Universität Trier

promoviert, glaubt: Eine Angst vor der


Zukunft kennen alle Menschen – nicht


speziell die Deutschen. Belošević hat


untersucht, ob Medien wie Die Zeit, Der


Spiegel, die Fr a n k f u r t e r A l l g e m e i n e Z e i t u n g


oder die Süddeutsche Zeitung während der


Flüchtlingskrise besonders viele gram-


matische und sprachliche Mittel benutzt


haben, die bei Lesern Angst erzeugen.


Besonders hat sie interessiert, ob nach

dem 31. Dezember 2015 mehr solcher


Mittel benutzt wurden. Denn in dieser


Silvesternacht hat es am Kölner Haupt-


bahnhof viele sexuelle Übergriffe auf


Frauen durch Gruppen von jungen Män-


nern gegeben. Viele dieser Männer ka-


men aus Nordafrika oder aus arabischen


Ländern. Beloševićs Fazit: „Es gab eigent-
lich keinen Anstieg an solchen sprachli-
chen Mitteln. Die untersuchten Medien
sind auch nach Schlüsselereignissen wie
der Kölner Silvesternacht seriös geblie-
ben.“ Sie gibt aber auch zu: „Wir haben
nur Qualitätsmedien untersucht. Hätten
wir andere Medien, wie Twitter, Facebook
oder auch die Bild-Zeitung genommen,
hätten wir wahrscheinlich etwas anderes
gefunden.“

Die deutsche Liebe für Krimis
Ist die German Angst also nur ein My-
thos? Sind die Deutschen nicht mehr oder
weniger ängstlich als Menschen anderer
Länder? Eine sichere Antwort gibt es auf
diese Fragen nicht. Aber neben der Bedeu-
tung von Angst in der deutschen Spra-
che gibt es noch einen Hinweis, dass die
Deutschen eine besondere Beziehung zur
Angst haben: Kriminalromane. Sie sind in
fast keinem anderen Land so populär.
65 Prozent der Deutschen sagen, dass
sie gerne Krimis und Thriller lesen. Das
ist ganz klar das populärste Genre in der
Bundesrepublik. Historische Romane,
die zweitpopulärste Kategorie, lesen 49
Prozent gern. Auch im Fernsehen do-
minieren Kriminalfilme und -serien das
Abendprogramm. Die wohl bekannteste
deutsche Fernsehserie, der „Tatort“, ist
natürlich eine Krimiserie. Bis zu 13 Mil-
lionen Menschen schauen am Sonntag-
abend den „Tatort“ an (siehe Deutsch
perfekt 10/2016).
In ihrer Freizeit machen sich die Deut-
schen also gern Angst. Es gibt ein Adjek-
tiv, das die Emotion, die Deutsche dabei
spüren wollen, gut beschreibt: gruselig.
Wer eine Szene liest oder sieht, bei der es
ihm kalt über den Rücken läuft, der gruselt
sich. Und so eine gruselige Szene mögen
viele – besonders zu Hause auf dem Ses-
sel mit einer heißen Tasse Tee auf dem
Tisch und einem Kriminalroman in der
Hand. Oder wenn man mit Freunden auf
der Couch einen Thriller sieht.
Die Deutschen wissen nämlich: Solan-
ge es keinen wirklichen Grund gibt, Angst
zu haben, kann ein bisschen Bammel,
Herzklopfen und Muffensausen etwas
sehr Schönes sein.

seinen Weg f“nden “n
, hier: als gültige Vokabel
benutzt und akzeptiert
werden

der M¢ttersprachler, -
, hier: Person, deren Mut-
tersprache Englisch ist

„ls ... gesehen
, hier: so, dass man meint,
sie ist ...

]s h„ndelt s“ch ¢m ...
, hier: Das ist ...

gener¡ll
, hier: ≈ alle

s“ch vers“chern gegen
, ≈ einen Vertrag mit eine
Versicherung machen, die
zahlt bei

tatsæchlich
, wirklich

eher
, hier: mehr

existieren
, da sein

promovieren
, eine systematische
Untersuchung machen,
um den Titel Doktor zu
bekommen

(der Titel, -
, hier: z. B. Doktor, aber
auch Name einer Position,
z. B. Direktor)

die Fl•chtlingskrise, -n
, Situation, dass viele
Flüchtlinge kommen

(der Fl•chtling, -e
, Person, die aus
religiösen, politischen oder
ethnischen Gründen aus
ihrer Heimat weggegangen
ist / weggehen musste)

das M“ttel, -
, hier: Methode, um ein
Ziel zu erreichen

erzeugen
, hier: machen

s¶lche (-r/-s)
, hier: von diesen

der Übergriff, -e
, hier: ≈ sexuelle Attacke

der [nstieg, -e
, von: ansteigen = mehr
werden

das Schl•sselereignis, -se
, ≈ wichtiges Ereignis

seriös
, hier: journalistisch
korrekt

zugeben
, hier: ehrlich sagen

das Qualitätsmedium,
-medien
, hier: Medium, das
sich an journalistischen
Standards orientiert

nehmen
, hier: für die Untersu-
chung wählen

der H“nweis, -e
, hier: Sache, die zeigt,
dass es etwas gibt

wohl
, hier: wahrscheinlich

spüren
, hier: fühlen

s“ch gruseln
, Angst haben

die Couch, -s/-es/-en
engl.
, ≈ Sofa

sol„nge
, hier: wenn

42 SPRACHFEATURE Deutsch perfekt 13 / 2019

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