Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

38 FEUILLETON Freitag, 1. November 2019


Die Be kehrung des Kanye West


Der Rapper fühlt sich als Christ wiedergeboren. Er bezeugt seine neuePassion mit fiebrigen Gospel-Vignetten


UELI BERNAYS


KanyeWest ist ein Licht aufgegangen.
Halleluja! KanyeWest hat einenWeg
zu Jesus Christus gefunden. Halleluja!
Der 42-jährigeRapper,Produzent und
Modedesigner fühlt sich bekehrt. Und
der Glaube hat ihn musikalischauf neue
Ideen gebracht. Sein neuntes Album ist
nach mehrmals verstrichenenRelease-
Ankündigungen nun erschienen. Hal-
leluja! Es handelt sich um das klang-
liche Zeugnis einer christlichenWieder-
geburt: «Jesus Is King.» Amen!
Der Bass hüpft wie ein junges Herz,
das Klavier tanzt durch die Harmo-
nien, und ein entfesselterFrauenchor
ermahnt die Gläubigen, ihr Leben Gott
zu weihen–jede Minute, jede Sekunde,
jede Millisekunde. Dank diesem Ope-
ner stürzt der Gospel sozusagen mit
der Tür in KanyeWests Album.Das
euphorische Singen nimmt sich da-
bei aus,als wären die frommen Seelen
hier auf Speed. Doch dann derKon-
trast im zweiten Song:Während eine
Orgel mit kirchlichen Akkorden dräut,
ergreiftReverendWest erstmals selber
das Wort: «God is king», predigt er, «we
are the soldiers.»


Teufelswerke


Dass si ch KanyeWest neu als rap-
pender Prophet in Szene setzt,kommt
nicht ganz überraschend. SeinPubli-
kum hatder eitle Afroamerikaner bis-
her zwar meistens auf den breitenWeg
des Lasters geführt. Seineraff inierten
Hip-Hop-Tracks nahmen sichaus wie
mondäne Boulevards durch Zonen des
Hedonismus, wo das Geldregiert und
die Sünde heuchelt.
Unüberhörbar führte derTeufel den
Rapper inVersuchung. Und inspirierte
ihn auch künstlerisch! KanyeWest hat
sich seit seinem Debütalbum«The Col-
lege Dropout» (2004) als einer der ori-
ginellsten und kreativstenPop-Musi-
ker des jungenJahrhunderts profilie-
ren können. Er hat im Hip-Hop nicht
nur ältere Sound-Schichten aus Blues,
Jazz und Soul freigelegt. Er hat die afro-
amerikanischePop-Musik generell er-
neuert mit seinen Beats und Effekten
wie Auto-Tune. Nun darf man sich fra-
gen, wie weit ihn die göttliche Liebe zu
ähnlicher Bravour inspirieren kann.
Trotzseinemkünstlerischenundkom-
merziellen Erfolg wares demRapper
allerdings nie ganz wohl mit seinemTeu-
felswerk. Immer wiederkontrastierte er
die weltlicheWucht durch Momentereli-


giöser Einkehr, in denen ihm der Zweifel
mahnenddurch denKopf ging.Schon in
seinemerstengrossen Hit,«Je susWalks»
(2004), spricht er von einem inneren
Kampf, einem «war with ourselves» –
umdannGottdirektanzusprechen:«God
show me the way, because the Devil is
tryin ’ to break me down.»Auf dem vor-
letzten Album,«The Life ofPablo», ten-
dierte der Saulus abermals zumPaulus.
Songs wie «Ultralight Beam» leben be-
reits von derStrahlkraft des Gospels.
Das Faszinosum des Göttlichen hat
bei KanyeWest allerdings auch son-
derbare Blüten getrieben. Seine Hybris
verleitete ihn nicht nur zuVergleichen
seinerPerson mit Einstein oder Mal-
colm X.Auf dem Album«Yeezus» (eine
Verbindung vonJesus mitYe, der Kurz-
form seines Namens Kan-ye) verkün-
de te er ungeniert:«I Am God.» Der
Hochmut machte ihn zur medialen
Witzfigur.KanyeWest, der mit Donald
Trump ebensokokettiert wie mit einer
eigenen Präsidentschaft, gilt in der

Öffentlichkeit längst nicht nur als Star,
sondern auch alsFreak. Zumal er sel-
ber kein Hehl macht aus seinem psychi-
schen Ungleichgewicht, aus seiner bi-
polaren Störung.

