Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

50 GESELLSCHAFT Freitag, 1. November 2019


IN JEDERBEZIEHUNG


Verheiratet sein


ist besser


Von Bi rgit Schmid


Wenn jemand nach zehn oder fünfzehn
Jahren imKonkubinat heiratet, zeigen sich
Freunde undFamilie immer überrascht.
Manche irritiert:Warum das jetzt noch?Vo r
allem, wennkein Kind unterwegs ist, das
Paar altershalber aber mit einer Heirat auch
noch nicht finanziell vorsorgen möchte.
Vielleicht hat der späteromantischeEnt-
scheid eine pragmatische Seite,magsein.
Aber in vielenFällenist es nachträglich ein
Bekenntnis zueinander, das ich vorbehaltlos
befürworte.Während jene, die nach einem
Jahr Bekanntschaft geheiratet haben, sich
schon wieder scheiden lassen, schliessen an-
dere in dieser Phase den Bund fürs Leben,
das sie längst zusammen verbringen.
Dazu gehören Schwule,die einst so ge-
übt waren in der wilden Ehe.Sie kämpfen
für dasRecht auf die staatlich sanktionierte
Lebensform, da diese noch immer das ver-
körpert, was viele unter Liebe verstehen:
Geborgenheit, Beteiligtsein,Verlässlichkeit.
Es braucht ja fast Mut, «Ja,ich will»
zu sagen – heute, da Beziehungen unver-
bindlicher werden und man glaubt, dass
es immer noch jemandPassenderen gibt.
Bleibt man ledig, kann man einePartner-
schaft jederzeit ohneAufwand beenden.
Die Ehe verpflichtet.Zumindest kurzfristig.
Natürlich lässt sich nun einwenden, was
Spätentschlossene dann oft sagen: «Es än-
dert sich ja nichts, wir gehören jetzt ein-
fach auch auf demPapier zusammen.»Das
stimmt nur bedingt, denn das Ereignis des
Heiratens kann dasVerhältnis zum andern
sehr wohl vertiefen. Man feiert die Liebe,
alles ist erhöht. Es gibt dem, was man in den
vielenJahren zusammen erlebt hat, noch
einmal eine Bedeutung. Man bekräftigt so,
dass man gemeinsam alt werden will. Hei-
raten macht einen Unterschied.
Das ist auch wissenschaftlich erwiesen:
Die Ehe hat sogar gesundheitlicheVorteile.
Der PsychologeJames Coan vonderUni-
versität vonVirginia fand heraus, warum.
Mittels Hirnscanskonnte er zeigen, dass
sichVerheiratete in stressigen Situationen
schneller beruhigen alsPersonen, die ohne
Tr auschein zusammenleben.Anders ge-
sagt:Das Gehirn verbindet dasKonkubinat
mit fehlendem Commitment und kann sich
nicht entspannen.
Wie kam derForscher zu dieser Erkennt-
nis? Er unterzog seine Probanden einer
Magnetresonanztomografie, während deren
sie leichte Stromstösse befürchten mussten.
Dabei hielten sie entweder die Hand des
Partners, jene einer fremdenPerson oder
keine Hand.Dank der Hand des Ehepart-
ners in der eigenen schoss der Puls derVer-
heirateten nicht in die Höhe. Siefühlten sich
so sicher und gehalten, dass sie den Schutz-
schild aufgaben. Sie gaben sich buchstäblich
in die Hand einesVertrauten, der hier der
Angetraute war.
Allerdings, und das ist das Interessante an
der Studie, zeigten auch jenekeine Stress-
reaktion, die nicht verheiratet waren, aber
sich verheiratet fühlten. Neben heterosexu-
ellenPaaren wurden nämlich auch Homo-
sexuelle untersucht.Dazu muss man wissen,
dass im BundesstaatVirginia Schwule nicht
zivilrechtlich heiratenkönnen. Die Hälfte
der schwulenProbanden betrachtete sich
trotzdemals Ehepartner und gab sich in
ihrem Umfeld auchals solcheaus. Die andere
Hälfte sagte, sie lebe nur zusammen. Obwohl
rechtlich in derselben Situation,reagierten
die schwulenPaare, die sich einander voll und
ganz verschriebenhatten, beim MRI eben-
falls weniger alarmiert.Auch sie scheinen
besser geschützt, wenn Gefahr droht.
Heiraten mag veraltet sein, spiessig und
einengend. Erstaunlich ist trotzdem, dass es
weiterhin den Massstab setzt, um die Hin-
gabe für einen andern zu beschreiben.

