Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

Freitag, 1. November 2019 FORSCHUNG UND TECHNIK53


Ein Physiker bringt Ordnung ins Leben

Vor 75 Jahren ist das Buch «Was ist Leben?» von Erwin Schrödinger erschienen. Es ist ein Klassiker der Wissenschaft.


Zugleich ist es aber auch ein Paradox der Wissenschaftsgeschichte. VON KARL SIGMUND


Gleich in der Einleitung hält Erwin
Schrödinger fest: Wenn ein Wissen-
schafter die Grenzen seinesFachs über-
schreite, riskiere er, sich lächerlich zu
machen.Aber, so meint Schrödinger
entwaffnend, irgendwer müsse es ja tun:
«So viel zu meiner Entschuldigung.» Ein
Physiker, der sich in die Biologie vor-
wagt, muss Kritikvertragenkönnen.
Und die kam dann auch.
Wasin Schrödingers Buch richtig sei,
sei nicht neu, und das Neue sei schon
beim Erscheinen als falsch bekanntge-
wesen, meinte der Nobelpreisträger
MaxPerutz.«Vermutlich ein negativer
Beitrag zur Biologie», ätzte der Nobel-
preisträger LinusPauling. UndSydney
Brenner, auch er Nobelpreisträger, pran-
gertelauthals «Schrödingers fundamen-
talen Irrtum» an.Das alles wurde aller-
dings erstJahrzehnte im Nachhinein ge-
äussert, als längst feststand, dass«Was
ist Leben?» zu den wichtigstenWissen-
schaftsbüchern aller Zeiten zählt.


Vorwegnahme der DNA


Die Bedeutung des Buches liegt weniger
in seinem Inhalt – der war fehlerhaft –
als in seiner stupendenWirkung. Es be-
stimmte den Lebensweg einer ganzen
Kohorte von brillantenKöpfen, die eine
neueWissenschaft schufen – die Mole-
kulargenetik.Sie erreichte ihren ersten
Höhepunkt im März1953: Genau zehn
Jahre nach denVorträgen, die Schrödin-
ger später in seinem Buch zusammen-
fasste,entdeckten JamesWatson und
Francis Crick die Doppelhelix –einMole-
kül,das wie eine Strickleiteraussieht, die
sich um dieeigeneAchse schraubt. Die
Anordnung der Sprossen, von viererlei
Typ, codiert die Erbinformation.
Das war eine spektakuläre Bestäti-
gung von SchrödingersVermutung,dass
die Gene «aperiodische Kristalle» seien,
die «in einerArt Code»,vergleichbar mit
einer Morsebotschaft, die Entwicklung
der Zelle steuerten. Im Nachhinein wirkt
der Gedanke nicht mehr sorevolutio-
när. Doch imJahr 1944 konnte Schrö-


dinger weder von Informationstheorie
noch von Computerprogrammen wis-
sen. Manche Chemiker monieren, dass er
statt Kristall besserPolymer gesagthätte,
aber auch hier war Schrödinger fast hell-
sichtig. Denn es stellte sich bald heraus,
dass die Erbsubstanz aus DNA-Polyme-
ren besteht, die unterLaborbedingun-
gen, also fern ihres Alltags in der leben-
den Zelle, tatsächlich kristallisiert wer-
denkönnen. Diese Kristalle lieferten
MauriceWilkins undRosalindFranklin
dieDaten, die zur Doppelhelix führten.
Francis Crick schickteSchrödinger
Sonderdruckeder epochalen Arbeiten
und fügte im Begleitschreiben hinzu, dass
«Was ist Leben?» sowohlJamesWatson
als auch ihn selbst stark beeinflusst habe.
«Es schautaus,als ob IhrAusdruck vom
‹aperiodischen Kristall› sich als ungemein
treffend erweisen wird», fügteer hinzu.
Schrödinger antwortete nicht. Noch
sonderbarer: Er äusserte sich nie wieder
zu demThema, zumindest nicht schrift-
lich. Bis zu seinemTod imJahr1961 ver-
fassteernoch allerhand, über Materie,
Bewusstsein, die alten Griechenund
sich selbst, aber auf den Höhenflug der
Molekularbiologiereagierte er nicht.

Im Exil in Dublin


Liefert dieVorgeschichte eine Erklä-
rung? Der ausWien stammende Schrö-
dinger war durch die statistische Mecha-
nik Ludwig Boltzmanns geprägt und
durch dessen Hang zur Philosophie.Als
Professor in Zürich wurde Schrödin-
ger Mitte der zwanzigerJahre zu einem
der Begründer der Quantenphysik.Das
brachte ihm einenRuf nach Berlin ein.
Doch nach der Machtergreifung durch
Hitler imJahr1933 entschied er sich für
Oxford. Im selbenJahr erhielt er den
Nobelpreis für Physik. DreiJahre später
wechselte er zurück nach Österreich. Dort
holte ihn Hitler ein.Wieder zog Schrödin-
ger ins Exil – diesmalansDublin Institute
forAdvanced Studies. Die Lehrverpflich-
tung bestand aus einer öffentlichenVor-
lesung proJahr. 1943 wählte Schrödinger

dasThema«Was ist Leben?». Eigentlich
ging es dabei um dieFrage:Was ist ein
Gen? Schrödinger hatte sich mehr als ein
Jahrzehnt lang mit demThema befasst.
Zwar lieferte erkeine Antwort, doch
der Erfolg derVorträge war phänomenal.
An drei aufeinanderfolgendenFreitagen
füllten 400 Zuhörer dasAuditorium, der
irische Premierminister vorneweg.Im
November des folgendenJahres erschien
das Buch. DieRezensionen waren gröss-
tenteils begeistert, sieht man von kirch-
lichen undkommunistischenOrganenab.
ImWissenschaftsjournal «Nature» hob
der berühmte BiologeJ. B.S.Haldane
launig hervor, dass in einer Zeit, da die
meisten Physiker mit militärischenAuf-
gabenbeschäftigtgewesen seien, Schrö-
dinger drüben im neutralen Irland die
Musse gefunden habe, sich der Genetik
zuzuwenden. Schrödinger habe dieses
Fach als «das wohl interessanteste unse-
rerZeit» bezeichnet.Noch interessanter
als die Physik? Ob das die Nachwelt be-
stätigen würde? Der Genetiker Haldane
deutete höfliche Zweifel an.

