Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

Freitag, 1. November 2019 WIRTSCHAFT 27


«Die organisierte Kriminalität versucht,

ihr Kapital unauffällig anzulegen»

Raffaele Cantone hat Mafia-Bosse hinter Gitter gebracht und Italiens Anti-Korruptions-Behörde geleitet. Im Gespräch


mit Dieter Bachmann erklärt er, wie sich die kriminellen Organisationen verändern und was sie mit ihrem Geld machen


Herr Cantone, Sie haben jahrelang
gegen die Mafia gekämpft.Bei demBe-
griff denkt man heute oft an Filme oder
Serien wie «Gomorrha».Wie nahe sind
diese Geschichten an derRealität?

Das Positive an diesenWerken ist sicher,
dasssie durchaus einenTeil derReali-
tät und eine Problematik zeigen, deren
sich viele Leute vielleicht nicht so be-
wusst sind. Aber es ist ebenkein voll-
ständiges Bild.


Was fehlt denn?
Es entsteht ein falscher Eindruck des
Alltags in Neapel. Oft fragen mich Leute
aus Norditalien oder demAusland, ob
ich mich hier überhaupt noch auf die


Strasse traue.Wenn sie dann die Stadt
einmal besuchen,sind sie positiv über-
rascht. Die Mafia hat sich stark gewan-
delt und ist imVergleich zu früher weni-
ger mächtig.


Weniger mächtig?Wirklich?
Absolut, wenn man die Situation etwa
mit jener Mitte der1990erJa hre ver-
gleicht.Damals hatte das organisierte
Verbrechen seineTerritorien stärker
im Griff. Heute sind die Mafiaorgani-
sationen unter Druck.Ja,sie wenden
zumTeil übermässig Gewalt an. Aber
vielleichtauch gerade deswegen, weil
sie ihre Gebiete nicht mehr so sehr
unterKontrolle haben. Letzteres zeigt
sich etwa an der geschrumpften An-
zahl gesuchter Mafia-Verbrecher, die
im Untergrund leben, der sogenannten
Latitanti.


Warum?
Wenn Mafia-Bosse aus demVersteck
weiter agierenkönnen, zeigt das ihre
Macht über dasTerritorium und die
Unterstützung durch die Bevölkerung.
Heute ist dieserKonsens viel schwächer,
und es gibt – ausser vielleicht Matteo


Messina Denaro –keine bedeutenden
Latitanten mehr.Aber die wirtschaft-
liche Macht, vor allem wegen des Dro-
genhandels, ist nach wie vor beachtlich.
Ein anderes Phänomen, das wir beob-
achten: Mafia-Organisationen werden
immer mehr zuBanden.

Was ist der Unterschied zwischen Ban-
den und der traditionellen Mafia?
DerAufstieg innerhalb der Camorra
folgte früher meist einer Art «Ämter-
laufbahn».Gerade in Neapel sehen
wir heute aber, dass die Kriminel-
lenrascher ausgetauscht werden. Ein
andererUnterschied zur traditionel-
len Mafia: Die Mitglieder sind oft sehr
jung, konsumieren im grossen Stil Dro-
gen und sind sehr gewalttätig. Das ist
zwar aus Sicht der öffentlichen Ord-
nung bedrohend, aber im grossen Gan-
zen gesehen ist dieseArtvon Organi-
sation weniger gefährlich als die frühe-
ren Strukturen.

Dann hat der Kampf gegen die Mafia
funktioniert?
Jasicher, aber sie ist deswegen noch
lange nicht ausgerottet. Nach der
repressiven Bekämpfung der Mafia
hätte man viel stärker auch die sozialen
Umstände verändern müssen, die das
Entstehen vonVerbrecherorganisatio-
nen begünstigen. Es gibt nach wie vor
Problemquartiere in der Provinz Nea-
pel, inPalermo und auch in Mailand,
wo die öffentlicheWohlfahrt nicht hin-
kommt.Dahilft die «kriminelleWohl-
fahrt». Das sorgt dafür, dass eskeinen
Aufschrei,keinesozialen Unruhen gibt
und man trotz der Armut schöneAutos
in den Strassen sieht.

Die Angstder Menschen ist sicher auch
ein Grund fürs Schweigen. Nicht alle
haben stetsBegleitschutz wie Sie.
Absolut, ich würde nie jemanden krimi-
nalisieren, der Angst hat. Angst ist ein
legitimes Gefühl. Man kann vom Nor-
malbürger nicht verlangen, den Helden
zu spielen. Als Einzelnerister wehrlos,
doch sobald sich zum Beispiel Unter-
nehmer in einer Gruppe organisieren, ist
es einfacher,Anzeige zu erstatten. Eine
Organisation ist weniger angreifbar.Was
ich kritisiere,ist das Desinteresse. Die
organisierte Kriminalität hat die Gesell-

schaft geteilt. In Betroffene und Nicht-
betroffene. Im Stil von:«Von mir hat die
Mafiakein Schutzgeld verlangt, darum
kümmereich mich auch nicht darum.»