BESONDERE KENNZEICHEN


Ein Plädoy er fürs Leben

Unter den 15- bis 29-Jährigen ist Suizid diezweithäufigste


Todesursache. StefanLange möchte verzweifelte


Menschen viaYoutube errei chen –indem er von seinem


eigenen Suizidversuch erzählt. VON CLAUDIA MINNER


Manchmal ist ein kleiner Moment ein grosser. Die
Sonne scheint, die Luft ist warm, der Himmel blau.
StefanLange legt sein Mountainbike ins Gras,
wischt sich ein paar Schweissperlen von der Stirn,
setzt sich auf eineBank und betrachtet die impo-
sante Bergwelt des Oberengadins. Eine Mischung
aus Lebensfreude undDankbarkeitbreitetsich in
ihm aus, erstaunt und erfüllt ihn. Er fängt an zu wei-
nen. Und ist plötzlich sehr glücklich, dass er lebt
und diese Schönheit geniessen kann. «Das war heil-
sam»,erzähltLange in seinerYoutube-Serie mit
dem düsterenTitel «Komm, lieberTod».
Es ist einMoment, auf den er lange gewartet
hat. ZweiJahre vorher rührte er eine Überdosis
Tabletten in ein Erdbeerjoghurt, um zu sterben.
Er war damals 29,hattegerade seinBWL-Studium
in Münster beendet, wollte zu seinerFreundin in
die Schweiz ziehen, als sie sich plötzlich von ihm
trennte. Der Schmerz sei unerträglich gewesen, wie
eineVerbrennung, «sokrass». Er schüttelt denKopf,
schaut in dieFerne. Mehr als zweiJahrzehnte liegt
sein Suizidversuch zurück. Und doch wirkt dieVer-
gangenheit präsent, wenn der 54-jährige Betriebs-
wirt undAutor von ihr erzählt.


Belastete Kindheit


Es war nicht nur der Liebeskummer, der ihm da-
mals den Lebensmutraubte. «Man wird nicht von
jetzt auf gleich suizidal», sagt StefanLange. Seine
Vorgeschichte ist lang und dunkel. Er spricht von
seinemVater, derihn abfällig«Würstchen» nannte
und fast täglich verprügelte. Von seiner Mutter, die
schweigend wegguckte.Von dem Gefühl, nichts
wert zu sein. DemVersuch, diesen Schmerz später
mit Alkohol, Drogen undPartys zu betäuben.Vo n


depressiven Gedanken und dem wiederkehrenden
Wunsch, für immer einzuschlafen. Schon als klei-
nerJunge fand er dieVorstellung vomTod tröst-
lich.«Wenn sich das Leben wertlos anfühlt, ist man
schneller bereit, es zu beenden», sagt er.
Über tausend Schweizer sterben jedesJahr an
Suizid, dieTodesfälle durch assistierte Sterbehilfe
sind darin nicht mitgezählt.Laut WHO ist Suizid
unter den15- bis 29-Jährigen nach Unfällen die
zweithäufigsteTodesursache. StefanLange will an-
derevor dem Suizid bewahren. Er will mit seiner
Geschichte zeigen, dass es einenAusweg gibt und
jedes Leben wertvoll ist. Und dassreden Lebenret-
ten kann. Er hat ein Buch geschrieben, eine biogra-
fischeYoutube-Serie veröffentlicht und hältVor-
träge an Schulen, Universitäten, aufKongressen.
StefanLangekommt in denVideos als gemüt-
licherTyp mit freundlichemLächeln rüber. Er trägt
immer ein kariertes Hemd mit hochgekrempelten
Ärmeln, seine Hände liegen ineinanderverschränkt
auf demTisch, zwischendurch zündet er sich eine
Zigarette an. Ererinnertsichanbeeindruckend
viele Details, redet bildhaft und direkt.Wenn er
etwas krass findet, sagt er «meineFresse».
Manche werfen ihmvor, er sei zuoffen, daskönne
zu Nachahmertaten verleiten. Doch er ist überzeugt
davon, dass seine Schilderungen das Gegenteil be-
wirken.«Werwissen will, wie man sich umbringt, fin-
det im Netz ohnehin alle Infos. Ich erzähle aber ja
nichtnur von meinem Suizidversuch, sondern auch,
wie ich aus dem Elend herausgefunden habe.»
«Vom Selbstmörder zum Lebensretter», so kürzt
er seine Biografie ab. Rund 1,7 Millionen Mal wur-
den die kurzenVideoclips der Serie angeklickt, die
Titel wie «Ein Lebenim Bettkasten» oder «Jäger-
wurst undJahresbilanz» tragen. Über 500 Mails und
KommentareaufYoutube undFacebook haben
ihnseitdem erreicht.Viele danken ihm für seine
Ehrlichkeit und schreiben, wie sehr er zum Nach-
denken anrege,Trost spende und Mut mache.

