Deutsch Perfekt - 13.2019

(Ann) #1
Deutsch perfekt 13 / 2019 WIE GEHT ES EIGENTLICH ...? 69

In den 90er-
Jahren lagen
die Kunden
zweimal die
Woche auf
dem Grill.

Das da muss weg, findet er nun in den
Räumen, und dies und das. Die Hand legt
er auf den Himmel des blauen Ergoline,
als wäre es die Schulter eines fleißigen
Mitarbeiters, der jetzt leider entlassen
wird. „Muss alles mehr nach Wellness
aussehen“, erklärt er dem Studio-Besit-
zer. Der hat Linnecke geholt, damit der
Sonnengott hier im Laden schafft, was er
für Sonnenstudios allgemein schon lange
erreichen will: die Resozialisierung eines
Kulturguts.
Solarien hatten nicht immer ein
schlechtes Image. In den 70er-Jahren in
Deutschland als Mittel gegen Winterde-
pression erfunden, war die Sonnenbank
bald als beliebter Bräuner akzeptiert. Ein
dunkler Teint galt als Statussymbol: Seht
mich an, ihr armen Bleichgesichter, ich
kann mir Reisen in den Süden leisten
(oder einen Balkon)! In den 80er-Jahren
wuchs der Markt, gebräunte
Haut hatte nicht mehr auto-
matisch mit Elite zu tun. Bis
heute gibt es noch die Synony-
me für die Sonnenbank, wie sie
nur erfunden werden konnten
in komischeren Zeiten (Klapp-
karibik, Münzmallorca) und
in politisch unkorrekteren
(Bitchburner, Proletengrill).
In den 90er-Jahren trat der Sonnen-
gott in einen Markt ein, dessen Struktur
niemand besser beschreiben kann als
Linnecke selbst: „Damals haben sich die
Frauen und Männer zweimal die Woche
auf den Tussitoaster gelegt, die waren
schwarz wie die Nacht. Das Geschäft
haben entweder Leute aus dem Milieu
gemacht, Typen mit aufgeknöpftem
Hemd und Halskette, die am Ende der
Wo c h e d a s B a r g e l d haufenweise aus
den Tresoren holten. Oder es war so: Die
Kinder sind groß, der Mann hat Geld, der
Frau ist langweilig, da kauft er ihr halt ein
Sonnenstudio oder eine Boutique.“ Vor
20 Jahren gab es in Deutschland mehr als
7500 Studios. Hans-Dieter Roggendorf,
Vo r s i t z e n d e r des Bundesfachverbands
Besonnung erinnert sich an einen „über-
hitzten Markt“.
Sonnenstudios gehörten damals
zum Straßenbild wie Videotheken und

D


er Tag war kalt und dunkel
und super. Schlechtes Wet-
ter für die Menschen, das
bedeutete gutes Wetter für
Solarien. Im Studio etwas
außerhalb des Zentrums von München
wartete der Ergoline 600 Turbo. So hieß
Ende der 90er-Jahre ein Top -Bräuner,
eine blaue Sonnenbank mit 50 Röhren
mit jeweils 160 Watt. Sie war aufgeklappt,
unten die Liegefläche, oben der Deckel,
tatsächlich Himmel genannt. Herzlich
willkommen, schrie sie stumm, auch und
speziell an dunklen Novembertagen. Die
Frau hinter dem Tresen hielt ein Hünd-
chen im Arm: Kylie.
Kylie Minogue, Pop-Idol der 80er-
und 90er-Jahre. Aber den Namen hat der
Hund nicht von ihr, sondern von „Kylie
Jenner“, wie seine Besitzerin sagt und
dabei den Besucher in die Gegenwart zu-
rückholt. Kylie Jenner ist eine
der Kardashian-Schwestern, es
ist 2019.
Ja, es gibt noch Solarien,
auch wenn sie selten gewor-
den sind, dafür oft genug wie
Museen wirken. Zwischen
2001 und 2015 haben sie den
allergrößten Teil ihrer Klientel
verloren, wie eine erst im letzten Winter
veröffentlichte Studie zeigt. Statt wie
früher elf Prozent legen sich nur noch 1,6
Prozent der Deutschen auf die Bank.
Diese Sonnenfinsternis hat Gründe,
grob gesagt: UV-Strahlen gelten heute als
ungesund, knusprig Gebräunte als unäs-
thetisch und Überbelichtete als unter-
belichtet. Die Branche trocknet aus, und
zwar turbo. Jetzt kann nur noch Hilfe von
oben helfen.
Frank Linnecke aus Mülheim an der
Ruhr sieht sich das veraltete Münche-
ner Studio an. Ein schlanker, 49 Jahre al-
ter Mann, blond gefärbtes Haar, perfekt
weiße Zähne, hellbraune Leder sneakers,
mallorca-gebräuntes Gesicht. An der
Hand eine Rolex, in der Tasche Marlbo-
ros. Früher arbeitete er im Straßenbau,
heute verkauft er Sonnenbänke – „vom
Pflaster-Frank zum Sonnengott“, sagt er.
200 Studios hat er schon eingerichtet, wie
er selbst sagt.

