Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

Freitag, 1. November 2019 SPORT43


Ein Abgeschriebener wird zum Helden


Die ewigen Verlierer der Washington Nationals t rotzen dem schlechten Karma und gewinnen die World Series im Baseball


CHRISTOF KRAPF


Als der Schlagmann des Gegners den
letztenWurf dieserWorld Series ver-
passte, brachen auf der Spielerbank der
Washington Nationals dieDämme. Ste-
phen Strasburgstürmte gemeinsam mit
den Teamkollegen auf dasBaseballfeld
im Minute-Maid-Stadion von Houston
und schrie seineFreude in den texani-
schen Nachthimmel. Soeben hatte er
mit denWashington Nationals das sie-
bente Spiel gegen die Houston Astros
gewonnen und damit dieWorld Series,
die wichtigste Baseball-Meisterschaft
der Welt.
Bis Strasburg am Ziel war, dauerte es
zehnJahre. Im Laufe derKarriere wurde
aus dem Hoffnungsträger Strasburg der
überschätzte Strasburg und schliesslich
der frustrierte Strasburg. Dass er vom
ho chbegabten Pitcher zum Champion
werden würde, daran glaubten immer
weniger Experten.


Das brennende Schiff


Seit Strasburg 2009 im Draft der Ma-
jor League Baseball (MLB) an ers-
ter Stelle von denWashington Natio-
nals ausgewählt worden war, galt er
als jenerWerfer, der die Mannschaft
aus der Hauptstadt zum ersten Meis-
tertitel in der Klubgeschichte führen
sollte. Der Pitcher Strasburg, 31 Jahre
alt, zeigte immer wieder ansprechende
Leistungen, die Karriere war allerdings
auch vonVerletzungen und vomVer-
sagen in den entscheidenden Momen-
ten geprägt. DerTV-Sender ESPN be-
zeichnete ihn als den «am meisten ge-
hypten Draft-Pick der Geschichte»; das
war kein Kompliment.
Ähnlich schwierig wie derWeg von
Strasburg verlief jener derWashington
Nationals– und zwar seitJahrzehnten.
Vor 50 Jahren als Montreals Expos ge-
gründet und 2005 in die Hauptstadt der
USA verlegt, haftete den Nationals das
Versager-Image an. 50Jahre lang war-
tete die Baseball-Franchise auf den
Einzug in dieWorld Series, länger als
jedes andereTeam in der MLB. So-
wieso schienWashingtonkein guter
Platz fürBaseball zu sein:1924 gewan-
nen die damaligenWashington Sena-


tors dieWorld Series, danach passierte
95 Jahre lang: nichts.
EineDurststrecke von 95 Jahren,
das istBaseball-Folklore inReinkultur.
Die amerikanischenFans lieben Ge-
schichten von jahrzehntelanger Erfolg-
losigkeit, vonRückschlägen, vom gros-
sen Scheitern. Im Mai, als ein Drittel
der Baseball-Saison vorbei war, sah es
tatsächlich danach aus, als würden die
Nationals abermals versagen.
Von den ersten 50 Spielen hatte
das Team nur19 gewonnen,der Pit-
cher Strasburg und die gesamte Mann-
schaft spielten schlecht. Die Fans
waren wie gewohnt frustriert. Die Zeit-
schrift «Sports Illustrated» schrieb an-
gesichts derBaisse überWashington:
«Die Nationals sind wie ein brennen-

des Schiff, das mitten in einem Hurri-
kan gegen einen Eisberg prallt.»
Angesichts der schwachen Leistun-
gen und der vielen Niederlagen geriet
der Sportchef Mike Rizzo in die Kri-
tik. Er hatte vor der SaisonWashing-
tons Superstar Bryce Harper zu den
Philadelphia Phillies ziehen lassen und
die frei gewordenenFinanzen in Pit-
cher investiert. Rizzo verzichtete dar-
auf, jungeTalente zu engagieren.Er ver-
pflichtete stattdessen altgediente Spieler


  • dasTeam der Nationals hatte in die-
    ser Saison das höchsteDurchschnitts-
    alter der Liga.
    DieWende zum Guten folgte imJuni
    und ist eng mitStephen Strasburgver-
    knüpft. EinemTrainer der Nationals
    war aufgefallen, dass Strasburg unbe-


wusst mit Gesten und derKörperspra-
che zeigte, wie er denBall werfen würde.
Für die Gegner, die Strasburg aufVideo
studiert hatten, war er ein offenes Buch.
Zusammen mit demTrainer arbeitete
der Pitcher daran, die Schwäche abzu-
trainieren. Strasburg spielte plötzlich
besser, und auch Max Scherzer, der auf
dem Papier besteWerfer der Nationals,
erreichte wieder das gewohnte Niveau.
Im Lauf der Saison formierte sich in
Washington die besteWerfergruppe der
ganzen Liga.
Der Plan des General Managers
Rizzo ging auf, das Team fing sich und
zog in dieWorld Series ein, den gros-
sen Final. Doch in der Serie gegen die
HoustonAstros drohten dieWashington
Nationals abermals zurLachnummer

zu werden. Sie gewannen zwar die ers-
ten beiden Spiele auswärts in Houston
und hatten die Chance, im eigenen Sta-
dion den Meistertitel zu gewinnen – vier
Siege braucht es dafür.
Weil inWashington aber niemand
Erfahrung hatte, wie man den Gewinn
der World Series gebührend feiert, setz-
ten dieVerantwortlichen eine Probe der
Meisterfeier an. EinVideo davon fand
denWeg ins Internet;der Spott der eige-
nen und der gegnerischenFans war den
Nationals sicher. Eine solcheverfrühte
Probe sei «schlechtes Karma», schrieb
ein Nutzer aufTwitter .Und mit dem
Karma ist imBaseball nicht zu spassen.
Kaum eine Sportart ist derart vonAber-
glauben durchzogen. StrasburgsTeam-
kollege Scherzer isst beispielsweise vor
jedem Spiel einRoastbeef-Sandwich.
Und während einer Siegesserie werden
die Trikots , die Helme und dieBaseball-
Caps nicht gewaschen.

Die Stunde von Strasburg


Ein Fan bracht dieÄusserungen von
seinesgleichen und Experten aufTwit-
ter auf denPunkt: «DerBaseball-Gott
runzelt ob dieser Probe die Stirn.» Und
tatsächlich: Die Nationals verloren drei
Heimspiele in Serie und lagen in der
Serie plötzlich 2:3 zurück. Houston
fehlte noch ein Sieg zum Meistertitel.
Ein einziger Sieg.
Doch dann schlug die Stunde des Ste-
phen Strasburg. Im sechsten Spiel ge-
lan g ihm eine phantastische Leistung;
Houston erzielte nur zwei Punkte und
brachte lediglich fünfWürfe von Stras-
burg insFeld. Endlich hatte Strasburg
im entscheidenden Momentbrilliert; er
sollte später zum wertvollsten Spieler
der World Series gewählt werden. Die
«WashingtonPost» bezeichnete seinen
Auftritt als «legendär».
Die Nationals gewannen auch die
entscheidende siebentePartie in der
Nacht auf Donnerstag und holten den
ersten Meistertitel – dank vierAuswärts-
siegen.Eine Best-of-7-Serie ohne Heim-
sieg für sich zuentscheiden, das hat bis-
her weder einTeam in der MLB noch
in der NBA oder der NHL geschafft.
Auch das passt zumWeg derWashing-
ton Nationals und ihres Pitchers.

Meisterpitcher Stephen Strasburg: So dynamischkann Baseballsein. BILL STREICHER / REUTERS

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