Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

Freitag, 1. November 2019 FEUILLETON 35


EinenPatenonkel in der DDR zuhaben,


kurierte von manch naiver Vorstellung SEITE 37


Halleluja! Der RapperKanye West


hat einen Weg zuJesus Christusgefunden SEITE 38


Halten oder loslassen?Dasist nur eine der Ambivalenzen, die das Muttersein mit sichbringt. ANDREY NEKRASOV / IMAGO


Aber wehe, man sagt das laut

Rachel Cusks brisanter Essay über Muttersc haft wirft existenzielle Fragen auf.Von Andrea Köhler


Unlängst haben zweiFreundinnen beim
Abendessen von ihren Geburten er-
zählt. Die Kinder sind inzwischen er-
wachsen, doch die Erinnerungan die
Tortur war so frisch, als sei das Ganze
gestern passiert.Das Ganze?Passiert?
Es ist nicht ganz klar, welcheWortwahl
denVorgang desAuf-die-Welt-Bringens
halbwegs präzise fassen kann. Die Ge-
burt ist offenbar eine Erfahrung, die auf
eine kurioseWeise jenseitsvon Worten,
oder besser: von Erzählungen liegt.
Das ist nicht so sehr durch den Um-
stand bedingt, dass dieWorte fehlen, als
vielmehr dadurch, dassdas Reden über
die existenzielle Erfahrung der Geburt
wie das Sterben einem grossenTabu
unterliegt. Es ist, als müsse derVorgang,
und zwar sowohl was das Gebären als
auch was das Geborenwerden angeht,
mit dem ersten Schrei insVergessen fal-
len. «Warum», fragte eine derFreundin-
nen plötzlich erstaunt,«hateinem das
vorher niemand gesagt?»
Es istdieseFrage, die im Zentrum von
Rachel Cusks furiosem Essay «Lebens-
werk. Über das Mutterwerden» steht –
und eine luzide Antwort erhält.Dass
diese nicht jedem gefallen wird, hat die
Reaktion auf das 2001 in Grossbritan-
nien erschienene Buch einschlägig klar-
gemacht. Sie würde ihre Kinder hassen,
hat man Cusk vorgeworfen, Egozentrik,
Rücksichts- und Schamlosigkeit unter-
stellt. Nicht ihrText wurde beurteilt,
sondern ihre «Fitness als Mutter»,nicht
die Argumentation angegriffen, son-
dern ihrePerson.Das schlimmsteVer-
dikt aber lautete: «zu intellektuell».


Provokatives Potenzial


Zu intellektuell? Dieses Buch ist ein
Aufschrei, der packende Bericht aus
einem von Mythen und Ängsten be-
stimmtenTerrain. Es ist ein Gebiet, das
jeder von uns durchschritten und an
das keiner eine Erinnerung hat.Da die
Schriftstellerin wohl durch den Erfolg


ihrer jüngstenRomantrilogie ermutigt
worden ist, ist «Lebenswerk. Über das
Mutterwerden» nun in der Übersetzung
von EvaBonné auch auf Deutsch zu le-
sen. Um es gleich zu sagen:Das Buch
hat sein provokativesPotenzial nicht
eingebüsst.
Zwar ist das Chaos des Kinderkrie-
gens inzwischen vor allem im angelsäch-
sischenRaum zu einem beliebtenTopos
von Sitcomsavanciert; auch auf Blogs
wird «the new mom misery» gern dis-
kutiert. Und schon damals gab es Stim-
men, die dankbar waren, dass jemand
die Frustrationen einer jungen Mutter

beschreibt.Gleichwohl liegt die gereizte
Reaktion auf diesen Essay in der Natur
der Sache.
Wer Kinder bekommt, wird mit sei-
ner eigenenVerletzlichkeit und früh-
kindlichen Hilflosigkeitkonfrontiert –
und derWut und dem Hass, die das aus-
lösen kann. «Es ist, als hätte ich lange
Zeit hoch oben in den zänkischenRäu-
men derromantischen Liebe gelebt und
wäre nun in denKeller hinabgestiegen,
zwischen die Grundfesten der Gefühle.
Die Liebe da unten ist viel ernsthafter
und pragmatischer, gleichzeitig liegt sie
unmittelbar neben der Macht, zu zer-
stören», schreibt Cusk. Die tiefe Ambi-
valenz, die der Kinderpsychoanalytiker
Winnicott als einen oft unbewusst blei-
benden Zug von Mutterschaft ausmacht,
wird allerdings meist in Idealisierungen
vom Mutterglück neutralisiert.
Dass wir in unseren Kindern die
Schrecken der eigenen Kindheitwie-
derbeleben, ist eine Binsenweisheit,
doch die unbewusste Macht, zu zer-