Seine Zweifel waren unbegründet.
Die Genetik wurde in den Nachkriegs-
jahren zur interessantesten Wissen-
schaft, und das nicht zuletzt dank Schrö-
dingersBuch. Es war genauimrechten
Augenblick erschienen.Junge Physiker
wieFrancis Crick und MauriceWilkins
waren der militärischenForschung über-
drüssig geworden, ob sie nun Seeminen
betraf oder Atombomben. Sie wechsel-
ten ihrFach nach der Lektüre von«Was
ist Leben?».Aber auch Chemiker wie
Erwin Chargaff oder Gunther Stent,
Mikrobiologen und Ärzte wieJacques
Monod undFrançoisJacob und nicht
zuletzt ein achtzehnjährigerVogelkund-
ler namensJamesWatson machten sich
unter Einfluss des Buches daran, das
Geheimnis der Gene zu entschlüsseln.

Suche nach dem Unbekannten


Doch ihreAntwort entsprachkeines-
wegs Schrödingers Erwartungen. Er
hatte zurTr eibjagd geblasen, aber auf
anderesWild. Schrödingers Absicht war
es nämlich zu zeigen,dass «dieheutige
Physik und Chemie offenbar nicht er-
klären kann»,wasräumlich und zeitlich
innerhalb eines lebenden Organismus
geschieht. Dort herrscht eine Ordnung,
die sich dauerhaft dem Zugriff der Un-
ordnungwidersetzt, also der Boltzmann-
schen Entropie. Das lasse sich nicht auf
die bekannten physikalischen Gesetze
zurückführen, meinte Schrödinger.
Er glaubte dies aus den Experimenten
des Berliners MaxDelbrück herleiten zu
können,eines ehemaligentheoretischen
Physikers und zukünftigen Nobelpreis-
trägers. Aus dessenTr effertheorie für
genetische Mutationen schloss Schrödin-
ger, dass die Gene zu klein seien, als dass
sie über längere Zeiten der thermodyna-
mischen Unordnung standhaltenkönn-
ten. Die Erbsubstanz gehorche vielmehr
«bisher unbekannten anderen Gesetzen».
Mit dieserAuffassung standSchrödin-
ger nicht allein.Auch andereVäter der
Quantenphysik wie Niels Bohr oderPa-
scualJordan waren überzeugt, dass es

neuer physikalischer Gesetze bedürfe,
um das Leben zu erklären. Sie stellten
sich darunter etwas ähnlichTiefgründiges
vor wie dasPrinzip derKomplementari-
tät beim Licht – ob esWelle oderTeilchen
ist, hängt von derVersuchsanordnung ab.
Schrödinger hatte für dieseKopenhage-
ner Deutung nichts übrig, doch auch er
suchte nach unbekannten Prinzipien. Er
verglich den Unterschied zwischen leben-
der und unbelebter Materie mit jenem
zwischen einerDampf- und einer Elek-
tromaschine. Etwas ganz Neues gehörte
her.
Doch die Doppelhelix brauchtkeine
neuen Naturgesetze. Die altbekannten
Gesetze der Quantenmechanikreichen
aus, um die trickreicheVorrichtung zu
ve rstehen. DerKopiermechanismus der
Gene beruht auf chemischen Bindun-
gen und damit letztlich auf der Schrö-
dinger-Gleichung. Ausgerechnet!Para-
doxerweise scheint das Schrödingereine
Enttäuschung bereitet zu haben, die das
Aufspüren des aperiodischen Kristalls
nicht aufwiegenkonnte. Jedenfalls ver-
lor er alles Interesse an der «wohl inter-
essantestenWissenschaft unserer Zeit».
Die Geschichte derWissenschaft
kennt derlei Ironie. Die Entdecker sind
oft hinter etwas anderem her. So war
Kolumbus bis zuletzt überzeugt, den
Seeweg nach Indien gefunden zu haben.
Fermi spaltete den Urankern und ver-
meinte ihn stattdessen vergrössert zu
haben. Und ArthurKoestler schrieb
von seinen Schlafwandlern,Koperni-
kus, Kepler und Co.:«Während einTeil
ihres Geistes nach mehr Licht verlangte,
rief ein anderer nach mehrDunkelheit.»
Schrödinger muss diesen inneren Zwie-
spalt gespürt haben. Er zitierte in sei-
nem Schlusskapitel den Philosophen
Unamuno:«Wenn ein Mensch sich nie-
mals widerspricht, dann wohl, weil er nie
etwas zu sagen hat.»Ausserdem hatte
Schrödinger ja schonin derEinleitung
um Entschuldigung gebeten.

Der Autor ist Professor für Mathematik an der
Universität Wien.

Das Buch bestimmte


den Lebens weg ei ner


ganzen Kohorte von


brillant en Köpfen,


die ei ne ne ue


Wissenschaft schufen –


die Molekulargene tik.


Erwin Schrödinger bei einer philosophischenVorlesung an der UniversitätWien am 13.April 1956. AKG
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