Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

Freitag, 1. November 2019 FEUILLETON 37


Was ich über die DDR wusste,


wusste ich von ihm


Über das damalige Glück, einen Patenonkel im Osten zu haben


MARKUS ZIENER



  1. November1989, 22 Uhr 30. Es ist
    allesfalsch an diesem Abend. Ich sitze
    inMainzvordemFernseher.Einemklei-
    nen tragbaren Fernseher, den ich auf
    einenHockergestellthabe.Malsitzeich,
    mal stehe ich auf, laufe herum, sitze wie-
    der. Ich sehe, was gerade in Berlin pas-
    siert. Es ist zum Heulen, weil mich das
    GlücküberdiesenMauerfallübermannt.
    Weil ich nicht bin, wo das alles passiert.
    Ich bin in Mainz. Geografisch und men-
    tal weiter weg kann man in dieserNacht
    kaum sein. Ich fluche über Mainz, über
    diesenWesten imWesten. Ich weiss:
    Mainz kann nichts dafür.Aber an die-
    sem Abend will ich ungerecht sein.
    AlsichamnächstenMorgenzurArbeit
    fahre, denke ich, dass die Menschen im
    Bus und in der Strassenbahn überwältigt
    sein, dass sie sich in den Armen liegen
    od er dass wenigstens ihre Augen glän-
    zen müssten.Verklärt glänzen, strah-
    lend glänzen oder übernächtigt glänzen.
    Irgendetwasmüssteanderssein.Aberdie
    Menschenandiesem10. November 1989
    sehen genauso aus wie am 9. November
    und am 8. November. Sie schauen in die
    Zeitung, sie schauen aus demFenster, sie
    schauen irgendwohin. IhreAugen sind
    wie immer.
    ImmerwiederhatteichesinderNacht
    probiert. Die Leitung funktionierte
    natürlich nicht. Nach Leipzig telefonie-
    ren von Mainz klappte selbst an guten
    Tagen nur mit ganz viel Glück.0037 war
    dieVorwahlfürdieDDRund41fürLeip-
    zig. Doch so weit kam ich gar nicht erst.
    Das Besetztzeichen hörte ich schon nach
    derVorwahl,weiterzuwählen,warzweck-
    los.Aber ich musste etwas tun, irgend-
    etwas, das mir zumindest die Illusion
    verschaffte, eine Verbindung zu dem zu
    haben, was dort im Ostengeschah.


Lebenim anderen Deutschland


IchverehrtemeinenPatenonkel,ichfand
ihnunendlichklug,belesenundweise.Ich
war so stolz da rauf, einen solchenPaten-
onkelzuhaben.DerWestjungemiteinem


Patenonkel aus dem Osten.Aus Leipzig.
Wer hatte das schon. Und seit meinem
ersten Besuch bei ihm im Alter von 21
Jahrenverehrteichihnnochmehr.Erbe-
handelte mich, der ichgerade eben ein-
mal erwachsen geworden war, wie einen
Ebenbürtigen.WirsprachenüberdasLe-
ben und überPolitik, über den Sozialis-
mus und den Kapitalismus, über Bleiben
oder Flüchten.Ich war ernstgenommen
und gab diesen Ernst zurück mit allem,
was ich wusste und dachte.
Gerhard lebte offiziell in Leipzig,
meistensaberinNaumburganderSaale.
In Leipzigan derAkademie derWissen-
schaften war er in Misskredit geraten,
weil er mitPolitik nichts zu tun haben
wollte. Die evangelische Kirche und ihr
Kirchliches Proseminar in Naumburg
wurden sein beruflicherRettungsanker.
Aber Naumburg war noch viel mehr für
ihn. An der Saale erlebte meinPaten-
onkel einespäteberufliche Erfüllung.
Er lehrte Deutsch und Griechisch und
Latein.ErwareinguterLehrer,einerder
streng war und viel verlangte, aber auch
einer, dem es nicht schwerfiel, zu loben,
zu sagen,wenn etwasgelungen war. Bei
meinen Besuchen in Naumburg erlebte
ich einige seiner Schüler. Sie kamen zu
ihm nach Hause, klopften an dieTür und
hattenFragen.Sie zeigtenRespekt,Ach-
tung undSympathie. Möglicherweise
fanden sie ihren Lehrer, den alternden
Junggesellen, zuweilen auch etwas wun-
derlich.Aberwennsiedastaten,geschah
dies auf sehr zugewandte Art.
Was ich über die DDR wusste, wusste
ich von ihm.Aus Büchern kannte ich die
histo rischenFakten.Aber das Leben im
anderen Deutschland, das erfuhr ich von
meinemPatenonkel.Wenn ich bei ihm
war, dann waren wir unterwegs.Wenn
wir nicht in den Saaleauen spazierten,
oft eingehakt Arm in Arm, was ich zu-
nächst ungewöhnlich und dann nur noch
schön fand, fuhren wir nach Dresden
oder nachWeimar oder ins Erzgebirge.
Meinen Studenten-Renault liessen wir
stehen und holperten mit seinemTra-
bant dieLandstrassen entlang.Wir sas-
sen und fuhren, und wir sprachen ernst-

