Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

44 SPORT Freitag, 1. November 2019


Grosser Abschluss eines grossen Turniers

Im Rugby-WM-Final ist England gegen Südafrika leicht favorisiert – der Match bietet Abwechslung und verspricht Spannung


ROD ACKERMANN


Wo zum Donnerwetter bleiben die
«All Blacks»? Neuseelands dominie-
rendeRugbynationalmannschaft,der
grosse Stolz ihrer Heimat und bis letz-
ten Sommer 509Wochen lang Leader
derWeltrangliste,mit anderenWor-
ten: das Mass aller Dinge im Spiel mit
dem ovalenBall, bestreitet nach den
Titelgewinnen von 2011 und 20 15 dies-
mal nur den unbedeutenden Match um
den 3.Rang. Die Neuseeländer spie-
len amFreitagmorgen um 10 Uhr MEZ
inTokio gegenWales. Dass sie denFi-
nal vom Samstag verpassen, ist eine na-
tionale Schande. Das neuseeländische
Staatsfernsehen schmollt und verzich-
tet auf eine Übertragung des Spiels um


Platz 3. Es ist mit ein Beweis dafür, wie
tief der Schock sitzt bei denaufRugby
versessenen Neuseeländern.
Die Engländer waren es, die den
ewigen Favoriten im Halbfinal die
Show stahlen – mit einem ungefährde-
ten19:7-Sieg.Meisterhaft vorbereitet
durch ihren Coach EddieJones, einer
Mischung aus genialemTaktiker und
grimmigemPauker,hatte sich dasTeam
im Zeichen derRose von den Männern
in Schwarz und ihrerAurader Unbe-
siegbarkeit in Grossevents nicht beein-
drucken lassen. Die Engländer gingen
schonin der2. Minute inFührung und
kontrollierten das Spiel fortan in sämt-
lichenBelangen; entsprechend ausgelas-
sen fiel am Schluss ihrJubel aus. Mag
sein, dass derTitelhalter seiner Sache

allzu sicher war und der Griff nach der
dritten Krone inFolge allzu verwegen.
Doch kaum bestritten wird in Neusee-
land nun die Notwendigkeit eines Neu-
anfangs mit frischen Kräften.

Neuauflage von 2007


Am Samstag tritt der «All Blacks»-Be-
zwingerinYokohama zumFinal gegen
Südafrika an. Es ist dies eine Neuauf-
lage des Endspiels von 2007 inParis, wo
die «Springboks» nach ereignisarmen 80
Minutenund ohne einzigenTr y mit15:6
siegreich gebliebenwaren–ein Match
zumVergessen, aber zugleich der bisher
letzte WM-Höhepunkt für eine Mann-
schaft, die sich vor allem durch ein Spiel
mit demFuss sowie eine knochenharte

Defensive auszeichnet. Gewinnen die
Südafrikanerabermals, schliessensie
mit dem dritten WM-Titel nach 1995
und 2007 zu Neuseeland auf. Bleiben
hingegen die Engländer siegreich, so
ist es ihr zweiterTitelgewinnnach 2003
und zugleich der zweite,der nicht an
einenVertreter der südlichen Erdhalb-
kugel geht.
Sollten die Halbfinals einenVor-
geschmack gegeben haben, so dürfte
es diesmal anders laufen als vor zwölf
Ja hren, und um einiges spannender.
Den Engländern geht es darum, hinter
ein berauschendes Comeback das ab-
schliessendeAusrufezeichen zu setzen.
Auch und gerade als Antwort auf 2015,
als sie – immerhinWorld-Cup-Gast-
geber– bereits in derVorrunde aus-

schieden. Zum Gespöttjener Nation
geworden, wo derRugbysport erfun-
den worden ist, rappelten sie sich unter
Führung des neu engagierten Coachs
EddieJones auf und kamen imRan-
king zügig wieder nach vorn.Obwohl
ihnen im letzten internationalen Ein-
satz von Bedeutung, dem diesjährigen
Sechs-Nationen-Turnier, längst nicht
allesnachWunsch gelang, wie etwa das
Unentschieden gegen Schottland nach
anfänglicher 31:0-Führung zeigte, leg-
ten sieinJapan eineReihe überzeugen-
der Erfolge an denTag. Im Mittelpunkt
stehtder Captain OwenFarrell imDuo
mit dem Fly-halfTomFord.