Vorwärts zumGospel


Mankönnte also versucht sein, die Be-
kehrung desKünstlers als Flause zu be-
lächeln. Doch sprichteiniges auch für
Respekt und Pietät.Auch wenn «Jesus
Is King» künstlerisch nicht auf der Höhe
seiner besten Alben ist – KanyeWest
hat damit gerungen. Überdies hat er das
Album mit seinen Sunday Services vor-
bereitet.Begleitet von einem persön-
lichen Priester-Mentor, feiert er als Mas-
terofCeremonyseiteinemknappenJahr
regelmässig Gospelmessen.Dabei lässt
er sichvom Sunday Service Choir unter-
stützen, der nun auch die üppigen Chor-
passagen auf «Jesus Is King» intoniert.
Überdies ist KanyeWest beileibe
nicht der ersteRapper, der überreli-

giöse Anwandlungen zum Gospel ge-
funden hat. Immer wieder haben Stars
aus Hip-Hop oderR’n’Bdie Trends der
Gegenwart hinter sich gelassen, um
einenRückweg in den Schoss und den
Sound der Kirche zu finden.
Spiritual und Gospel sind so etwas
wie die Ursuppe der afroamerikani-
schen Musik. Die schwarzenPop-Stars
haben sich seit je dieser musikalischen
Quelle bedient.Wo Pop aber denPer-
sonenkult pflegt, gilt im Gospel der Pri-
mat der kirchlichen Gemeinschaft. Und
wo die weltlichen Musiker materialis-
tische Zwecke verfolgen, dient Gospel
spirituellen Idealen. Solche Gegensätze
führtenbei den afroamerikanischen
Pop-Stars öfters zu Schuldgefühlen.
Nichts nage so sehr am eigenen Ge-
wissen und nichts habe so viele Musi-
ker in den Abgrund gestürzt wie der
Verrat am Gospel, schrieb AlGre en. Er
musste es wissen. Denn der Soulsänger,
der einst den familiären Gospelchor ver-
liess , um Pop-Starzu werden,kehrte sp ä-

ter als Priester in die Kirche zurück.Wie
heute auffällig vieleRap-Stars.
Vielleicht ist es der wuchernde Mate-
rialismus, der toxische Hedonismus,der
früher oder später denWunsch nach spi-
rituellerKompensation weckt.Vielleicht
denkenrappende Millionäre, wenn sie
mehrere Limousinen undVillen haben,
plötzlich vermehrt auch an Sein und
Sinn.Und wenn sieVäter werden,dürfte
ihnen auch die Notwendigkeit pädago-
gischer Ziele den Gospel in Erinnerung
bringen.Dasmag erklären, weshalb die
Liste derRapper, die im Gospel ihr
Heil suchen, länger und länger wird. Sie
reicht vonRun DMC überP. Diddy zu
DMX und Snoop Dogg. Bei KanyeWest
kann man allerdings nicht von einer
Rückkehr zu geistlicher Musik sprechen.
Im Unterschied zu vielenKollegen weist
seine musikalische Sozialisierung nicht
in die Kirche zurück. Für ihn ist Gospel
deshalb eher einAufbruch.