Sie haben die Problemzonen in Mailand
erwähnt: Ein Unterschied zu früher ist
auch die stärkere geografischeAusbrei-
tung der Mafia, oder?
In Norditalien beschwert man sich,
dass viele Gelder in den Süden flies-
sen.Tatsächlich aber fliesst umgekehrt
viel schmutziges Geld aus dem Süden in
den Norden desLandes. Das hat mit den

attraktiveren Investitionsmöglichkeiten
zu tun, aber auch damit, dassdort die
Behörden weniger auf das Problem sen-
sibilisiert sind. Die wirtschaftliche Be-
deutung derReinvestitionvonMafia-
Geld zeigt zudem, warum die Bekämp-
fung der Geldwäscherei so wichtig ist.
Die organisierte Kriminalität versucht,
ihr Kapital unauffällig anzulegen – oft
ohne sichtbaren Schaden in der Gesell-
schaftanzurichten. Aber hier gibt es
noch einen anderen Aspekt, der meiner
Meinung nach zu kurzkommt.

Welchen?
Das Vorhandensein grosser Mengen
schmutziger Gelder führt dazu, dass
viele Akteure davon gutleben und sel-
ber in «normale» Aktivitäten investie-
ren können. Diesen Leuten gehtesje-
doch mehr um dasWaschen von Geldern
und gar nicht so sehr um eine effiziente
Geschäftsaktivität, die Gewinn abwirft.
Dazukommt, dass sie, anders als viele
ehrliche Unternehmer, nicht aufBank-
kredite angewiesen sind. Sie müssen nicht
jeder unbezahltenRechnungnachrennen.
Das sind allesKonkurrenzvorteile gegen-
über den ehrlichenTeilen derWirtschaft,
diekeine solchen Privilegien haben.

WelcheBedeutung hat die Schweiz als
Zielort von Mafia-Aktivitäten?
Ich gehe davon aus, dass auch die
Schweiz gegen solche Phänomene nicht

gefeit ist. Aber es ist schwierig,Ihre
Frage zu beantworten.Was sind die Kri-
terien, um Mafia-Organisationen zu er-
kennen?Wenn die Mafia irgendwo hin-
geht,aber nicht schiesst, nicht mit Dro-
gen handelt: Sprechen wir dann immer
noch von Mafia? Ich glaube ja, aber sie
ist viel schwieriger zu erkennen als in
Neapel, Casal di Principe oderPalermo.
In der Schweiz sieht man möglicher-
weise nur das Endprodukt, das Geld,
und dieses wird vielleicht gar nicht
illegal eingesetzt. Geld hinterlässt Spu-
ren, man muss sie nur finden wollen.

Wirddas Problem der Mafia-Organisa-
tionen in Europa ausserhalb von Italien
unterschätzt?
Ich glaubeja, aber wenigeralsauch
schon. Ich erinnere mich, dass es vor
nicht allzu langer Zeit schwierig war,
sich mitLändern wie Deutschland oder
Grossbritannien zumThema Mafia aus-
zutauschen. Heute kann niemand so tun,
als gäbe es das Phänomen nicht. Man
sollte sich nicht scheuen, in Anti-Mafia-
Strukturen zu investieren. Ich glaube
aber auch, dass wir den Drogenhandel
unterschätzen und ihn bis jetzt zu wenig
intensiv bekämpfen.

Was ist die Zukunft der Mafia-Organi-
sationen?
Ausländische Mafia-Organisationen
sind heute schon präsent in Europa und
werden an Gewicht gewinnen. Zum Bei-
spiel die nigerianische Mafia.Ich glaube,
ineiner flüchtigen Gesellschaft gibtes
auch eine flüchtige Mafia, die sich stän-
dig neu anpasst.

Nach Ihrer Zeit als Mafia-Jägerwaren
Sie bis im Sommer Chef der nationalen
Anti-Korruptions-Behörde. Unter dem
Motto «Baustellen deblockieren»wollte
die gescheiterte Regierung gestoppte
Projekte unbürokratisch vorantreiben
und dieWirtschaft ankurbeln. Sie haben
das Vorhaben kritisiert.
Das Gesetz bringt viel weniger, als der
Name verspricht. Zudem hat es die ge-
setzlichen Anforderungen gerade auch
bei kleinen Ausschreibungen herab-
gesetzt, in denen es bisher gar nicht zu
Blockaden gekommen ist. Eine Locke-
rung derRegeln birgt das Risiko von
Nepotismus, Begünstigung oder der
Auftragsvergabe an Mafia-Firmen.

