Die Welt - 05.11.2019

(Brent) #1

D


ie Grundrente kommt –
später. Noch haben sich
SPD und Union zwar
nicht auf alle Details geei-
nigt und den Koalitions-
gipfel deshalb auf die nächste Woche
verschoben. Doch die Grundsatzent-
scheidung steht: Das eherne Prinzip der
Rente, dass sich die Höhe der Altersbe-
züge nach den im Erwerbsleben einge-
zahlten Beiträgen bemisst, wird aufge-
weicht. Das Versicherungssystem soll
mit dem System der staatlichen Fürsor-
ge gemixt werden.

VON DOROTHEA SIEMS

Wer trotz 35 Beitragsjahren nur eine
Minirente bekommt – weil er zum Bei-
spiel nur Teilzeit gearbeitet hat –, soll
ab 2021 eine Aufstockung erhalten. Al-
lerdings soll auch das Partnereinkom-
men bei der Bedürftigkeitsprüfung he-
rangezogen werden. Strittig ist noch,
inwiefern überdies Vermögen berück-
sichtigt werden soll. Je nachdem, wie
streng die Bedürftigkeitsprüfung gere-
gelt wird, kostet die neue Leistung die
Steuerzahler zwischen 200 Millionen
Euro (vollständige Prüfung von Ein-
kommen und Vermögen) oder zwei
Milliarden (nur Haushaltseinkom-
men). Bei dem von der SPD ursprüng-
lich verlangte Streichung der im Koali-
tionsvertrag festgeschriebenen Bedürf-
tigkeitsprüfung wären fünf bis sieben
Milliarden Euro fällig, zumal dann
auch Millionen Rentnerhaushalte pro-
fitieren würden, die gar keine Altersar-
mut zu fürchten haben.
Dass die Koalitionäre so erbittert
über die Grundrente streiten, verwun-

dert. Schließlich haben SPD und Union
in der Rentenpolitik in den vergange-
nen Jahren ziemlich reibungslos zu-
sammengearbeitet – und dabei das Sys-
tem der Alterssicherung enorm belas-
tet. Ohne allerdings damit nennens-
wert etwas gegen die Altersarmut zu er-
reichen. WELT zeigt die fünf bisher
größten Sünden.

RENTE MIT 63

Während immer mehr Länder weltweit
angesichts der rasanten Alterung das
Renteneintrittsalter anheben, mar-
schiert Deutschland in die andere Rich-
tung. Wer 45 Beitragsjahre inklusive Er-
ziehungs-, Pflege- und Zeiten der Kurz-
zeitarbeitslosigkeit vorweisen kann,
darf seit 2014 ohne Abschläge zwei Jahre
früher in Rente gehen. Schon über eine
Million Arbeitnehmer haben das Ange-
bot dankend angenommen. Kosten für
die Rentenkasse: rund zwei Milliarden
Euro pro Jahr – Tendenz stark steigend.
Hinzu kommen durch den vorzeitigen
Ruhestand noch Steuerausfälle und ge-
ringere Beitragszahlungen für die ande-
ren Sozialkassen und nicht zuletzt eine
Verschärfung des Fachkräftemangels.

MÜTTERRENTE I UND II

Während die Rente mit 63 ein Herzens-
anliegen der SPD war, setzte die Union
die Mütterrente durch: Frauen, die ihre
Kinder vor 1992 geboren haben, bekom-
men seit 2014 statt nur einem Erzie-
hungsjahr zwei Jahre (Mütterrente I)
und seit diesem Jahr sogar zweieinhalb
Jahre (Mütterrente II) als Beitragszei-
ten anerkannt. Die Gesamtkosten be-