Der Rapperbetet


«Jesus Is King»erweist sich über weite
Strecken zwar als Hip-Hop-Album.
Das neue Repertoire aber zeichnet
sich durch unterschiedliche Gospel-
anklänge aus. Songs wie «Every Hour»
und «Selah» zitieren die akustischeTra-
dition von Chor, Klavier und Orgel. Zu
hören gibt es aber auchR’n’B-Schlager
wie «God Is». Oft erscheint der Gos-
pel als Klischee, als klangliche Signatur,
der dann jenerRaum gerade fehlt, der
die rituelle Kirchenmusik sonst in An-
spruch nimmt für die Steigerung in die
religiöse Ekstase. Da und dort gelingt es
KanyeWest trotzdem, die unterschied-
lichen Einflüsse in einerSynthese zu
versöhnen. In «Closed on Sunday» ver-
binden sich folkige Gitarrenklänge und
Chor zu einer suggestiven Unterfütte-
rung seines bekenntnisartigen Gesangs.
In «UseThis Gospel» wird eine Einzel-
stimme künstlich so aufgefächert, dass
sie denraumgreifenden Sound eines
Chors simulieren kann.
Und in«Water» , wo eine ozeani-
sche Akustik mit dem langen Hall
einer Kathedrale verschmilzt, über-
zeugt nicht nur dieVerbindung von
Elektro-Pads und Gospelchor. Mit sei-
ner schneidenden Stimme zeigt Kanye
West hier, wie nahe der Flow desRap
tatsächlich verwandt ist mit dem sugges-
tiven Rhythmus eines Gebets: «Jesus,
give us strength,Jesus, make us well,
Jesus,help us live!»

KanyeWest: Jesus IsKing(DefJam /Universal).

KanyeWest trägt seinechristliche Mission in dieWelt hinaus–etwaans CoachellaValley Musicand ArtsFestival. RICH FURY / GETTY

Vielleicht stammt der Mensch doch nicht vom Affen ab


Kein Tier landet häufiger auf dem Teller als das Haushuhn. In dem vonMario Botta entworfenen Teatrodell’architettura zeigt es seine Vielfalt


GABRIELE DETTERER


Inszeniertes Bühnenspektakel zur Be-
spassung des Publikums und Dramen,
die emotional unter die Haut gehen?
Nichts dergleichen stehtauf demPro-
gramm desTeatro dell’architettura, das
seit Herbst 2018 den Campus derArchi-
tekturakademie Mendrisio bereichert.
Stattdessen will der von Mario Botta
geschaffene Neubau Impulse geben, um
darüber nachzudenken, wie der tiefgrei-
fendeWandel der Lebenswelt dieAufga-
benunddieVerantwortungderArchitek-
tur verändert. Bei weitem nicht nur die
StudierendenderAkademiehabenMario
Botta und die Università della Svizzera
italiana hierbei im Blick, sondern all die-
jenigen,dieaufeintransdisziplinäresAus-
stellungsprogramm neugierig sind.
Vielversprechend klingt folglich das
Motto der Schau desKünstlersKoen
Vanmechelen«The Worth of Life»:Was
ist das Leben wert? DerWerkansatz des
belgischenKünstlers bringt Evolution
und Artenvielfalt zur Anschauung und
irritiert dieherrschende Bequemlich-
keit, einfache Antworten auf diekom-
plexeThematik von Biodiversität gelie-
fert zu bekommen.


Doch zuvor ein Blick auf die Archi-
tekturdesTeatro.ImGesprächmitMario
Botta spürt man deutlich,dass der zylin-
drischeBau, Zweck und Nutzen, eine
Herzenssachedesweltweiterfolgreichen
TessinerArchitekten darstellt.Nüchtern
bauplastisch betrachtet, verkörpert der
Neubau ein Statement für die Klarheit
geometrischer Grundformen.Insgesamt
bes tätigt derRundbau einmal mehr, wie
sehr Mario Bottas Architekturdenken
und Ethik in der mediterranenKultur-
geschichte verankert sind. So bezieht er
die BezeichnungTeatroauf das histori-
sche Teatro anatomico, das einst in Kli-
ni ken und Universitäten der medizini-
schenAusbildung diente.