haft,und wir scherzten, ich machte mich
lustig, und er neckte mich. Obwohl wir
uns doch nur aus Briefen gekannt und
nie gesehen hatten, waren wir uns nicht
einen Moment fremd.Wir waren doch
irgendwieFamilie. Uns war nur eben der
Mauerbau dazwischengekommen, dem
Patenonkel und seinemPatenkind.
Was nach dem Mauerbau geblieben
war,waren Briefe.Regelmässige Briefe.
Der Junggeselle schrieb dem Kind,dann
dem Heranwachsenden,endlich dem Er-
wachsenen. Seine Briefe waren kleine
Bücher. Längs gefaltet und die Seiten so
beschrieben, dass sie ineinander gelegt
zu kleinenBüchern wurden.Wenn ich
eins von ihnen bekam und aus dem Um-
schlag holte, war das etwas Besonderes.
Dann verzog ich mich in eine Ecke und
las. Er schrieb zu mir wie zu einem Er-
wachsenen.Ichverstandnichtalles.Aber
ich fühlte micherwachsen – und stolz.
Von niemand anderem bekam ich solche
Briefe.Alle Briefe sind aufgehoben. Sie
haben bis heute einen besonderen Platz.

Wo das Mittelmass herrschte


Gerhard war Mitteldeutscher. So be-
zeichnete er sich. Und im Grunde wollte
er nicht weg von dort. Mitteldeutschland
warseineHeimat.Leipzig,dieSaale,Wei-
mar. Das Land vonGoethe und Schiller.
Aber irgendwann legtesich bei ihm ein
Schalter um, nicht plötzlich, aber Stück
für Stück. Er dachte darüber nach, wie
das wohl wäre, ein Leben ausserhalb der
DDR.HinausausdemMuff,ausderMit-
telmässigkeit, hinaus aus einemLand,
dessenSystem nicht die Besten nach
oben brachte, sondern die Angepasstes-
ten. Das störte ihn am meisten.Dass er
nicht von einer Eliteregiert wurde, son-
dernvomMittelmass.UndMittelmass,so
erklärteermir,förderewiederumMittel-
mass, weil es die Intellektuellen,die rich-
tig Guten nichtertragenkönne. Daswar
der Schlüssel für seinenVerdruss mit der
DDR. Ihn störten zwar auch der DDR-
Sozialismus, die verordnete Geschichts-
klitterung, die manipulierte Öffentlich-
keit und die geraubteFreiheit. Doch vor

allem störte ihn, dass das Mittelmass zur
herrschenden Klasse geworden war.
Ich sog all das in mich auf bei mei-
nen Besuchen.Und ja,sie kurierten mich
von manch naiverVorstellung über den
Sozialismus, über Gleichheit und über
moralische Überlegenheit. Ich fand in
der DDRTugenden und Charaktere, die
ich in der Bundesrepublikvermisste. Ich
fandTiefe und Menschlichkeit,die ich in
meiner Heimat imWesten nichterlebte.
Aber mir wurde auch bewusst, dass diese
Tugenden nicht wegender DDR, son-
dern trotz der DDR entstanden waren.
DieDDRwarnichtzulobenfürdieseEr-
ru ngenschaften,nichtfürihrewunderba-
ren Schriftsteller oder die Nachdenklich-
keit in vielen Gesprächen. All das hatte
sich formiert gegen einSystem, das Kon-
formitätbelohnteundKreativitätverach-
tete. Dass jene, die dieseBarrieren über-
wanden, so Hervorragendes leisteten,
war kein Verdiens tder DDR. Es war ein
Verdienst der Menschen in der DDR.
MeinPatenonkel blieb in der DDR.
Er richtete sich ein in seinem Leben,
umgeben von Büchern, der Lehre, sei-
nen Schülernund dem Westradio als
Fenster zurWelt. Nur wenn ich kam,
wurde er für einen Moment wehmütig.
Dann gönnten wir uns ein paar Phanta-
sien zu Flucht und Neuanfang, zu einem:
«Was wäre, wenn...»
Schon am Samstag nach dem


  1. November war ich an der Grenze.
    Kurze Zeit später in Naumburg. Ein
    neuesVisum hatte ich längst bean-
    tragt.Jetzt, nach dem Mauerfall, sah das
    Papier mit demroten DDR-Stempel auf
    einmal lächerlich aus. Noch einmal gin-
    gen Gerhard und ich zumRat der Stadt
    und meldeten mich an. Ganz nachVor-
    schrift.Aber diesmal lässig und mitamü-
    siertem Blick.Das System ging zu Ende,
    und wir durften das Schauspiel beobach-
    ten.Was für ein Glück.