Er fühlte sich «lebendigtot»


Dass er seine Überdosis überlebt habe, grenze an
einWunder, sagen die Ärzte später. StefanLange
hasst diesesWunder, organisiert sich ein stärkeres
Beruhigungsmittel, wird davon abhängig und rutscht
in eine monatelange Lethargie. DenKontakt zu sei-
nenFreunden hat er längst abgebrochen, und wenn
jemand anruft, geht er nicht ansTelefon. Sein Leben
besteht ausTabletten, Bier und Zigaretten, die meiste
Zeit liegt er in seinem Zimmer, starrt an die Decke,
fühlt sich leer und verwahrlost.Wie «lebendig tot».
Wie hat er damals zurück ins Leben gefun-
den? «Selbst, wenn du in einer schweren depres-
siven Phase bist undalles sinnlos erscheint,steckt
in dir immer noch ein kleinesFünkchen Hoffnung,
dass es besser werdenkann», antwortet er. Dass er
diesenFunken in sich entdeckt, verdankt er einer
Freundin, die er zufällig trifft, als er gerade auf dem
Weg in die Bibliothek ist. Eigentlich will er sich dort
Bücher über Sterbehilfe ausleihen. Stattdessen be-
ginnt an diesemTag die Geschichte seinerRettung.
«Dir geht es schlecht, lass unsreden», sagt Anja.
Sie stelltFragen, hörtgeduldig zu, verurteilt nicht.
In den nächsten Monaten kümmert sie sich um ihn,
gibt seinem Leben eine Struktur und macht ihm
klar, dass ereineTherapie braucht. StefanLange
fühlt sich geborgen und «endlich nicht mehr nur
wie einVersager». Daist jemand, der auf ihn ach-
tet. Ein entscheidendes Signal für jemanden, der
kurz davor ist, sich aufzugeben.Auch das will er
mit seiner Geschichte vermitteln. «Durch die Ge-
spräche mit Anja und meinemTherapeuten habe
ich verstanden, dass ich eigentlich nicht mein Le-
ben, sondern nur einen unerträglich traurigen Zu-
stand beenden wollte», sagt er. Dieser Gedanke ist
ihm wichtig. Denn wer daserkennt, lässt sich helfen.
Lange durchsteht einen Entzug, macht eine Psy-
chotherapie, schreibt seine Geschichteauf. Er zieht
in die Schweiz, weil er sich beweisen will, dass er
ohne seine grosse Liebe dort leben kann. Er geht
wandern, fährt vielVelo. Und spürt in «dieser klei-
nen heilenWelt» erstmals wieder so etwas wie Un-
beschwertheit und Glück.«Heidis Heilung» heisst
dieYoutube-Folge, in der er erzählt, wie verbun-
den er sich der Schweiz fühlt.Für vieleJahre wird
sie seine neue Heimat. Er arbeitet in der Hotellerie,
später als Makler, baut eine eigeneFirma auf,lässt
sich einbürgern. Hier lernt er seinePartnerinken-
nen, mit der er heute in der Nähe von Hannover lebt.
Ist die Suizidgefahr heute aus seinem Leben ge-
bannt? Man sei nie ganz «safe», antwortet er. Er er-
lebt weiterhin depressive Phasen. Abersein Leben
hat einen Sinn. Er hat gelernt, dass man über alles
reden und sich Hilfe holen kann.Das gibt ihm eine
Stabilität, die er früher nicht hatte. «Ein Suizid ist
keine Lösung», sagt er. «Denn suizidalesVerhalten
ist erlerntesVerhalten. Und es ist jederzeit möglich,
das eigeneVerhalten zu ändern.»

Weiter e Infos unter http://www.stefan-lange.ch

«Ich habe verstanden, dass ich eigentlich nicht mein Leben,sondern nur einen uner-
trägli ch traurigen Zustand beendenwollte»,sagt StefanLang e. PD

Hier bekommen Sie
Hilfe
Wenn Sie selbst Suizid-Gedanken haben
oder jemandenkennen, der Unterstüt-
zung benötigt, wenden Sie sich bitte an
die Berater derDargebotenen Hand. Sie
können diese vertraulich und rund um
die Uhr telefonisch unter der Nummer
143erreichen.
Spezielle Hilfe für Kinder undJugend-
liche gibt es unter der Nummer147.
Free download pdf