GroKo hat 2017 jedoch eine „Haltelinie“
beim Rentenniveau eingezogen: Danach
soll es bis 2025 nicht unter das derzeiti-
ge Niveau von 48 Prozent sinken. Die
Kosten dieser Maßnahme sind momen-
tan noch gering und steigen in den
nächsten Jahren auf rund eine Milliarde
Euro an. Entscheidend ist, wie es nach
2025 weitergeht. Denn dann stehen die
geburtenstarken Jahrgänge vor dem
Renteneintritt. Ohne ein Absinken der
Haltelinie drohen exorbitante Kosten
für die Finanziers. Zwar hat die GroKo
auch eine Haltelinie für den Beitrags-
satz festgeschrieben, der bis 2025 nicht
über 20 Prozent klettern soll. Ein Aus-
gleich allein über Steuermittel dürfte
aber unmöglich sein. Zumal der Bund
schon heute mit rund 100 Milliarden
Euro ein Drittel der gesamten Renten-
ausgaben finanziert.

ANGLEICHUNG DER OSTRENTEN

Mit der Angleichung der Ostrenten an
das Westniveau haben SPD und Union
ein weiteres Mal eine Besserstellung der
älteren Bevölkerung zulasten der jünge-
ren Erwerbstätigen beschlossen. Bis
2025 steigt der Rentenwert Ost in
Schritten von 94 auf 100 Prozent. Damit
sind die Ostrentner nun doppelt be-
günstigt. Denn bei der Wiedervereini-
gung wurde als Ausgleich für das insge-
samt niedrige Lohnniveau eine dauer-
hafte Höherwertung der Löhne bei der
Berechnung der Ostrenten vereinbart.
Diesen Vorteil sollen die heutigen Rent-
ner auch künftig behalten. Und bei ei-
nem auf 100 Prozent Westniveau ange-
hobenen Rentenwert schlägt die Höher-
wertung der Löhne sogar noch deutli-
cher durch. Für die heutigen Arbeitneh-
mer im Osten wird die Höherwertung
dagegen sukzessive abgeschafft. Unter
dem Strich verlieren sie dadurch mehr,
als sie im Gegenzug durch die Anglei-
chung an das Westniveau gewinnen. Die
Kosten für die Angleichung betragen
rund vier Milliarden Euro pro Jahr.

KEIN ZUKUNFTSPLAN

Längere Erwerbstätigkeit und kapitalge-
deckte Zusatzvorsorge gelten unter
Ökonomen als die wichtigsten Instru-
mente, um die Alterssicherung ange-
sichts des demografischen Wandels zu-
kunftsfest zu machen. Doch eine Koppe-
lung des Renteneintrittsalters an die
steigende Lebenserwartung ist für die
SPD tabu. Und die kapitalgedeckte Ries-
terrente haben Spitzenpolitiker der Ko-
alition so pauschal wie kenntnisfrei als
„Flop“ schlechtgeredet und damit die in
der Bevölkerung angesichts der Niedrig-
zinspolitik verbreitete Skepsis enorm
verstärkt. Auch die kleineren Verbesse-
rungen bei der betrieblichen Altersvor-
sorge greifen nicht. Jetzt droht mit der
Einführung einer Finanztransaktions-
teuer ein weiterer herber Schlag gegen
die kapitalgedeckte Altersvorsorge.
Keine der rentenpolitischen Großta-
ten ist geeignet, das staatliche Renten-
versicherungssystem zu stabilisieren
oder das Problem der in Zukunft zuneh-
menden Altersarmut gezielt anzugehen.
Auch die Grundrente ist teuer, aber geht
komplett an den größten Risikogruppen
vorbei: den Erwerbsgeminderten, den
nicht vorsorgenden Selbstständigen
und vor allem den Langzeitarbeitslosen.

Die größten


RRRenten-Sünden enten-Sünden


Seit Jahren bürden SPD und Union


den Beitrags- und Steuerzahlern


immer neue Finanzlasten auf. Mit der


Grundrente folgt wohl bald die nächste


*Die Standardrente ist eine fiktive Rente, die einem Versicherten gewährt würde, wenn er über ��
Versicherungsjahre hinweg stets ein Entgelt in Höhe des Durchschnittsentgeltes aller Versicherten
erzielt und dementsprechende Beiträge geleistet hätte.

