Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

Freitag, 1. November 2019 MEINUNG & DEBATTE


Scharfe Kritik ander CDU-VorsitzendenKramp-Karrenbauer


Auf Merkel folgt der grosse Umbruch


Es war ein genialer Plan: Erst trat Angela Merkel
als CDU-Vorsitzende zurück,umihreKanzlerschaft
zuretten.Dann sorgte sie für dieWahl einer ihr ge-
nehmen Nachfolgerin, die ihr Erbe bewahren sollte.
Doch was vor einemJahrnochalsraffinierter Schach-
zug galt, ist spätestens mit derWahl inThüringen
Makulatur.Am Sonntag landete die CDU mit kläg-
lichen 22 Prozent hinter der Linkspartei und der AfD
nur nochauf Platz drei.Das Resultat verändert auch
die Machtverhältnisse in der CDU.Fortan gibt es
eine Zeitrechnung vorThüringen und eine danach.
Die glückloseVorsitzende Annegret Kramp-Karren-
bauer muss jetzt um ihrParteiamt kämpfen. Hiess es
bisher in der CDU,Kramp-Karrenbauer sei kaum
mehr als Kanzlerkandidatin vorstellbar,steht nun
überdies ihrPosten alsVorsitzende zur Disposition.
Der personelle Pfeiler,auf dem Merkels Erberuhte,
wankt. Kramp-Karrenbauerkönnte eineVorsitzende
des Übergangs sein, diekeine Spuren hinterlässt.
MerkelsRückzug vomParteivorsitz sollteKon-
tinuität imWandel symbolisieren. Wie verunsichert


und richtungslos ihrePartei aber ist, zeigt die Debatte
um eine Unterstützung der nächstenRegierung von
Thüringens Ministerpräsident BodoRamelow. Dass
die Linkspartei und die AfD deutlich zulegen wür-
den, war schon vor derWahl offensichtlich. Dennoch
diskutiert die CDU nun über dieKonsequenzen wie
ein aufgeschreckter Hühnerhof.EineKoalition mit
Honeckers Erben wäre für die CDU eine Zäsur. Das
hätte Kramp-Karrenbauer voraussehenkönnen.Sie
hätte sich sofort und unmissverständlich positionie-
ren und die Bundespartei auf ihre Linie bringen müs-
sen– auch auf die Gefahr hin, dass der betroffene
Landesverband einen anderenKurs einschlägt.Alles
andere ist fortgesetzteFührungsschwäche.
Das politischeFundament von Merkels Erbe zeigt
Risse. InThüringen haben CDU und SPD zusammen
ein knappes Drittel der Stimmen errungen. Sie be-
stimmen also nicht mehr, was Mitte ist. Ihr Anspruch,
die ganze Gesellschaft zurepräsentieren, ist obsolet
geworden. Die Idee derVolkspartei ist einWider-
spruch in sich, aber über vieleJahre ein äusserst er-
folgreicher. Dieses Gravitationszentrum ist implo-
diert, und niemand sollte davon ausgehen, dass es
sich je wieder zusammenfügt.
Was in Ostdeutschland dramatischeFormen an-
nimmt,geschieht imWesten in gemilderterForm.
Die einst so stabileParteienlandschaft zersplittert.
Union und Grüne sind zwar bundesweit jeweils noch