stören, entwickelt ihren eigenen un-
heimlichen Sog. DieAngst davor dürfte
keine geringeRolle bei der Entschei-
dung für oder gegen Kinder spielen.
Selbstredend sind bei dieser Entschei-
dung nicht nur unbewussteÄngste, son-
dern auch handfeste Gründe im Spiel –
di e leidige alteFrage nämlich, ob sich
der Kinderwunsch mit einem eigenstän-
digenLeben vereinbaren lässt.
Cusk wollte beides: Schriftstellerin
und Mutter sein. Als sie sechs Monate
nach der Geburt ihrer erstenToch-
ter zum zweiten Mal schwanger wurde,
fasste sie darum einen Entschluss: Sie
wollte den Gefühlstumult unter dem
unmittelbaren Eindruck ihrer Erfahrung
beschreiben. Es versteht sich, dass dies
nur möglich war, weil die leidigeFrage,
wer sich derweil um die Kinder küm-
mert,zuungunsten ihres Ehemannes
entschieden wurde.
Doch auch eine vorbildlicheArbeits-
teilung täuscht über denfundamenta-
len Unterschied zwischen Mutter und
Vater,Mann undFrau nicht hinweg.
Der Selbstverlust, der aus denFugen
gerateneKörper ebenso wie die amor-
phe Masse der Zeit unter der Herr-
schaft eines schreienden kleinenTyran-
nen haben ihren Schrecken auch bei der
zweiten Geburt nicht eingebüsst. Die
Macht,zu zerstören, hebt nach chronisch
schl aflosen Nächten drohend das Haupt.
Cusk hasste das Stillen, die Erfah-
rung, sich «mit tropfenden Brüsten wie
ein hirnloser Dinosaurier durch die zer-
brechlichenRäume zu schieben». Sie er-
schrak über ihre Unfähigkeit, das Kind
loszulassen. Um mit ihrem Gefühls-
tumult und nicht zuletzt derWut über
den gesellschaftlichen Bedeutungsver-
lust fertigzuwerden, las sie sich durch
Berge vonRatgebern. Es kam ihr vor,
«als ob überhaupt nichts zu demThema
geschrieben worden» wäre.
Nun sind Bücher über Mutterschaft
in rauen Mengen vorhanden;es fehlt
auch nicht an Krisenberichten aus erster

Hand.DieFrage, wie man eine gute,eine
bessere, eine alles unter den Hut brin-
gende oder auch garkeine Mutter wird,
deklinierenRatgeber, Zeitungsartikel
undneuerdingsauchRomaneinbrünstig
durch.KeineandereZeitimLebeneiner
FrauistderartvonRatschlägen,Drohun-
gen undImperativen umstellt.Von der
medizinischenÜberwachungbiszurkor-
rekten Stellung beim Sex ist das Leben
de r Schwangeren ein vonVorschriften
kommandiertesTerrain.

Auch eineLiebesgeschichte


Dieser panische «Kult um die Mutter-
schaft» ist ungebrochen,und seinGarant
ist die Bigotterie. Wi e bei aller Bigotte-
rie sindauch hier tiefe Ängste im Spiel,
Ängste, die die amerikanische Dichte-
rin undFeministinAdrienneRich in
«Mutterschaft als Erfahrung und Insti-
tution» bereits Ende der siebzigerJahre
auf den Punkt gebracht hat.«Liebe und
Enttäuschung, Macht und Zärtlichkeit
erfahren wir alle zuallererst durch eine
Frau», schreibt Rich.Den Stempeldieser
Ambivalenz tragen wir bis zur Stunde
unseres Sterbens mit uns herum.
«Lebenswerk» ist also auch eine Lie-
besgeschichte, die dieser Ambivalenz
Rechnung trägt.Es ist überdiesdas Buch
einer genuinen Schriftstellerin, die mit
bösemWitzundinfunkelnderProsaeine
Erfahrunggestaltet, die alle angeht.Die
kostbaren Momente der Innigkeit zwi-
schen Mutter und Kind sind freilichrar.
Das ist schade, denn ihre Beschrei-
bung zeugt von einer Zartheit auch in
der Sprache, die dem Buch seineTiefe
und Schwingung gibt. Doch jeder, der
etwas wissen möchte über die Condi-
tio humana, die im Leib der Mutter be-
ginnt, kann mit Einsichtenrechnen, die
anderswo so nicht zu lesen sind.Wir
erfahren nicht nur, was es heisst, eine
Mutter zu sein,sondern auch, was es be-
de utet , von einer Mutter geboren wor-
den zu sein.