Standardrente* steigt

Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales

Monatliche Bruttostandardrente der gesetzlichen Rentenversicherung
von ���� bis ����* in Euro 

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Unwucht bei der Rente

Quelle: Deutsche Rentenversicherung

Beiträge und Ausgaben der Rentenversicherung bis ��
in Millionen Euro

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Rentenausgaben

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Beiträge

Bund muss ordentlich zuschießen

Quelle: Deutsche Rentenversicherung

Bundeszuschüsse zur gesetzlichen Rentenversicherung
in Millionen Euro



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laufen sich auf rund 11,4 Milliarden Euro
pro Jahr, die bislang vor allem aus der
Rentenkassen finanziert werden. Auch
dieser Posten wächst, wenn in den
nächsten Jahren die Babyboomer das
Rentenalter erreichen. Da jüngeren
Müttern drei Erziehungsjahre bei der
Rente angerechnet werden, wird nicht
nur von den Sozialverbänden bereits
für die Mütterrente III getrommelt, al-
so eine weitere Aufstockung um ein
halbes Erziehungsjahr.

HALTELINIE BEIM RENTENNIVEAU

Seit den tiefgreifenden Rentenrefor-
men der rot-grünen Regierung unter
Gerhard Schröder sinkt das Rentenni-
veau, also das Verhältnis von der Rente
zu den Löhnen, langsam ab. Zwar stei-
gen die Renten dennoch Jahr für Jahr,
aber langsamer als die Löhne. Auf diese
Weise wollten die Reformer damals die
finanziellen Lasten des demografischen
Wandels auf Jung und Alt verteilen. Die

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10 WIRTSCHAFT *DIE WELT DIENSTAG,5.NOVEMBER


Absturz eines größeren Passagierflug-
zeugs. Gegenüber früheren Jahrzehnten
sei das Risiko, bei einem Absturz ums
Leben zu kommen, extrem gering. Den-
noch steigen sowohl die Anzahl der
Schäden als auch die materiellen Schä-
den. Die Studie analysierte mehr als
50.000 Fälle in der Luftfahrtversiche-
rung zwischen 2013 und 2018 – mit einer
Schadenssumme von insgesamt 14,8 Mil-
liarden Euro. Auf Zusammenstöße am
Boden und Abstürze entfällt dabei gut
die Hälfte des Betrags. Vom Trend her
gibt es also weniger Tote in der Luft-
fahrt, aber mehr Schäden.
Falls es doch zu Abstürzen kommt
oder die Aufsichtsbehörden ein Flugver-
bot verhängen, wird es richtig teuer. Bo-
eing hat nach eigenen Angaben bisher
wegen der zwei 737-Max-Abstürze mit
346 Todesopfern mehr als fünf Milliar-
den Dollar zurückgestellt – für die Zu-
satzkosten und Schadenersatzzahlungen
an Airlines. „Das ist deutlich mehr, als
versichert ist“, sagt Allianz-Experte von
Frowein. „Nur ein Bruchteil des Gesamt-
schadens ist von Versicherungen bei den
Fluggesellschaften gedeckt.“ Die Allianz
ist auch vom 737-Max-Desaster betrof-
fen, wenn auch nicht als führender Ver-
sicherer, wie es heißt.
Noch längst steht nicht fest, wie die
Fluggesellschaften selbst als 737-Max-

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er Absturz der beiden
Boeing-737-Max-Maschinen,
die zu einem Flugverbot des
Modells führten, entwickelt sich zum
wohl größten Schadenfall der Luft-
fahrt. In einer vom Industrie- und
Luftfahrtversicherer Allianz Global
Corporate & Speciality (AGCS) vorge-
legten Studie wird auf die von dem US-
Konzern genannten Milliardenschäden
verwiesen. Damit nicht genug: Die Alli-
anz geht davon aus, dass es durch
Hightechflugzeuge künftig zu weiteren
und dann auch sehr kostspieligen Flug-
verboten kommen kann.