für mehr als20 Prozent gut, dahinter ist aber einFeld
vonParteien entstanden, die zwischen 5 und 15 Pro-
zent erwarten dürfen.DaAfD, SPD, Linkspartei und
FDP nicht zusammenarbeiten, haben sienur negative
Macht: Siekönnen verhindern, aber nicht gestalten.
Die Gesellschaft ist heterogener geworden. Die
traditionellen kirchlichen und gewerkschaftlichen
Milieus haben sich weitgehend aufgelöst. Mit die-
serFragmentierungverlieren auch die Parteien an
Bindekraft. DerWandel vollzieht sich schon lange,
dieWiedervereinigung hat diesenTr end nochmals
verstärkt.Dafür kann die CDU nichts, und auch
die Kanzlerin ist schuldlos. Dennochdürfteman im
Rückblick MerkelsJahre im Kanzleramt als Brand-
beschleuniger für diesenWandel betrachten. Indem
Merkel zielstrebig die Unterschiede zwischen Union
und Sozialdemokratie einebnete, machte sie diePar-
teien austauschbar. Marken, die sich vonderKon-
kurrenz nicht unterscheiden, bewirkenkeine posi-
tive Identifikation. No-Name-Produkte kauft man
nur, weil sie billig sind. Und wer billig ist, wirdirgend-
wann verramscht.
Die SPD ist als Erste auf demWühltisch gelan-
det. Bei denLandtagswahlen inBayern, Sachsen
undThüringen erzielte sie weniger als 10 Prozent.
InBaden-Württemberg liegt sie in Umfragen eben-
falls unter dieser Marke.Der Süden und der Süd-
osten der Bundesrepublikscheinen für die Sozial-

demokratie weitgehendverloren zu sein. Die CDU
stemmt sich gegen denAusverkauf beim Ein-Euro-
Discounter. Ihr Machtinstinkt ist intakt, aber Mer-
kels zähflüssiges Nachfolge-Arrangement verhindert
einen glaubwürdigen Neuanfang. Die Erosion wird
sich daher fortsetzen, allenfalls dieWahl eines über-
zeugenden Kanzlerkandidatenkönnte sie stoppen.
Jelänger der Neuanfang auf sich warten lässt,
umso höher ist der Preis für die Union. Merkel
konnte 20 01 noch ihrem Rivalen Edmund Stoiber
beimFrühstück inWolfratshausen die Kanzlerkandi-
datur überlassen und dann halbwegs gelassen ab-
warten. Sichert sich dieVerteidigungsministerin hin-
gegen nicht dieKanzlerkandidatur, ist sie politisch
erledigt.
Und Merkel? Siewollte es wirklich besser machen
als der letzte CDU-Kanzler. Kohl konnte nicht einse-
hen, dass seine Zeit abgelaufen war, und erriss seinen
einzigen denkbaren NachfolgerWolfgang Schäuble
mit in den Untergang. Merkel versuchte hingegen, ihr
Erberechtzeitig zu ordnen, eine Nachfolgerin aufzu-
bauen und die Machtkontrolliert abzugeben.Das ist
in derPolitikkein kleinesVerdienst. Doch dieKon-
trolle ist Merkel längstentglitten. Am Schluss steht
sie genauso mit leeren Händen da wieKohl. Ihre
Regierungszeit war eine Phase der bis zum Stillstand
potenzierten Stabilität, auf die nun der grosse Um-
bruch folgt.Was für eine Hinterlassenschaft.

Überwachungssoftware kanndieDemokratie gefährden


Die verlorene Unschuld der Tech-Welt


DieTextnachricht klang dramatisch:«Herr Simon,
IhreTochter hatte einen schweren Unfall. Ich hoffe,
Siekönnenkommen. Hier sind die Angaben, wo sie
im Spital liegt...(es folgt ein Link).» Hätte Simon
Barquera den Link angeklickt, wäre er Opfer einer
Überwachungssoftware geworden, mit deren Hilfe
die Absender derTextnachricht Zugriff auf sein
Smartphone mit allenKontakten, sämtlichen Nach-
richten und denAufenthaltsorten erhalten hätten.
Auch Kamera und Mikrofon hätten aus derFerne
kontrolliert werdenkönnen.Barquera istkein Terro-
rist oder Krimineller, sondern ein mexikanischerWis-
senschafter, der sich füreine Zuckersteuer ausspricht.
DieVermutung liegtnahe,dass er aus Geschäfts-
interessen ausspioniert wurde. DerVorfall deutet
darauf hin, dass ausgeklügelte Überwachungstech-
nologien von staatlichen Stellen ohne weitereKon-
trolle missbraucht werdenkönnen. DieseTextnach-
richt, dieRonald Deibert vor kurzem an einerVer-
anstaltung der ProgressFoundation in Zürich nannte,