Formkurve zeigt nach oben


Auch bei den Südafrikanern, die nach
dem verlorenen WM-Final 20 15 eine
Folge eher farbloserPerformances ver-
zeichneten, zeigt dieFormkurve nach
oben. Im vergangenenJahr meldeten sie
sich mit einem 36:34-Auswärtssieg so-
wie einem16:16-Unentschieden gegen
Neuseeland zurück. Die Anfang 20 18
vorgenommene Erneuerung auf dem
Chefposten zahlt sich aus: UnterJohan
«Rassie» Erasmus haben die «Boks»
ihre alte Sprungkraft wiedergefunden.
Symbolfiguren sind der blonde Irrwisch
François «Faf» De Klerk mit seinem lin-
ken Zauberfuss sowieFrançois Steyn,
der bereits beimTitelgewinn von 2007
dabei war und als 32-Jähriger mit sei-
nemLandsmann Os duRandt gleich-
ziehenkönnte. DuRandt war 1995
und 2007Weltmeister geworden.Auch
wird ein bedeutendes Zeichen gesetzt,
indem das Amt des Captains erstmals
einem dunkelhäutigen Spieler übertra-
gen wurde, dem 28-jährigen SiyaKolisi.
Obwohl der inRugbykreisen unum-
gängliche Seitenblick auf dieWettquo-
ten zuletzt eine leichteTendenz zuguns-
ten Englands erkennen liess, präsentiert
sich der Match imYokohama Inter-
national Stadium (Fassungsvermögen
72 327 Zuschauer) offen: Es ist ein ver-
dienter Schlusspunkt eines bemerkens-
wertenWorldCup.

Im innerenKreis


Dessen einziger Schönheitsfehler be-
steht in der gleichbleibenden Zahl der
Finalteilnehmer.An den achtFinals
von1987 bis 2015 waren insgesamt nur
fünfVerbände vertreten, nämlich Neu-
seeland (3Titel / 4Finals),Australien
(2/3), Südafrika (2/3), England (1/3)
undFrankreich (0/3), und auch diesmal
rekrutiert sich der Champion aus die-
sem inneren Kreis. Dass dies nicht für
immer so bleiben muss, bezeugt die er-
staunlichePerformance des Gastgebers
Japan. Erstmals überstanden die «Brave
Blossoms» dieVorrunde,und obwohl
dasTeam imViertelfinal gegenAustra-
lien mit 3:26 unterging, löste es inRot
undWeiss eine überwältigende Begeis-
terungswelle aus. Dass diese Anteil-
nahme eine Zunahme lizenzierter Spie-
ler bewirkt, ist augenscheinlich. Gegen-
wärtig sind es 12 5000 ; es ist das welt-
weit viertgrössteTotal hinter England,
Südafrika undFrankreich.
Als Handicap für dieJapaner und
deren internationale Ambitionen
dürfte sich indes die geografischeLage
erweisen.Weit entfernt von den Zen-
tren desRugbysports, haben die «tapfe-
ren Kirschblüten» vorerst Unterschlupf
bei den grossen vier der südlichen
Hemisphäregefunden – Neuseeland,
Australien, Südafrika und Argentinien.
Nach demVerfliegen derWorld-Cup-
Euphorie wird es dem internationalen
Verband (IRB) obliegen, demAufstei-
ger ausFernost die Hand zureichen.
Immer vorausgesetzt, die Erweiterung
des etablierten Zirkels ist ihm wirklich
ein Anliegen.

