Die Welt - 05.11.2019

(Brent) #1

S


elten waren die Spannungen
zwischen den USA und der
Türkei so intensiv wie in
diesen Wochen, seit die Tür-
kei die mit Amerika verbün-
deten Kurden in Nordsyrien angegriffen
hat und dabei auch US-Soldaten unter
Beschuss gerieten. Die jüngste Krise,
aber auch die Annäherung Ankaras an
Russland, weckt Zweifel, ob das Nato-
Land am Bosporus tatsächlich noch ein
verlässlicher Partner des Westens ist. Si-
cherheitsexperten diskutieren deshalb
mit zunehmender Dringlichkeit eine
zentrale Frage: Sind die Atomwaffen, die
die Amerikaner in der Türkei stationiert
haben, überhaupt noch sicher?

VON CLEMENS WERGIN

Das ist eine Diskussion, die seit dem
Militärputsch in der Türkei von 2016 an
Fahrt aufgenommen hat und die nun neu
aufflammt. Auch die Trump-Regierung
scheint zunehmend beunruhigt zu sein
über die Sicherheit der vermuteten 50
Atomsprengköpfe, die auf der türkischen
Luftwaffenbasis Incirlik gelagert wer-
den. Wie die „New York Times“ berich-
tet, haben Beamte des Energieministeri-
ums (das für Nuklearsicherheit zustän-
dig ist) und des US-Außenministeriums
angesichts der jüngsten Krise Pläne für
einen Abzug der Atomwaffen überprüft.
Ein mit der Materie befasster US-Of-
fizieller sagte laut „Times“, dass „diese
Waffen nun im Grunde Geiseln Erdo-
gans“ seien. Sie aus Incirlik auszuflie-
gen, „würde de facto das Ende der tür-
kisch-amerikanischen Allianz bedeuten.
Sie aber dort zu lassen würde heißen, ei-
ne nukleare Verwundbarkeit zu verlän-
gern, die schon vor Jahren hätte been-
det werden müssen“.
Schon der Putsch in der Türkei im Jahr
2 016 hatte Atomwaffenexperten sehr
beunruhigt, schließlich schien der türki-
sche Kommandeur von Incirlik beteiligt
zu sein am Coup, und Kampfflugzeuge,
die das Parlament und andere Regie-
rungsinstitutionen bombardierten, sollen
von einem in Incirlik gestarteten Flug-
zeug in der Luft betankt worden sein. Das
türkische Militär hatte deshalb am Tag
des Putsches die Stromversorgung von
Incirlik gekappt und den Luftraum um
die Basis gesperrt. „Das hat damals einige
unangenehme Gedanken aufkommen las-
sen“, schriebAtomwaffenexperte Jeffrey
Lewis 2016. „Erscheint es wirklich als gu-
te Idee, amerikanische Atomwaffen auf
einer Luftwaffenbasis zu stationieren, die
von jemandem befehligt wird, der gerade
mithalf, das Parlament seines eigenen
Landes zu bombardieren?“
Lewis und andere Experten plädierten
damals für einen Abzug der Waffen. „Es
wäre eine gute Idee gewesen, das 2016 zu
machen“, sagt Lewis nun angesichts der
jüngsten Spannungen im Gespräch mit
WELT. „Es ist heute jedoch offensicht-
lich ein sehr viel schwierigeres Unterfan-
gen.“ Lewis ist Professor am Middlebury
Institute of International Studies im ka-
lifornischen Monterey. Vor drei Jahren
war er besorgt, dass türkische Putschis-
ten versuchen könnten, die Atomwaffen
in ihre Hände zu bekommen. Angesichts
der jüngsten türkisch-amerikanischen
Krise hat er nun andere Sorgen, schließ-
lich haben türkische Kräfte bei der Inva-
sion in Nordsyrien amerikanische Solda-
ten beschossen.
„Was würde passieren, wenn die türki-
sche Regierung unter Erdogan die Waf-

fen beschlagnahmen würde?“, fragt er
nun. Lewis hält die Wahrscheinlichkeit
dafür zwar für gering, aber immer noch
hoch genug, um einen Abzug der Waffen
zu fordern. „In der Welt der Nuklearwaf-
fen reden wir über sehr kleine Risiken,
die, wenn sie eintreten, aber enorme
Konsequenzen haben.“ Natürlich sind
die Kernwaffen in Incirlik mit Sicher-
heitsmaßnahmen geschützt. „Es gibt
Zäune und Tore und Wachleute, und die
Atomsprengköpfe werden in Kammern
aufbewahrt, die in den Boden von Flug-
zeugbunkern eingelassen sind. Die Waf-
fen sind auch mit Schlössern gesichert,
deren Codes man knacken muss, um sie
scharf zu machen“, berichtet Lewis.
Doch keine dieser Sicherheitsmaß-
nahmen seien darauf ausgerichtet,
staatlichen Akteuren zu widerstehen,
die sich Zugang verschaffen wollen.
„Sogar die mit Codes geschützten
Schlösser sind nur darauf ausgelegt, den
Zugang zur Waffe zu verzögern“, sagt
Lewis. Deshalb ist der Niedergang der
türkisch-amerikanischen Beziehungen
so bedenklich. „Wenn die Beziehung