Effekt undIllusion


Die Neuerfindung des Anatomischen
Theaters für den Mendriser Cam-
pus liegt dicht hinter dem Akademie-
gebäudePalazzoTurconi. Von der his-
torischen Kirche Chiesa dei Cappuccini
aus betrachtet, erscheint derRundbau
als Sacrum. Introversion und Erhellung
vermittelt dieAussenansichtnocheine
Spur stärker, wenn die Morgensonne
auf das ringförmig gestreifte, den zirku-

lären Umriss extrapolierendeFassaden-
muster strahlt, es ergeben sich der opti-
scheEffekteinerschraffierten,geschlitz-
ten Linieund die Illusion fortlaufender
minimaler Öffnungen. Hinter dem Ein-
gangsportal der in sich ruhenden, zylin-
drischenBauskulptur spielt sich derzeit
Ungewöhnliches ab. Augenscheinlich
platziert sich dieAusstellung ausserhalb
der Grenzen von Einzeldisziplinen, und
sie wirft jede MengeFragen zumWoher
undWohindesnatürlichenFormenreich-
tums und der Artenvielfalt auf.
Was ist das für ein zwittriges Objekt?
Unter demkonischenDach baumelt
eine verzwergte menschliche Skulptur.
An die Miniatur klammert sich der aus-
gestopfteKörper einesweissgefie derten
Huhnes. Gleich einem bizarrenKurio-
sum einerWunderkammer schwebt die
Skulptur«The Narrative» (2019) im
offenenRund des Bühnenraums. Bio-
logischeForschung, zoologischeTier-
haltung und freie künstlerische Phanta-
sie vereinen sich zu einem metaphorisch
aufgeladenenWerk.
Vorrangiges Untersuchungsobjekt –
wie auch Motiv künstlerischen Schaf-
fens – ist derGallus domesticus, das
Haushuhn also, das als tierische Nah-

rung Nummer eins derWeltbevölkerung
gilt. Dass der Mensch knusprige Grill-
hähnchen nicht nur gut verdaut,sondern
vielmehr auch Huhn,genauer Ur-Huhn,
unsichtbar im Genomder Menschheit
steckt,enthüllt diese Schau.Davon, und
von evolutionärerVeränderung alskon-
fliktreichem Prozess, erzählt dieAusstel-
lung mit unterschiedlichstenWerkstof-
fen, Neonschrift, Steinskulptur,Tier-
präparaten, Malerei undFotografie,in
einem ausufernden Mix.

MutterNaturs Experimente


In seinem Züchtungsprojekt,dem «Cos-
mopolitan Chicken Project», untersucht
Vanmechelen seitweit über zwanzigJah-
ren die Diversität. In Mendrisio doku-
mentierenFotografien die Differenzen
von Legehennen-Monokultur und einer
hybriden und gesundenVielfalt inner-
halb derTierart.Im Gegensatz zu dieser
Langzeitaktion wirkt die chimärenhafte
Marmorfigur «Joy andWisdom» (2016)
surreal. Die Skulptur deutet darauf hin,
dass anatomische Merkmale von Stam-
mesvorfahren nach langer Zeit in einem
Lebewesen wieder auftretenkönnen,da
Erbgutgene nie erlöschen.

«Re-Use!»: Die Natur also hatWie-
derverwendung schon ewig imReper-
toire. Nicht nur dieses Prinzip der «Mut-
ter Natur, die experimentell mit Leben
spielt», wobei viele Experimente fallie-
ren,erläutert MarcusThelen imAusstel-
lungskatalog. Der Biologe, der am Insti-
tut für biomedizinischeForschung in
Bellinzonaforscht,versachlichtdieWun-
derkammer desKünstlers und motiviert
dazu, auf eine differenzierteWeise die
Zusammenhänge zwischenFortpflan-
zung,Evolution undArtenvielfalt zu be-
trachten.Die wissenschaftlichePerspek-
tive auf Biodiversität stellt Distanz her
zu den Kreationen desKünstlers.
So hybrid wie die gezeigten Objekte
sind auch die Tätigkeiten desKünstlers.
So kreierteVanmechelen in Genk so-
gar einen öffentlichen Zoo, den Tier-
parkLa Biomista.Für dessen weitläu-
fige Anlage wiederum wurden imJuni
neue Gebäude, ein Künstlerstudio und
Schauräume, eröffnet – nach dem Ent-
wurf von Mario Botta. So schliesst sich
auch dieser Kreis.

«TheWorthofLife»,imTeatrodell’architet-
tura,Mendrisio,bis 2.Februar 2020. Mit Aus-
stellungskatalog.
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