VON GERHARD HEGMANN

In jüngerer Vergangenheit habe es ei-
ne Häufung von behördlichen Flugver-
boten gegeben, gibt Allianz-Luftfahrt-
manager Axel von Frowein zu bedenken.
„Der Druck, immer schneller, immer
modernere, sparsame Luftfahrzeuge
und Triebwerke in hohen Stückzahlen
zu erstellen“, mache weitere Flugverbo-
te wahrscheinlich.
Trotz der zwei 737-Max-Abstürze ver-
weist die Allianz auf den Trend, dass
Fliegen immer sicherer wird. Jährlich
steigen mehr als vier Milliarden Men-
schen in ein Flugzeug. Und 2017 gab es
keinen einzigen Todesfall durch einen

Kunden entschädigt werden. Die Allianz
darf keine Details nennen. In der Studie
heißt es, dass der finanzielle Schaden,
der für die Airlines durch das Flugver-
bot entsteht, größtenteils nicht versi-
chert ist. In der Branche ist von etwa
500 Millionen Dollar Schaden in der
Versicherungswirtschaft die Rede. Bei
der Allianz als einem der international
großen Luftfahrtversicherer hat man
bisher 70 Millionen Euro für den Scha-
den aus den 737-Max-Unfällen zurück-
gelegt. Insgesamt dürften es nicht mehr
als 150 Millionen werden, heißt es.
Hinzu kommen die Entschädigungen

für die Opfer. Auch hier zeige sich ein
Trend, heißt es bei der Allianz. Vor zehn
Jahren wurde der Tod eines Passagiers
nach einer Faustregel, insbesondere bei
US-Bürgern, mit einer bis zu drei Mil-
lionen Dollar entschädigt. Inzwischen
lägen die Summen deutlich darüber.
Weil die Haftung pro Passagier in den
Multimillionenbereich gestiegen sei,
könne der Absturz eines voll besetzten
Großraumflugzeugs durchaus einen
Versicherungsschaden von einer Milli-
arde Dollar erreichen, heißt es bei der
Allianz. Inzwischen gebe es Haftpflicht-
versicherungssummen von teilweise

über zwei Milliarden Dollar für einen
Absturz.
Indirekt warnt der Versicherer die
Branche, sich zu sehr in Sicherheit zu
wiegen. Die 737-Max-Abstürze hätten
die Abhängigkeit von komplexen, auto-
matisierten Flugmanövern offenbart.
Zudem steigt die Zahl der Passagiere
und der Flugzeuge. Bis 2037 wird mit ei-
ner Verdoppelung der Passagierzahlen
gerechnet. Allianz-Manager Frowein
kündigt an, dass sich die Allianz vor
dem Hintergrund der Schadenentwick-
lung in der Branche genauer anschaut,
wie viel Versicherungsdeckung bereit-
gestellt wird. Im Bereich des behördli-
chen Flugverbots werde das Unterneh-
men „die Kapazitäten eher reduzieren“,
sagt von Frowein. Derzeit überprüfe sie,
welches Volumen bereitgestellt wird.
An der einen oder anderen Stelle würde
Versicherungsgeschäft bei großen Her-
stellern voraussichtlich zurückgenom-
men. Namen nennt die Allianz nicht.
Bei den meisten Fluggesellschaften
steht zum Jahresende die Verlängerung
der meist nur auf ein Jahr abgeschlosse-
nen Versicherungsverträge an. Dabei
dürfte mit Prämienerhöhungen zu rech-
nen sein. „Die Luftfahrtversicherungs-
preise steigen derzeit im allgemeinen
im zweistelligen Prozentbereich“, sagt
von Frowein.