sich in diese Richtung weiterentwickelt
und wir aufhören, Verbündete zu sein,
dann befinden wir uns in einer Situati-
on, die sich niemand vorgestellt hat, der
die Sicherheitsmaßnahmen entworfen
hat, nämlich dass die US-Nuklearwaffen
in einem unfreundlich gesinnten Land
aufbewahrt würden.“
Die Nato-Partner beobachten jeden-
falls seit Jahren mit Besorgnis, dass die
Türkei sich immer weiter vom Westen
entfernt. „Der Bogen ihres Verhaltens
über die vergangenen Jahre hinweg war
furchtbar“, sagte etwa US-Verteidi-
gungsminister Mark Esper kürzlich.
„Ich meine, dass sie sich herausbewe-
gen aus dem westlichen Orbit.“
Eine weitere Sorge, die Experten um-
treibt: Die Türkei ist zum Tummelplatz
fffür islamistische Extremisten geworden.ür islamistische Extremisten geworden.
Terrorgruppen könnten versuchen, ei-
nen Angriff auf Incirlik zu starten, um an
die Bomben zu kommen. Lewis ist jeden-
fffalls beunruhigt vom allgemeinen Nie-alls beunruhigt vom allgemeinen Nie-
dergang der amerikanischen Sicherheits-
kultur im Umgang mit Atomwaffen. Ein
Beispiel seien etwa die Friedensaktivis-

ten in Belgien, die sich vor einiger Zeit
Zugang zu einem Atomhangar verschafft
hätten, weil jemand einfach die Tür of-
fffen stehen ließ. „Wir haben immer wie-en stehen ließ. „Wir haben immer wie-
der gesehen, dass das Personal, welches
die Waffen bewacht, oft Sicherheitspro-
tokolle missachtet“, sagt Lewis. Und das
sei in einem Gefahrenumfeld wie in der
Türkei gravierender als anderswo. „Es
reicht, dass eine Terrorgruppe einmal
versucht, an die Waffen zu kommen,
wenn die Sicherheit nicht gewährleistet
ist, dann werden sie erfolgreich sein.“
In einem jüngsten Artikelschlägt
auch Hans Kristensen, Nuklearwaffen-
experte der Federation of American
Scientists, Alarm. Er schreibt, die Frage
werde noch akuter dadurch, dass die
derzeit in der Türkei lagernden Atom-
waffen vom Typ B61 in den kommen-
den Jahren durch modernere Lenkflug-
körper vom Typ B61-12 ersetzt werden
sollen. Das käme einer Neuverpflich-
tung der USA gleich, weiterhin Kern-
waffen in der Türkei zu lagern. 60 Jah-
re nach dem Beginn der Stationierung
von Nuklearwaffen im Land sei es aber

nun „an der Zeit, sie nach Hause zu
bringen“, so Kristiansen.
Offiziell gibt die US-Regierung sich zu-
geknöpft bei dem Thema. Das schürte
schon in der Vergangenheit Gerüchte. Et-
wa jenes, die Waffen seien nach 2016 weg-
geschafft worden und befänden sich in-
zzzwischen in Rumänien. Doch das ist of-wischen in Rumänien. Doch das ist of-
fffenbar nicht der Fall, wie die von der „Ti-enbar nicht der Fall, wie die von der „Ti-
mes“ berichteten Planspiele für einen Ab-
zug zeigen. Auch auf der Webseite des in
Incirlik stationierten „39th Operations
Support Squadron“ finden sich Hinweise
aaauf den Verbleib der Nuklearwaffen amuf den Verbleib der Nuklearwaffen am
Standort. Dort ist die Rede davon, das Ge-
schwader unterstütze die von Incirlik aus
operierenden türkischen, amerikanischen
und verbündeten Kräfte „im umfassenden
Spektrum von Luftoperationen und bei
Operationen nuklearer Abschreckung“.
Kritiker wie Lewis sagen, Incirlik sei
der am schlechtesten gesicherte Nukle-
arstandort der Amerikaner weltweit.
Doch was für ein Signal würde ein Ab-
zug gerade jetzt setzen? „Weil die USA
so lange gewartet haben mit dem Ab-
zug, hat man sich selbst in eine Ecke ge-