Es ist wohl ein Abwägen zwischen
schlankerRegulierung und dem Risiko
von Unregelmässigkeiten.
Die wirtschaftliche Entwicklung wird
nicht durchRegeln behindert, sondern
durch schlechteRegeln.Was ist der
Schaden für dasLand, wenn nicht der
Mitbewerber mit dem bestenVerhältnis
von Preisund Leistung den Zuschlag
fürein Projekt bekommt? Ich meine:
Mit dem eigenen Geld kann jeder ma-
chen, was er will, aberdie öffentliche
Hand sollte das Geld möglichst sinn-
voll einsetzen.

«Geld hinterlässtSpuren, man muss sie nur findenwollen»,sagt der Mafia-Jäger Raffaele Cantone. TANIA / CONTRASTO / LAIF

Firmen hoffen auf öffentliche Investitionen


dba.·Als sich unlängstinCernob-
bio am Ambrosetti-Forum Vertreter
aus ItaliensWirtschaft undPolitik zum
jährlichen Stelldichein trafen, stand die
neueRegierungskoalition erst kurz vor
derVereidigung. Obwohl zu dem Zeit-
punkt noch nichts über die wirtschaft-
lichen Pläne von Cinque Stelle und dem
Partito Democratico bekannt war, war
doch die Erleichterung über die neuen
Kräfte amRuder bei vielenTeilneh-
mern spürbar.Was für ein Unterschied
zumVorjahr, als Lega-Chef Matteo Sal-
vini undFinanzminister GiovanniTr ia
bemüht waren, dieBanker und Unter-
nehmer nicht zu sehr zu verschrecken.
Der Hauptgrund für die bessere Stim-
mung an der diesjährigenVeranstaltung
war der versöhnlichereKurs gegenüber
Europa. «Italien war psychologisch ein
Jahr lang ausserhalb der EU»,sagte ein
ehemaliger Premierminister. «Wir muss-
ten uns vomTeufel befreien», meinte
einTeilnehmer mit Blick auf dieAus-
bremsung von Salvinidurch die Bildung
einer neuenRegierung ohne Gang an
die Urnen.
Eine Umfrage des Think-Tanks
Ambrosetti unter 350 Chefs von wich-
tigenFirmen und internationalenKon-
zerneninItalien zeigtdenn auch eine


leicht optimistischereEinschätzung der
Geschäftslage – aktuell und im Hinblick
auf daskommende Halbjahr.Etwas
schlechter schätzen die Manager die
Entwicklung der Beschäftigungssitua-
tion in den nächsten Monaten ein.
Ein wichtiger Tr eiber desWachs-
tumskönnten die öffentlichenInvesti-
tionen sein.Würde der Staat die Investi-
tionen auf das Niveau von 2008 schrau-
ben (48,5 Mrd. €),so hätte das ein um 0,6
Prozentpunkte höheres Wachstum des
Bruttoinlandprodukts (BIP) zurFolge,
rechnen die Ökonomen von Ambro-
setti in einer Studie zu den öffentlichen
Investitionsvorhaben vor. Zum Ver-
gleich:Das jährliche BIP-Wachstum in
den vergangenen zehnJahren betrug in
Italien im Schnitt 0,7%.Viel verspricht
sich dieWirtschaft von einernoch unter
dererstenRegierung Conte mit Cinque
Stelle und Lega aufgegleistenVereinfa-
chung derAusschreibungsgesetze. Kri-
tik an der neuenRegelung gab es jedoch
unter anderem von der Anti-Korrup-
tions-Behörde A.N.AC.Diese befürch-
tet, dass durch dieVeränderungen das
Bestechungsrisiko zunimmt. Umstritten
ist auch die Möglichkeit, für Grosspro-
jekte einen Spezialkommissar mitausser-
ordentlichenVollmachten einzusetzen.

Kämpfer gegenMafia


und Korruption


dba.·Raffaele Cantone (Jahrgang
1963) stammt aus Neapel. DerJurist
war stellvertretender Staatsanwalt und
Teil der Anti-Mafia-Behörde. In seine
Amtszeit fällt dieVerurteilung mehre-
rerwichtiger Mafia-Bosse.2 01 4wurde
er von Ministerpräsident MatteoRenzi
an die Spitze der Anti-Korruptions-
Behörde A.N.AC.berufen. Nicht zu-
letzt wegen Differenzen mit derRegie-
rung über dasAusschreibungsgesetz
gab Cantone im Sommer seinenRück-
tritt bekannt. Er hat angekündigt, wie-
derans Oberste Gericht desLandes zu-
rückzukehren, wo er bereits früher ein-
maltätiggewesen ist.

«Tatsächlich aber fliesst
viel schmutziges Geld
aus dem Süden
in den Norden
des Landes.»

«Die Mafia hat sich
stark gewandelt
und ist imVergleich
zu früher
weniger mächtig.»

LangsameVerbesserung –
auf tiefem Niveau
RangItaliens
im Korruptionswahrnehmungs-Index

NZZ / dba.
Free download pdf