Müde und angeschlagen kämpft sich Belinda Bencic


an den lukrativen WTA-Finals in den HalbfinalSEITE 42


Erst hochgelobt, dann abgeschrieben – Stephen St rasburg


gewinnt mit Washington den Tite l im Base ballSEITE 43


Globetrotter Jones gegen den Erasmus vom Kap – die Trainer im Duell


Ack.·So unterschiedlich, wie dieFina-
listen sind, so sehrkontrastieren auch
diePersönlichkeiten ihrerTr ainer. Auf
der einen Seite der England-Trainer
EddieJones, geboren inTasmanien und
ein Globetrotter desRugbys, auf der
anderen SeiteJohan «Rassie» Erasmus,
der seine südafrikanische Heimat kaum
je verliess.AlsTr ainer warJones für
Klub-, Universitäts- und Nationalmann-
schaften inAustralien,Ja pan, England
und Südafrika tätig, wogegen sich Eras-
mus’ einziges ausländisches Gastspiel
auf eine Saison mit dem irischen Klub
von Munster (2016/17) beschränkte.
Logisch, dass sich die beiden in
Sachen internationaler Erfahrung
kaum vergleichen lassen.Während der
59-jährigeJones, dessen Mutter japani-
scher Abstammung ist, nach derFinal-
teilnahme mitAustralien 2003 und der


WM-Premiere mitJapan 2011 bereits
seinen drittenTitelkampf bestreitet, ist
es für den zwölfJahre jüngeren Eras-
mus der erste.Während der Coach der
Engländer vor vierJahren eine Mann-
schaft übernahm, die in einem histori-
schenTief steckte, führt sein vor erst
anderthalbJahren ins Amt gehobener
Gegenspieler einTeam an, das ausTr a-
dition zuvorderst mitmischt und an fast
allenTurnieren zum engeren Kreis der
Favoriten zählt.
Und stand Erasmus als Aktiver in
denReihen der «Springboks» (1997
bis 20 01 ), so brachte esJones in seiner
Spielerkarriere nicht übers Klubniveau
hinaus.Wie die Karriere,soauch der
Charakter. WirdErasmus, der Brillen-
träger, allgemein als ein Herr Direktor
wahrgenommen, so geniesst der ener-
giegeladeneJones, eher klein von Sta-

tur, einenRuf als polarisierendeFigur.
Das hinderte die Grossbank Goldman
SachsvorJahren nichtdaran, ihn als
Berater für ihrejapanischen Geschäfte
zu engagieren.
Bei allen Gegensätzen nicht zu
übersehen sind die Gemeinsamkeiten.
Jones wie Erasmus haben es fertig-
gebracht, ihrenTeams neuen Schwung

zu verleihen.Das Team mit demWahr-
zeichen derRose ist innert knapp vier
Jahren zu alter Grössezurückgekehrt
und überschüttet seinen Coach des-
halb mit Superlativen, derweil die
schwächelnden Südafrikaner in der
Person ihres neuen Chefs einen Heils-
bringer sehen.Weil Jones die «Brave
Blossoms»vor vierJahren im WM-
Gruppenspiel zum sensationellen Sieg
gegen die Südafrikaner führte und
ausserdem fliessendJapanisch spricht,
sind ihm imReich der aufgehenden
Sonne dieSympathien sicher. Da-
gegen ist Erasmus ungeachtet seines
erfolgreichenWorld-Cup-Parcours ein
weitgehend Unbekannter geblieben.
Wie auch immer:Von beiden Natio-
naltrainern wird kategorisch erwartet,
dass sie dieWebb-Ellis-Trophäe nach
Hause bringen.

Viel Grund zurFreude: Die englischen Spieler bejubeln ihrenTeamkollegenBen Young (rechts).Wieschlagen sie sichimFinal? AARONFAVILA / AP


REUTERS,

AP

Eddie Jones
Trainer England

Johan Erasmus
Trainer Südafrika
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