Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

52 FORSCHUNG UND TECHNIK Freitag, 1. November 2019


Das Masernvirus zerstört das Immungedächtnis


Wer Maserndurchgemacht hat, ist lebenslangvor demVirus geschützt. Gleichzeitigaberschwächelt seine Abwehr


bei anderen Krankheitserregern. Forscher sagen,warum. VONALANNIEDERER


An den Masern entzündet sichregel-
mässig der Streit zwischen Impfbefür-
wortern undImpfgegnern. Das liegt
daran, dass die Infektionskrankheit von
vielen als nicht so gefährlich angesehen
wird.AusglobalerPerspektive sind die
Masern aber eine häufigeTodesursache.
So sterben lautWeltgesundheitsorgani-
sationjedesJahr mehrals 10 0000 Per-
sonen daran, mehrheitlich Kinder. Und
dies , obwohl es seit den1960erJahren
eine wirksame Schutzimpfung gibt.
Vor vierJahren hat eine epidemio-
logische Studie aus England, den USA
und Dänemark aufhorchen lassen. Die
Arbeit zeigte, dass das Masernvirus
seine Opfer nicht nur direkt «umbringt».
Es macht sie auch anfälliger für andere
gefährliche Infektionen – und das auch
noch zwei bis dreiJahre nach überstan-
denen Masern.Wie dieserKollateral-
schaden zustandekommt, hat man bis-
her kaum verstanden. Zwei neue Stu-
dien in denFachzeitschriften «Science»
und «Science Immunology» warten nun
mit wichtigen Erkenntnissen auf.


Tests beireligiöserGemeinde


In beiden Arbeiten habenWissenschaf-
ter das Blut vonKindern untersucht,
die einerreligiösen Gemeinde in den
Niederlanden angehören. Die Mitglie-
der lassen ihre Sprösslinge nicht imp-
fen. Dennoch willigten sie in dieTests
der Forschergruppen ein. Diese unter-
such ten das Blut vor und nach einem
Masernausbruch.
Wie erwartet, infiziertedas Masern-
virus bei den Kindern die weissen
Blutzellen.Weil diese ZellenTeil des
Immunsystems sind, führt ihr Abster-
ben – das lässt sich imLabor messen



  • zu einer akuten Immunschwächung.
    So viel wusste man bereits.Auch, dass
    die Zahl der Immunzellen mit der Ge-
    nesungrasch wieder ansteigt.Wenn die
    Kinder nun aber trotzdem fürJahre an-
    fällig für andere Infektionskrankheiten
    bleiben, muss es weitereGründe für die
    Immunschwäche geben.Auf der Suche
    nach einer Erklärung wurden Michael
    Mina von der Harvard School of Public
    Health in Boston,USA,und seineKolle-
    gen bei denAntikörpern fündig.Mit die-
    sen Eiweissstoffen bekämpft der Orga-
    nismus gefährlicheViren undBakterien.
    Mit einem neuen molekularbiologi-
    schen Instrument (VirScan)konnten die
    Forscher in den Blutproben der Kinder
    die Antikörper quantitativ messenund
    Tausenden von verschiedenenViren zu-
    ordnen. Den so identifiziertenPatho-
    genen musste das Immunsystem schon
    einmal begegnet sein. Es hatte gegen
    die Eindringlinge spezifische Antikör-
    per bereitgestellt, um bei einemerneu-
    ten Wiedersehen vorbereitet zu sein.


Dieses Schutzsystem wird nun aller-
dings durch das Masernvirus torpediert.
Denn wie Minas Gruppe zeigenkonnte,
schrumpfte dasRepertoire der Antikör-
per bei den Kindern nach der Maserner-
krankung um 11 bis 73 Prozent.
Eine ähnlicheReduktion fanden die
Wissenschafter bei Experimenten mit
Makaken, bei denen sie die Antikörper-
vielfalt fünf Monate nach der Masern-
infektion untersuchten. DieForscher
bezeichnen das Phänomen als Immun-
amnesie: DerKörper hat vergessen, wie
er auf bekannte Erregerreagieren muss.
Bei Kindern, die eine Masernimpfung
erhalten hatten, liess sichkeine solche
Immunamnesie nachweisen.