ist eines der Beispiele, wie Bürger ausgehorcht wer-
den. DerWissenschafter leitetdieForschungsstelle
CitizenLab an der Universität vonToronto.
Die Dimensionen solcher Attacken werden lang-
sam bekannt: DieseWoche klagte derTechnologie-
konzernFacebook, zu dem auchWhatsapp gehört,
gegen die israelischeFirma NSO, die Spionagesoft-
ware anbietet.Facebook stoppte im Mai Hacker, die
sich Lücken imVideoanruf-System vonWhatsapp
zunutze gemacht machten.Laut CitizenLab befin-
den sich unter den betroffenenPersonen rund 100
Journalisten und Menschenrechtsaktivisten in mehr
als 20Ländern.NSOgibt an, die Überwachungssoft-
ware nur an staatliche Stellen zu verkaufen. Zu den
Kunden zählen unter anderem dieRegierungen von
Bahrain, Kasachstan, Mexiko, Rwanda, Saudiarabien
und denVereinigten ArabischenEmiraten.Auch im
Fall des MexikanersBarquera fand die Software von
NSOVerwendung.
Durchdie breiteVerwendungkommerziell ver-
triebener Spionagesoftware sehen manche die
Demokratie in Gefahr, weil missliebige politische
Gegner oder Menschenrechtsaktivisten elektronisch
drangsaliert werdenkönnen. Zudem werden inLän-
dern mit einem schwachenRechtsstaatTür undTo r
fürkorrupte Staatsangestellte geöffnet. Mithilfe von
Softwareunternehmenkönnen sich auch kleinere

oder ärmereLänder eine «massgeschneiderte NSA»
leisten. In den USA ist die Sicherheitsbehörde NSA
für die weltweite Überwachung, Entzifferung und
Auswertung elektronischerKommunikation zustän-
dig. Ob eine solche «Demokratisierung» der Sicher-
heitswelt für ebenbürtigeVoraussetzungen sorgt und
wünschenswert ist, bleibt fraglich.
Das Ausspionieren von staatlicher Seite muss
nicht per se die Demokratie gefährden. Mit demAuf-
kommen vonTechnologien zur verschlüsseltenKom-
munikation istes auch für Behörden schwieriger ge-
worden,Terroristen und Kriminelle zu überwachen.
Hier kann es einen legitimen Grund geben, solche
Hacker-Software zu verwenden – solange dies nach
rechtsstaatlichen Grundsätzen verläuft. Die Gefah-
ren des Missbrauchs sindjedochoffenkundig. In man-
chenLändern ist vorgesehen, dass der Export sol-
cher Software genehmigt werden muss. DieseRege-
lungen gelten als zahnlos, zumal eineenge Kontrolle
weltweit als zweifelhaft erscheint. Umso mehr sind
«Wachhunde» wie CitizenLab notwendig. Zudem
werden wohl die Investitionen in die Cybersicher-
heit zunehmen, was jedoch meist in einemWettrüs-
ten endet. EineFolge dürfte auch sein,dass das Miss-
trauen gegenüber der Nutzung digitalerKommuni-
kationswege zunimmt. Die schöne neueTech-Welt
hat bereits vor geraumer Zeit ihre Unschuld verloren.

Keine Besserungfür Hongkongs taumelnde Wirtschaft in Sicht


Tappt Peking in die Hongkong-Falle?


In vielen HongkongerFamilien wird es wegen der
sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation
zwischenJung und Alt heiss hergehen. Der Nach-
wuchs pocht darauf, für Demokratie undFreiheit not-
falls bis zumÄussersten zu kämpfen, während die
Eltern aus guten Gründen ihrenWohlstand in Ge-
fahr sehen. Hongkong befindet sich in einer schweren
wirtschaftlichen Krise. Die einstige britischeKolo-
nie leidet unterdem amerikanisch-chinesischen Han-
delskonflikt, dem sich eintrübendenWelthandel und
den Demonstrationen. Und Besserungist nicht in
Sicht. DieProteste haben sich im Oktober weiter ver-
schärft und sind nochgewalttätiger geworden. Es ist
eineFrage der Zeit, bis der Arbeitsmarkt dieFolgen
zu spüren bekommt und sich die Krise in denPorte-
monnaies bemerkbar macht.
Gut schlägt sich dagegen noch derFinanzplatz
Hongkong.VonBankern ist zu hören, dass sich die
Kapitalflüsse in normalenBahnen bewegen. Es gibt
keine Bestätigung für dieThese, dass Singapur von