WWWeniger Tote, aber mehr Schädeneniger Tote, aber mehr Schäden


Bei Flugunglücken kommen immer weniger Menschen ums Leben. Doch die Zahl der Fälle, in denen Versicherungen zahlen müssen, steigt


Boeing 737 Max auf einem Flughafen in Washington. Sie dürfen derzeit nicht abheben

AFP

/ DAVID RYDER

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avid Bowie, die Sex Pistols und
Queen feierten damals Erfolge.
Für die britischen Staatsfinan-
zen sind die 1970er-Jahre dagegen in we-
niger guter Erinnerung. 1976 war das
Land gezwungen, den Internationalen
Währungsfonds (IWF) um finanzielle
Unterstützung zu bitten. Die Kreditli-
nie von 3,9 Milliarden US-Dollar (ver-
gleichbar mit über 17 Milliarden US-
Dollar heute) war die größte, die bis da-
hin ausgereicht worden war.

VON CLAUDIA WANNER
AUS LONDON

Nach den Wahlen zum britischen Un-
terhaus am 12. Dezember werden die
Staatsausgaben des Landes mit rund 42
Prozent des Bruttoinlandsprodukts
(BIP) aber wieder das Niveau dieser Ära
erreichen, hat die Denkfabrik Resoluti-
on Foundation errechnet. Das deutliche
Anschwellen des Staates gelte sowohl
für einen Sieg der Konservativen unter
Boris Johnson als auch für eine Labour-
Regierung unter Jeremy Corbyn. Unter
Johnson haben auch die Konservativen
deutlich mehr Ausgabenversprechen
gemacht als in der Vergangenheit für
konservative Regierungen üblich.
Anberaumt wurden die Parlaments-
wahlen im nächsten Monat, die dritte
Abstimmung in weniger als fünf Jahren,
um endlich aus der Brexit-Sackgasse zu
kommen. Doch die beiden großen Par-
teien versuchen seit dem Start des
Wahlkampfs, den Fokus vom Ausstieg
aus der EU abzulenken. Zu punkten ver-
suchen sie stattdessen mit drängenden
innenpolitischen Themen, wie der Fi-
nanzierung des staatlichen Gesund-
heitsdienstes NHS, mehr Geld für Schu-
len und die Polizei, Aufstockung der
Verkehrs- und Kommunikationsinfra-
struktur, zusätzlichen Wohnungsbau-
programmen.
Auf Basis der bisher vorliegenden Fi-
nanzierungspläne dürften die Haus-
haltsausgaben unter einer konservati-
ven Regierung bis 2023 auf 41,3 Prozent
des BIP steigen, deutlich höher als der
Durchschnitt von 37,4 Prozent aus den
zwei Jahrzehnten vor der Finanzkrise.
Doch angesichts des Versprechens, den
NHS finanziell deutlich besser auszu-
statten, dürfte der Wert schnell über die
42 Prozent steigen, die im Schnitt zwi-
schen 1966 und 1984 aufgelaufen sind.
Wahlkampfprogramme haben die Par-
teien bisher noch nicht veröffentlicht.
Die Analysten von Resolution Foundati-
on haben sich daher die Ankündigungen
und Finanzierungszusagen der vergan-
genen Wochen angesehen. Die Tories
haben in ihrem Ausgabenüberblick im
September eine Reihe von Ankündigun-
gen gemacht.
Für die oppositionelle Labour-Partei
dient ihr Programm der letzten Wahl im
Juni 2017 als Vorlage. Außerdem hat
Schatten-Finanzminister John McDon-
nell 250 Milliarden Pfund über zehn
Jahre für Infrastrukturinvestitionen
versprochen. Damit würde das Ausga-
benniveau auf 43,3 Prozent des BIP stei-
gen. „Auf dem Weg in die vierte Wahl
innerhalb einer Dekade scheint es eine
breite Übereinstimmung zu geben, dass
es notwendig ist, die Ausgabenhähne
wieder aufzudrehen“, sagte Studienau-
tor Matthew Whittaker, stellvertreten-
der Chef der Resolution Foundation.
Der Vergleich mit den 1970er-Jahren
ruft in Großbritannien indes bei vielen
keine gute Erinnerungen hervor. Das
Jahrzehnt war geprägt von Streiks,
Stromausfällen und Stagflation, der
Kombination einer stagnierenden Wirt-
schaft und hoher Teuerungsraten.
Hinzu kam noch die Demütigung des
IWF-Kredits, gekoppelt mit dem zeit-
weisen Rückzug der Bank of England
vom Devisenmarkt. Der Kredit war drei
Jahre später zurückgezahlt. Doch unter
anderem diese Erfahrung führte in den
kommenden Jahren unter der konserva-
tiven Premierministerin Margaret That-
cher zu umfassenden Ausgabenkontrol-
len und einem weitreichenden Privati-
sierungsprogramm.
Erst mit der Finanzkrise 2008
schnellten die Ausgaben wieder in die
Höhe. Das höhere Ausgabenniveau läu-
tete aber direkt eine Dekade der Spar-
politik ein. Den damit verbundenen
Kürzungen bei öffentlichen Leistungen,
von Gesundheit über Bildung bis zur
Polizei, sind viele Briten längst müde.
Philip Hammond hatte in seiner Zeit als
Schatzkanzler bereits das Ende der Aus-
terität angekündigt. Sein Nachfolger Sa-
jid Javid zeigt noch deutlich mehr Nei-
gung für staatliche Investitionen.