drängt, in der die Wahl zwischen Nukle-
arsicherheit einerseits und einem Im-
Stich-Lassen der Türkei andererseits
unnötig zugespitzt und dringlich ge-
worden ist“, schreibt Kristensen.
Andere Experten warnen deshalb vor
voreiligen Aktionen. Bruno Tertrais,
stellvertretender Direktor der Fondati-
on pour la recherche stratégique in Pa-
ris und Berater der Regierung, ist skep-
tisch, ob es wirklich so dringlich ist, die
Atomwaffen zu verlegen. Entsprechen-
de Schreckensszenarien gingen von der
Annahme aus, dass die Türken oder eine
andere fremde Macht die Waffen an
sich reißen könnten, ohne das Feuer auf
amerikanische Truppen zu eröffnen,
weil das eine Kriegserklärung gegen die
USA wäre, meint Tertrais.
„Selbst im außergewöhnlichen Fall,
dass es dazu kommt, ist die Wahr-
scheinlichkeit extrem gering, dass An-
kara sich die Waffen zunutze machen
könnte oder die darin enthaltenen Ma-
terialien extrahieren könnte“, erklärt
Tertrais in einer E-Mail an WELT.
Schließlich würde das Zeit kosten und
die Amerikaner würden dem nicht ein-
fach zusehen. Tertrais warnt hingegen
vor den politischen und strategischen
Folgen einer Verlegung.
„Ein unilateraler Abzug wäre ein ne-
gatives Signal an die Türkei, das die Be-
ziehungen der Nato zu dem Land weiter
verschlechtern würde.“ Das könnte als
ein Zeichen empfunden werden, dass
Amerika die Türkei aufgibt und der Tür-
kei als Vorwand dienen, sich aus der Na-
to und dem Atomwaffensperrvertrag
zurückzuziehen. „Das wäre ein total
kontraproduktives Szenario“, glaubt
Tertrais. Er hält es für „außerordentlich
unwahrscheinlich“, dass die Türkei in
solch einem Falle ein Staat bleiben wür-
de, der auf die Entwicklung eigener
Atomwaffen verzichtet.
Tertrais warnt auch davor, dass solch
eine Entscheidung eine neue Debatte
über amerikanische Atomwaffen in ein-
zelnen europäischen Ländern auslösen
könnte, etwa in Deutschland, Belgien,
Italien und Großbritannien. Ein Abzug
aus der Türkei könne dazu führen, das
Konzept der nuklearen Teilhabe insge-
samt infrage zu stellen, unter anderem
wegen des anhaltenden Unbehagens in
der Bevölkerung über die Stationierung
von US-Atomwaffen in ihrem Land.
Dazu kommt, dass die aus der Türkei
abgezogenen Waffen, etwa ein Drittel
der insgesamt in Europa stationierten
US-Atombomben, anderswo auf dem
Kontinent deponiert werden müssten,
wenn man die Abschreckungswirkung
erhalten will. Laut Lewis kämen aus Si-
cherheitsgründen vor allem die Standor-
te Lakenheath in Großbritannien und
Ramstein in Rheinland-Pfalz in Betracht.
In Deutschland wäre das aber derzeit po-
litisch wohl kaum durchsetzbar.
AAAuch die US-Luftwaffenbasis im nord-uch die US-Luftwaffenbasis im nord-
italienischen Aviano sei ausreichend gesi-
chert, verfüge aber nicht über genügend
Platz, um alle Bomben aus der Türkei auf-
zunehmen. Solch einer Stationierung zu-
zustimmen sei aber für viele europäische
Regierungen keine Selbstverständlich-
keit, wie Tertrais anmerkt. Die Amerika-
ner haben also im Grunde nur schlechte
Optionen. Entweder nicht optimal gesi-
cherte Atomwaffen in der Türkei zu be-
lassen und das Risiko zu akzeptieren, das
damit verbunden ist. Oder sie abzuziehen
und damit unkalkulierbare politisch-stra-
tegische Folgewirkungen auszulösen.