LESEZEICHEN


Rachel Cusk: Lebenswerk.Über das
Mutterwerden.Aus dem Englischenvon
Eva Bonné. Suhrkamp-Verlag,Berlin 2019.
220 S., Fr. 31.50.

AnAllerseelen


geht Dracula um


Die Verstorbenenkehrenjedes Jahr
etwas blasser zurück

PHILIPP MEIER

Der Verlust eines geliebten Menschen
ist schmerzhaft. Bitter aber ist die sich
allmählich einstellende Gewissheit,
dass der Schmerz mit jedemTag etwas
erträglicher wird. Darin besteht das
eigentliche Skandalon desTodes: dass
die Zeit alle Erinnerung einebnet.
Friedhöfe sind derVersuch einerAb-
wehr gegen diese traurige Zumutung.
Denn sie sindkeineswegs Orte, um Tote
menschenwürdig zwar, aber doch nur
zu beseitigen. Gerade die Sorge um die
Verstorbenen würde sonst fortbestehen.
Die Beisetzung im abgegrenztenMauer-
geviert soll noch etwas anderes verhin-
dern:das unkontrollierteVerschwinden
nicht nur von der Oberfläche derWelt,
sondern auch aus dem Gedächtnis und
aus dem Herzen.
Mit dem Grabstein oder dem hölzer-
nen Kreuz wird ein Pflock eingeschla-
gen: um den Ort zukennzeichnen, wo
das Gedenken stattfinden kann. Und
nicht zuletzt soll dieses Zeichen das-
selbe bewirken wie der Pflock im Her-
zen desVampirs:Wenn jemand schon
tot sein muss, soll er es auch bleiben und
nur in der Erinnerung lebendig wieder-
kehren,aber ja nicht umherschweifen
und zumWiedergänger werden.

Ein Pflock ins Herz


Wie geht die Geschichte vom walachi-
schenPrinzen Vlad schon wieder? Der
Woiwode, bekannt unter dem Namen
Graf Dracula, wurde mit Beinamen
auch Tepes, der Pfähler, genannt, weil er
Kriegsgefangene bei lebendigem Leib
aufspiessen liess. Er selber wurde eben-
fa lls gepfählt, genau zweimal.Dabei war
sein Herz Gegenstand desVorgangs.
Das zweite Mal ist allgemein bekannt.
Dem in seiner Gruft aufgespürtenVam-
pir wurde ein Holzpflock ins Herz ge-
trieben, wodurch er Erlösung fand.Das
erste Mal aber durchbohrte ein unsicht-
ba rer Schmerz sein Herz.Das war, als
ihn auf dem Schlachtfeld die Botschaft
erreichte, seine Angetraute habe sich
aus Trauer darüber, dass er angeblich
gegen die Osmanen gefallen sei,von der
Schlossmauer in dieTiefe gestürzt.
Das an Romeo undJulia erinnernde
Missverständnis ist natürlich Gottes-
strafe für seine Grausamkeiten. Sein
Schmerz über denVerlust der Gelieb-
ten aber ist so gewaltig und sein Zorn
auf diese Ungerechtigkeitso unbändig,
dass er in der Kapelle, wo der Leichnam
aufgebahrt ist,sein Schwert ins Kreuz an
der Wand rammt. Blut fliesst daraus in
Strömen, wie diekongenialeFrancis-
Ford-Coppola-Verfilmung von Bram
Stokers «Dracula» es schildert:Blut von
seinem eigenen Herzschmerz, aber auch
das Blut seiner zahllosen Opfer.

Süsses für die Untoten


Der Schmerz über den Verlust sei-
ner Gemahlin aber lässt nicht nach. So
wurde Dracula als Untoter vonseinem
Kummer eine Ewigkeit lang umgetrie-
ben. Es war dieserVerlustschmerz, der
nicht starb, nicht sterbenkonnte. Mons-
trös war derVampir vor allem in seiner
unendlichenTrauer.
Denn Liebe sollte doch eigentlich
nie sterben. Sie erkaltet manchmalaber
doch. Und dann empfinden wir uns ob
einer solchen Monstrositätselber als
Ungeheuer. In denTagen um Allerhei-
ligen gedenken wir derVerstorbenen, an
Allerseelen legen wir Blumen aufs Grab.
Und an Halloween gehendie Gespens-
ter um.Geister von Untoten gehen dann
von Tür zu Tür und bitten um Erlösung.
Geben wir ihnenreichlich Süsses. Denn
es bleibt uns doch indiesen dunklenTa-
gen oftnur die bittere Erkenntnis,dass
auch der Schmerz über denTod eines
geliebten Menschen einmal verblasst.
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