MarkusZienerlehrtander Hochschulefür
Medien,KommunikationundWirtschaftin
Berlin. Jüngst von ihm erschienen istder Ro-
man «DDR, monamour»beiPalmArtPress,
Berlin 20 18.

Wieder Sozialismus wirklichwar: DerdirekteKontakt kurierte so manch naiveVorstellung von der DDR. KREUSCH / AP


Das Ministerium


gegen den


Amtsschimmel


Sprachtrainer sollen holländischen
Beamten Klartext beibringen

MANUEL MÜLLER

Manchmalgrinst auch Google. Es ist
ziemlich selten, aber selbst der Algo-
rithmus wird mal schwach. Ein Beispiel:
Wer«Amtsdeutsch»eintippt,demspuckt
Google einenWikipedia-Artikel zum
Stichwort «Verwaltungssprache» aus.
Und darin beginnt es ziemlich schnell
zu holpern:«Verwaltungssprache bezie-
hungsweiseBehördensprache(umgangs-
sprachlich auch Beamtendeutsch oder
Amtsdeutsch) bezeichnet eine förm-
licheAusdrucksweise, wie sie häufig im
SchriftverkehrvonBehörden,Parlamen-
ten undVerwa ltungen (etwa imJustiz-
wesen,beiBahnundPost),aberauch...»
Hört man da bereits den Amtsschim-
mel herangaloppieren? Dasschlaue
Tier findet inzwischen ja fast überall
seine dürren Halme. Und wir meinten
doch, der Gaul wiehere am liebsten auf
Deutsch: Kafkas sehr schneller Prozess,
Mani Matters kurzer Gang aufs Amt,
Nenas harmlose Luftballons... Die-
ses Pferd, dachten wir also, ist standort-
treu. Leider nein – selbst an den Dei-
chen Hollands wächst ihm nochFutter.

Was bitte tutman da?


«Schnittstellenmanager Strategische
Verwaltungsorganisation DigitalesSys-
tem Umgebungsgesetz». Nein, das ist
kein Witz. Das ist eine Stellenbezeich-
nungaus den Niederlanden.Was man
da als Angestellter tut?Das weiss viel-
leicht niemand. Sicher ist nur, die Buch-
stabensuppe floss aus denFedern des
niederländischen Innenministeriums.
Doch halt, der Staatssekretär Raymond
Knops findet das nicht lustig. Er führt
die Anzeige als schlechtes Beispiel an.
«So etwas will ich nicht», teilte er vor
einerWoche in Den Haag mit.
Sein Ministerium ergreift nun – wie
könnte es anders sein – Massnahmen
und trägt gleich dick auf. Es hat die
«Direkt-Deutlich-Brigade» aufgestellt.
Hundert Sprachtrainer sollen einen
Weg durch den niederländischen Büro-
kratie-Dschungel bahnen, eineWebsite
soll den BeamtenimLand helfen,ver-
ständlichereTexte zu schreiben.
Ob das etwas bringt, wird sich erst
noch zeigen. Vielleicht werden nun
ganze Begriffswälder abgeholzt, mag
sein, dass sich das Unterholz mit all
dem Kleingedruckten lichtet.Vorstellen
kann man sich das nurschwerlich. Der
Amtsschimmel istein ebenso stures wie
zähesTier.Wie viele rufen nach Büro-
kratieabbau, nur um dann den nächsten
Papiertiger zu falten?

Es soll sogar angenehmsein


DieniederländischeBürokratiesetztihre
Zielehoch.Sie will verständlicherschrei-
ben –egal,worum esin denTextengehen
mag.Aber mehr noch, dieTexte sollen
eine erfreuliche Lektüre abgeben.Man
stellesichdasvor,einBriefvomAmt,den
man sich zurRelektüre zur Seite legt,am
besten aufs Nachttischchen. Klar ist, die
PlänederNiederländersindziemlichehr-
geizig.Undesentbehrtnichteinergewis-
senIronie,dassausgerechneteinMiniste-
ri um der Bürokratie an den Kragen will.
Eine Teufel-Beelzebub-Konstellation,
mag man sich denken.
Zugleich sieht sich wohl manch einer
versucht, dem hiesigen Amtsschimmel
eine ebensolche «Direkt-Deutlich-Bri-
gade» aufden Hals zu schicken. Dann
würde man nach den morgendlichen
Hygienemassnahmen nicht mehr an
Spontanvegetation vorbei und über
Lichtsignalanlagen mit dem privaten
Transportmittel zur festen Arbeitstätig-
keit als Angestellterreisen.
Man duscht,steigt aufsVelo, fährt
an Bäumen vorbei,stoppt vor Ampeln
und gelangt zumJob. So einfachkönnte
es sein. Aber wenn bei so was auch der
Algorithmus versagt, darf man sich für
uns nicht allzu viel erhoffen.Ausser,
dass wir uns mit Unsinn wehren und im
Ernstfall lachen.Wenn das nicht klappt,
gründen wir halt ein Amt für Ironie.
Vorbilder gäbe es genug.
Free download pdf