„NATO-Area“

Luftwaffenstützpunkt Incirlik

Quelle: Federation of American Scientists,
Satellitenbild: Maxar Technologies/
Google Earth ����

In den �� Flugzeughangars lagern
Atombomben der US-Streitkräfte
in Unterflurmagazinen

Atomwaffen-
Wartungseinheit

��� m

TÜRKEITÜRKEITÜRKEITÜRKEITÜRKEITÜRKEI

IncirlikIncirlikIncirlikIncirlikIncirlikIncirlik

Amerikas


GEFÄHRLICHSTE


AAAtomwaffentomwaffen


Auf der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik lagern


Nuklearsprengköpfe – die am schlechtesten


gesicherten der USA weltweit


6



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6 POLITIK DIE WELT DIENSTAG,5.NOVEMBER


will. Das wurde auch beim Besuch von
Maas wieder deutlich: Szijjártó sprach vor
der Presse vor allem über Verteidigungs-
und Migrationspolitik, Maas sprach von
Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit der
Justiz, von Meinungs- und Pressefreiheit.
Die Minister redeten in den wichtigen
Fragen aneinander vorbei.
Budapest hofft seit der Wahl von der
Leyens zur EU-Kommissionspräsiden-
tin – die ohne die osteuropäischen
Stimmen nicht möglich gewesen wäre –
auf Nachsicht, wenn es um Rechtsstaat-
lichkeit geht. Unter Ministerpräsident
Orbán nutzte Budapest seine Zweidrit-
telmehrheit im Parlament seit 2010, um
die Opposition, Medien, Nichtregie-
rungsorganisationen, wissenschaftliche
Einrichtungen sowie die Justiz einzu-
schränken und zu kontrollieren. Gegen
Ungarn läuft daher ein Rechtsstaatlich-
keitsverfahren nach Artikel 7 der EU-
Verträge, das schärfste Mittel gegen ein
EU-Mitgliedsland. Auch gegen Polen ist
ein solches Verfahren eingeleitet.
Nun setzen die Visegrád-Staaten –
Polen, Tschechien, Slowakei und Un-
garn – darauf, dass sich von der Leyen
besinnt, wer ihr ins Amt geholfen hat.
Sie erhoffen sich eine Gegenleistung.
Von der Leyen hat bereits signalisiert,

B


undesaußenminister Heiko Maas
(SPD) und sein ungarischer Kol-
lege Péter Szijjártó bekräftigten
erst einmal guten Willen. Als sie am
Montag in Budapest gemeinsam vor die
Presse traten, sagte Szijjártó, strittige
Fragen hätten bei seinem Gespräch mit
Maas viel weniger Raum eingenommen
als jene, bei denen beide Länder die
gleichen Standpunkte verträten. Maas
begann seine Rede mit Lob für Ungarn.
Ohne deren Mut „wäre die deutsche
Wiedervereinigung nicht möglich gewe-
sen“, sagte der Minister. Beide hoben
die ungarisch-deutschen Handelsbezie-
hungen hervor.

VON CAROLINA DRÜTEN
AUS BUDAPEST

Es ist das Lied, das Deutschland und
die osteuropäischen Staaten seit der
WWWahl von Ursula von der Leyen zur EU-ahl von Ursula von der Leyen zur EU-
Kommissionschefin anstimmen. Der
Streit muss ein Ende haben, ein Neuan-
fffang sei nötig. Auch beim Besuch vonang sei nötig. Auch beim Besuch von
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
bei ihrem ungarischen Kollegen Viktor
Orbán vor wenigen Wochen war das die
Grundmelodie. Aber völlig unklar bleibt,
wie man in Sachfragen zueinanderfinden

die Gräben überwinden und den osteu-
ropäischen Ländern mit mehr Respekt
begegnen zu wollen. Auch Merkel hielt
sich mit Kritik zurück, als sie Orbán im
August traf. Sie stimmte ihrer Partei-
freundin von der Leyen zu, dass in Eu-
ropa bessere Beziehungen untereinan-
der nötig seien. Sie lobte die ungarische
Regierung sogar für den Einsatz von
EU-Fördermitteln: Man sehe, „dass Un-
garn dieses Geld wirklich so einsetzt,
dass es auch dem Wohle der Menschen
zugutekommt“. Die Vorwürfe, Orbáns
Regierung habe EU-Gelder veruntreut,
erwähnte sie nicht.
Die SPD kann kompromissloser auf-
treten, sie ist den Osteuropäern nichts
schuldig. Diese hatten vielmehr den so-
zialdemokratischen Kandidaten Frans
Timmermans als EU-Kommissionschef
verhindert, weil der ihnen in Sachen
Rechtsstaat zu radikal vorgegangen war.
Maas bekräftigte die scharfe Linie der
Sozialdemokraten am Montag – immer-
hin diesmal, ohne dem Koalitionspart-
ner CDU in den Rücken zu fallen, wie er
es zuletzt in Ankara getan hatte. Da hat-
te er öffentlich bei einem Treffen mit
seinem türkischen Kollegen den Syrien-
Vorstoß von Parteichefin Annegret
Kramp-Karrenbauer torpediert.