Wie aber gelingt es dem Masern-
virus, das Antikörperrepertoire zu ver-
nichten?Das wollte die zweiteForscher-
gruppe unter Leitung von ColinRussell
von der Universität in Amsterdam her-
ausfinden. Sie sequenzierte dazu die im
Blut der Kinder enthaltenen Rezepto-
ren von Immunzellen. Sokonnten sie
die sogenannten B-Zellen, die für die
Antikörperproduktion zuständig sind,in
zwei Arten unterteilen: naive B-Zellen
und Gedächtniszellen.Während Erstere
Antikörper gegen neue Erreger produ-
zieren,we rden Letztere im Kampf gegen
bereits bekannte Erreger benötigt.
Wie die Studie nun zeigt, dezimiert
das Masernvirus beide Zell-Populatio-

nen. Damit wird das Immunsystem un-
reifer und verliert über die fehlenden
spezifischen Antikörper sein Gedächt-
nis. Die langlebigen Gedächtniszellen
könne nur das Masernvirus infizieren,
schreibt Mina auf Anfrage.Andere Er-
reger und das Masern-Impfvirus seien
dazu nicht in derLage, weil sie sich nicht
über einen bestimmtenRezeptor Zu-
gang zu den Zellen verschaffenkönnten.
Laut RussellsGruppewar der Effekt
auf das Immungedächtnis bei einigen
Kindern so gross, als hätten sie immun-
suppressive Medikamente erhalten.
Welche Auswirkungen das haben kann,
demonstrierten dieForscher anFrett-
chen, die sie gegen Grippe impften. In-

fizierten sie dieTiere später mit Masern-
viren, nahm ihre Immunität gegen das
Grippevirus so stark ab, dass sie nach
einer Exposition mit demVirus häufi-
ge r und schwerer erkrankten alsFrett-
chen ohne Masern.Das illustriert, dass
die Masern dieWirkung von Impfungen
gegen andere Erreger aufhebenkönnen.

Wichtigfür PublicHealth


FürChristoph Berger vom Kinderspital
Zür ich zeigen die Ergebnisse, dass die
Masernimpfung nicht nur für dieKon-
trolle des Masernvirus zentral ist, son-
dern auch für den Erhalt einer Immuni-
tät gegen anderePathogene. Das habe
Implikationen für die öffentliche Ge-
sundheit, insbesondere in Entwick-
lungsländern, wo die Masern besonders
häufig seien und die Menschen oft auch
noch mit anderen Erregern infiziert
seien. Hier sei der Nutzen der Masern-

impfung wahrscheinlich noch grösser,
als man bisher angenommen habe.
Er selber werde die neuen Erkennt-
nisse bei der Beratung von impfkriti-
schen Eltern einsetzen, sagt Berger. Die
Masernimpfung wird in der Schweiz
neuerdings schon mitneun und zwölf
Monaten empfohlen. Die leichteVor-
verlegung sei auf die Situation in der
Schweiz zugeschnitten, so der Infektio-
loge.Weil esrelativ viele Masernfälle
gebe, müsse man die Säuglinge, die öfter
als ältere Kinder eine fataleKomplika-
tion entwickeln, optimal schützen.Da-
bei nehme man in Kauf, dass die Impf-
wirkungetwasgeringerausfalle,alswenn
man einige Monate später immunisiere.

Eine Stiftung macht stromaufwärts sauber


The Ocean Cleanuphat bereits einen riesigenMüllschlucker auf demPazifikinstalliert und wendet sichnunFlüssen zu


HELGA RIETZ


Erst vor wenigenWochen verkündete
The Ocean Cleanup, dass ihr giganti-
scher Müllschlucker auf demPazifik
die Arbeit aufgenommen habe. Nun
kommen die Flüsse an dieReihe. Ein
autonomes,mit Solarzellen betriebe-
nes Roboterschiff namens «Intercep-
tor» soll ab sofort all den Plastikmüll
aufsammeln, der aus Flussmündungen
in dieWeltmeere treibt.Das gabThe
Ocean Cleanup,eine Stiftung mit Sitz
in den Niederlanden, am vergangenen
Wochenende bekannt.
Der «Interceptor» (zu Deutsch
Sammler, Auffangkanal,aber auch Ab-
fangjäger) ähnelt einem Katamaran,
zwischen dessenRümpfen einFörder-
band aus Drahtmaschen an derWasser-