den Unruhen in der einstigen britischenKolonie pro-
fitiert hat – zumindest bisher nicht. Es dürften sich
zwar Anleger überlegen, ob sie Gelder nach Südost-
asien verlagern sollen. Noch ist der Zeitpunkt dafür
nicht gekommen. DerVertreter einesFinanzinstituts
sagte,Abflüsse in grossemAusmass werde es erst ge-
ben,wennPeking dieVolksbefreiungsarmee nach
Hongkong schicke, um die Situation in den Griff zu
bekommen.Dann dürften die Investoren ihrVer-
trauen in den Standort verlieren. Noch ist es jedoch
nicht so weit.
ChinasPartei- und Staatschef Xi Jinping hatte sich
bei seiner kurzen Ansprache auf demTiananmen an-
lässlich des 70. Geburtstages derVolksrepublik noch-
mals klar zum Prinzip «einLand, zweiSysteme» be-
kannt, durch das Hongkong weitgehende,aberkeine
vollständigeAutonomie gewährt wird. Es dürfte sich
um mehrals umeinreines Lippenbekenntnis Xis ge-
handelt haben, dennPeking hat grosses Interesse an
einem intaktenWirtschaftsstandort Hongkong. Für
chinesischeFirmen bietet die einstige britischeKolo-
nie dasTor zu den internationalenFinanzmärkten.
Selbst wennPeking die Öffnung desFinanzsektors
auf demFestland wie versprochen weiter vorantreibt,
werden Standorte wieSchanghai oder Shenzhen
noch lange brauchen, bis sie Hongkong dieseFunk-
tion streitig machen. In der einstigen britischenKolo-

niekönnen die Investoren auf ein funktionierendes,
intaktes und unabhängigesRechtssystem setzen.Da-
von ist das chinesischeFestland noch weit entfernt.
Hongkong wird trotz den Standortvorteilen für
Peking dennoch zu einer immer grösseren Gefahr.
Was passiert, wenn es bei den Demonstrationen
Tote geben sollte?Geriete die Situation dann voll-
kommen ausserKontrolle,und würden sich die chi-
nesischen Machthaber doch zu einem militärischen
Eingreifen genötigt sehen? DieKonsequenzen für
Peking wären verheerend. DerWesten würde sich
von China abwenden und dasLand mit Sanktio-
nenbelegen.DerwirtschaftlicheAufstieg desReichs
der Mitte wäre wegen der noch existierenden Ab-
hängigkeit von Know-how aus demAusland jäh ge-
stoppt. Und China wäre dann nicht länger in der
Lage, die bestehendeWeltordnung herauszufor-
dern. DieFrage bleibt, wer in solchen Szenarien
denkt und sich eine solche Eskalation wünscht. Sind
es die Demonstranten, die eigentlichkein Interesse
daran haben sollten, ihre eigene Zukunft aufs Spiel
zu setzen? Oderstecken hinter den Protesten aus-
ländische Kräfte, diePeking herausfordern? Die chi-
nesischen Machthaber sind gut beraten, ihre bis-
her besonneneHaltung beizubehalten und nicht in
die Hongkong-Falle zu tappen. Der Preis für diesen
Fehltritt wäre zu hoch.

Die chinesischen


Machthaber sind gut beraten,


ihre bisher besonnene


Haltung beizubehalten.


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WeitereThemen dieserWoche:
 Argentinien und der IMF
 Das Dilemma der Brexit-Partei
Das Briefing finden Sie unter: http://www.nzz.ch/globalrisk

MATTHIAS MÜLLER
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