die S¶nnenbank, ¿e
, Gerät in einem Solarium,
das ultraviolettes Licht
produziert

gebräunt
, von: bräunen = durch
Sonne oder ultraviolettes
Licht die Haut braun
werden lassen

der Bräuner, -
, hier: m Sonnenbank

die Röhre, -n
, lange Konstruktion in
Form von einem Zylinder;
hier: ≈ lange Lampe, die ult-
raviolettes Licht produziert

aufklappen
, hier: öffnen, indem man
eine Hälfte in eine vertikale
Position bringt

der Tresen, -
, hier: hoher Tisch, an
dem Kunden begrüßt
werden

die S¶nnenfinsternis, -se
, Phänomen am Himmel;
hier: dunkle Zeit für
Solarien

grob
, hier: ungenau; sehr
einfach

die UV-Strahlen Pl.
, ultraviolettes Licht

kn¢sprig
, so gebraten, dass die
Haut braun und hart ist;
hier: m stark gebräunt

überbelichtet
, so, dass zu viel Licht
auf einen Film oder eine
Kamera gekommen ist;
hier: m durch zu viel
UV-Licht stark gebräunt

¢nterbelichtet
, so, dass wenig Licht
auf einen Film oder eine
Kamera gekommen ist;
hier: m nicht intelligent

austrocknen
, trocken werden; hier:
immer weniger verdienen
und so bald nicht mehr
existieren

ver„ltet
, nicht mehr modern

das Pfl„ster, -
, hier: Straße aus vielen
flachen Steinen

die Sch¢lter, -n
, Körperteil zwischen Hals
und Arm

die Resozialisierung
, von: resozialisieren =
hier: helfen, dass Solarien
in der Gesellschaft wieder
akzeptiert werden

das Kulturgut, ¿er
, Objekt, das einen
kulturellen Wert hat

der Teint, -s franz.
, Farbe und Zustand der
Haut

das Bleichgesicht, -er
, m d Gesicht ohne
Farbe

kl„ppen
, hier: öffnen oder
schließen

der Prolet, -en
, d Person ohne Kennt-
nisse und ohne Stil, die sich
oft nicht an den Normen
des Zusammenlebens
orientiert

die T¢ssi, -s
, m d junge Frau, die
vor allem auf ihr Aussehen
achtet

das Milieu, -s franz.
, hier: soziale Umgebung,
in der Kriminelle sind

das Geschæft m„chen
, hier: m das Geld
bekommen

aufgeknœpft
, halboffen

haufenweise
, m in großer Menge

der Tresor, -e
, Geldschrank mit Sicher-
heitsschloss

h„lt
, hier: m ≈ einfach

der/die Vorsitzende, -n
, Person, die einen Verein
oder ein Meeting leitet

der Bundesf„chverband
Bes¶nnung , hier: ≈
Organisation für die Interes-
sen der Solarienbranche

überh“tzt
, zu heiß; hier: ≈ so er-
folgreich, dass plötzlich zu
viele Menschen auch daran
verdienen wollen

das Straßenbild, -er
, hier: ≈ Straße mit allen
Objekten und Geschäften,
wie man sie normalerweise
sieht

die Videothek, -en
, Laden, in dem man DVDs
und Videos leiht oder kauft
Free download pdf