oberfläche treibenden Müll abschöpft.
Nach kurzerFahrt auf demFörderband
fällt der Müll in einen Container, der
wiederum zwischen den beiden Boots-
rümpfen auf einem Floss schwimmt.
Ist der Container voll, wird die Müll-
sammlung unterbrochen, bis der Be-
hälter geleertretour ist. Schwimmende
Barrieren zwischen dem Ufer und dem
Ankerpunkt des Schiffes sorgen dafür,
dass auch Müllteile, die nicht direkt auf
das Förderband treiben, von der Strö-
mung dort hingetragen werden.Das
geht, wenn dieBarrieren versetzt zuein-
ander installiert werden, auch ohne Be-
einträchtigung des Schiffsbetriebs.
ZweiSysteme dieser Art seien be-
reits in Betrieb, verkündetThe Ocean
Cleanup: eines in Malaysia, ein weiteres
in Jakarta, Indonesien.Weitere Müll-

sammler sollen inKürze inVietnam,der
DominikanischenRepublik, inThail and
und in den USA installiert werden. Bis
2025 wollen die Niederländer gar die
tausend amstärksten verschmutzten
Flüsse derWelt auf diese Art von Plas-
tikmüll befreien.
Damit entkräften die Ingenieure und
Aktivisten um Boyan Slat, den Grün-
der und CEO vonThe Ocean Cleanup,
einen der zentralen Kritikpunkte, der
stets gegen ihre Pläne vorgebracht wird:
dass nämlich, solange jährlich gegen
8MillionenTonnen Plastikmüll neu ins
Meer geschwemmt werden, jederVer-
such, diesen Müll wieder aus dem Meer
zu entfernen, scheitern muss.
Ein Allheilmittel ist auchder neue
«Interceptor»nicht.Nochistvölligoffen,
wie gut der schwimmende Sammelrobo-

ter mit den inKüstennähe oft schwieri-
gen Bedingungen zurechtkommen wird,
etwa Gezeiten,variierendenPegelstän-
den und Fliessgeschwindigkeiten oder
harschemWind. Mikroplastik mitKorn-
grössen von weniger als etwa einem
Zentimeter rutscht dem «Interceptor»
ebenso durch die Maschen wie alles, was
in tieferenWasserschichten dahintreibt.
Generell sei dieVerfrachtung von
anthropogenemMülldurchFlüssebisher
kaum erforscht, sagtTimvan Emmerik
von der UniversitätWageningen in den
Niederlanden, der entsprechende Stu-
dien an der Seine (Frankreich), am Cili-
wung (Indonesien) und am Saigon (Viet-
nam) durchgeführt hat.Das beginnt mit
der Frage, wie viel anthropogener Müll
überhauptviadieFlüssein dieMeerege-
langt. Neuere Studien, von denen einige

imAuftragvonoderinKollaborationmit
The Ocean Cleanup angefertigt wurden,
kommenauf Zahlen zwischen einer und
4MillionenTonnen proJahr. Vergleiche
mitdenobengenannten8MillionenTon-
nenPlastikmüllinsgesamtsindallerdings
mitVorsicht zu geniessen, da die Studien
jeweils andereDatensätze und Metho-
denverwenden.Nochwenigerweissman
übe r die Verweildauer von Plastikmüll in
einem Gewässer. Im Rahmen der Stu-
die an der Seine habe man jahrzehnte-
alte Müllteile aus demWasser gefischt,
sagt van Emmerik.
Man kann Slat und seinen Mitstrei-
tern nur wünschen, dass der ehrgeizige
PlanFrüchte trägt. Mehr noch, dass die
schwimmenden Müllsammlerdie jewei-
ligenAnrainer für dieReinhaltung ihrer
Gewässer sensibilisieren.

Auch wenn die Masern überstanden sind, können dieViren dasImmunsystemnochzweibis dreiJahre lang schwächen. KEYSTONE

Nur das Masernvirus


kann die langlebigen


Gedächtniszellen


infizieren. Andere


Erreger, wie auch das


Masern-Impfvirus, sind


dazu nicht in der Lage.

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