In einem Interview, das das ungari-
sche Wochenmagazin „HVG“ am Mon-
tag veröffentlichte, stärkte Maas der
Kanzlerin den Rücken. Auf die Frage, ob
er wie Merkel zufrieden sei, wie Ungarn
die europäischen Gelder einsetze, sagte
Maas: „Es ist nicht unsere Aufgabe, zu
loben oder zu tadeln – und so habe ich
die Kanzlerin auch nicht verstanden.“
Die Menschen in Ungarn sowie die Wirt-
schaft hätten aber enorm profitiert. Zu
den Korruptionsvorwürfen gegen die Fi-
desz-Regierung schwieg aber auch Maas.

EU-Fördermittel sind derzeit ein heik-
les Thema. Brüssel plant, die Gelder für
Mitgliedstaaten zu kürzen, wenn sie sich
nicht an rechtsstaatliche Standards hal-
ten. Von der Leyen hat signalisiert, offen
fffür diesen Vorschlag zu sein. Zugleichür diesen Vorschlag zu sein. Zugleich
aaaber plant sie einen neuen „Rechtsstaats-ber plant sie einen neuen „Rechtsstaats-
mechanismus“, nach dem sich jedes Land
einmal im Jahr einer objektiven Überprü-

echanismus“, nach dem sich jedes Land
inmal im Jahr einer objektiven Überprü-

echanismus“, nach dem sich jedes Land

fffung unterziehen muss. Maas bekräftigteung unterziehen muss. Maas bekräftigte
diesen Vorschlag am Montag. Die Mit-
gliedstaaten müssten ein gemeinsames
VVVerständnis von Rechtsstaatlichkeit ent-erständnis von Rechtsstaatlichkeit ent-
wickeln. Gleiches Recht für alle, soll die
Botschaft an die osteuropäischen Staaten
sein. Schluss mit dem Pranger.
Bei den Osteuropäern kommen diese
Pläne nicht gut an, schon gar nicht in
Ungarn, versucht doch die Fidesz-Re-
gierung, mehr Kontrolle über EU-Gel-
der zu erlangen. Im Juli etwa trat ein
Gesetz in Kraft, das der Regierung die
Hoheit über die Forschungsinstitute
der ungarischen Akademie der Wissen-
schaften überträgt. Offiziell soll da-
durch die Forschung innovativer wer-
den. Doch Kritiker fürchten um die aka-
demische Freiheit, denn die Institute
sind durch diese Änderung politisch
und finanziell abhängig. „Die Regierung
hat so weitgehende Kontrolle darüber,

wie EU-Forschungsgelder eingesetzt
werden“, sagt Milan Nic von der Deut-
schen Gesellschaft für Auswärtige Poli-
tik. „Der große Profiteur ist am Ende
Orbáns Fidesz-Partei.“ Kritische For-
schungsvorhaben würden nach dem
neuen Gesetz kaum eine Chance auf
Förderung haben.
Ein zweites Problem für die EU ist die
Blockadehaltung einiger osteuropäischer
Staaten. Die EU-Länder müssen gemein-
same außenpolitische Erklärungen ein-
stimmig beschließen. Seit Jahren torpe-
diert Orbán zentrale Entscheidungen von
EU und Nato. Im Oktober etwa verhin-
derte er im Alleingang eine Resolution,
die den Nordsyrien-Einmarsch der Tür-
kei kritisierte – Außenminister Szijjártó
betonte damals, es sei Ungarns nationales
Interesse, dass die Türkei die Migrations-
fffrage in Richtung Syrien löse und nicht inrage in Richtung Syrien löse und nicht in
Richtung Europa. Dies ließ Maas bei sei-
nem Treffen mit Szijjártó nicht unkom-
mentiert. Die Einheit der EU sei „von
üüüberragender Bedeutung, um in China,berragender Bedeutung, um in China,
den USA und der Türkei ernst genommen
zu werden“. Es sei wichtig, in der EU mit
einer Stimme zu sprechen – ein Seiten-
hieb gegen Budapest. Auch hier wurde
deutlich: In den zentralen Sachfragen
sind die Gräben so tief wie zuvor.

Die Illusion vom Neuanfang mit Osteuropa


Heiko Maas wirbt in Budapest für eine Überwindung der West-Ost-Spaltung. Aber in den wichtigen Kernfragen reden Deutschland und Ungarn aneinander vorbei


Außenminister Heiko Maas (l.) mit
seinem Amtskollegen Peter Szijjarto

DPA

/ZOLTAN MATHE

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