Ende der


Bescheidenheit


in London


Staatsausgaben dürften
auf Niveau der 70er steigen

Nach der Absage des Koalitions-
gipfels zur Grundrente wächst beim
Sozialflügel der CDU der Unmut.
Aus der Wirtschaft komme „kein
einziger sinnvoller Vorschlag, da
wird nur gestänkert“, sagte der
Vorsitzende der CDU-Sozialaus-
schüsse (CDA), Karl-Josef Lau-
mann. Der nordrhein-westfälische
Arbeitsminister kritisierte damit die
Einflussnahme des Spitzenverban-
des der Arbeitgeber. Die SPD rea-
gierte reserviertauf Forderungen
aus der Union, die Einführung eines
Rentenzuschlags für Geringver-
diener mit einer Senkung der Unter-
nehmensteuern zu verknüpfen. „Wir
sind nicht in Verhandlungen über
andere Dinge, wir reden über die
Grundrente“, sagte SPD-Generalse-
kretär Lars Klingbeil. Vor allem beim
Wirtschaftsflügel der Unions-Frakti-
on im Bundestag gibt es Wider-

stand gegen eine Einigung entlang
der Grundzüge, auf die sich eine
Arbeitsgruppe der Koalition am
Freitag verständigt hatte. Vizefrak-
tionschef Carsten Linnemann poch-
te im ZDF darauf, die Grundrente
von einer Vermögensprüfung ab-
hängig zu machen.„Das können die
Finanzämter nicht klären, weil sie
beispielsweise nicht sehen, ob je-
mand Aktien hat“, sagte Linnemann,
der auch der Chef der Mittelstands-
union ist. Damit wandte sich Linne-
mann gegen ein Kompromissmodell,
das sich in einer Koalitionsarbeits-
gruppe unter Kanzleramtschef Hel-
ge Braun (CDU) und Bundesarbeits-
minister Hubertus Heil (SPD) abge-
zeichnet hatte. Anstelle der von der
Union geforderten und im Koaliti-
onsvertrag vereinbarten Bedürftig-
keitsprüfung könnte es eine Einkom-
mensüberprüfung geben. rtr

Koalitionsprojekt in der Warteschleife

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