Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

54 FORSCHUNG UND TECHNIK Freitag, 1. November 2019


HAUPTSACHE, GESUND


Lachs


statt Spritzen


Von Ronald D. Gerste


Sicher teilt der eine oder andereLeser
meine Einschätzung:Was gibt es Besse-
res zumFrühstück als eine Scheibe fein-
geräuchertenLachs? Richtig, die Ant-
wort muss lauten: zwei oder drei Schei-
ben. Sehr gern auf Cream Cheese und
einemBagel; das ist die Quintessenz
eines guten NewYorkerFrühstücks.
Oder dannLachs pur.
Beim morgendlichen Genuss er-
tappe ich mich oft dabei, dass ich mir –
neben den Gaumenfreuden – eine wei-
tereRechtfertigung für mein kulinari-
schesFaible zurechtlege. Es ist der ge-
sundheitliche Nutzen dieses in Salz- und
Süsswasser lebenden Geschöpfs.Wäre
ichkonsequent und würde ich die Logik
imTagesverlaufbeibehalten,gäbeeszu
Mittag einenköstlichen Salat mit viel
Grünkohl in Olivenöl. Abends würde
dann ein fastrohesThunfischsteak auf
dem Programm stehen mit Brokkoli
als Beilage. Und statt meinesgeliebten
Bieres würde ichRotwein trinken.
All die genannten Lebensmittel
haben eines gemeinsam: Als Ergebnis
einerReihe grosser epidemiologischer
Studien spricht man ihnen eine Schutz-
wirkung vor der häufigsten Augen-
erkrankung älterer Menschen zu: der
altersabhängigen Makuladegeneration
(AMD). Bei diesem Leiden wird die
Stelle des schärfsten Sehens (Makula)
in der Netzhaut bis zur faktischen Blind-
heit zerstört. Die in zahlreichenFisch-
sorten enthaltenen Omega-3-Fettsäuren,
dieRadikalfänger in «buntem» Gemüse,
dieVitamine und auch das inrotenTr au-
ben enthalteneResveratrol verringern,
wenn sie regelmässig eingenommen
werden, sehr deutlich dieWahrschein-
lichkeit, an AMD zu erkranken.
Die AMD gibt es in zweiVarianten.
Eine ist die «trockene» AMD, bei der
die Zellen in den wertvollsten Quadrat-
millimetern desAuges untergehen. Die
andereForm ist die «feuchte» AMD,
bei der die Stelle des schärfsten Sehens
durchdieBildungkrankhafter Blut-
gefässe zerstört wird.War dieAugen-
medizin über vieleJahre gegen die AMD
insgesamt weitgehend hilflos, so gelten
die seit zwölfJahren zurVerfügung ste-
henden Medikamentegegen die feuchte
AMD alsRevolution. DieseTherapie ist
heute in vielenKliniken und Praxen das
Tätigkeitsfeld Nummer eins.
Wenn ich ehrlich bin, versuche ich
mit derAufnahme von Omega-3-Fett-
säuren imLachs und anderen gesunden
Lebensmitteln dieserTherapie wie auch
der Krankheit vorzubeugen. Denn die
Behandlung besteht aus Medikamen-
ten-Injektionen indenAugapfel.Der
englischeFachbegriff burden oftreat-
ment könnte für dieseTherapie erfun-
den worden sein. So müssen die Spritzen
wahrscheinlich lebenslang erfolgen, und
die zahlreichen Behandlungs- undKon-
trolltermine strapazierenPatienten, An-
gehörige und das medizinischePersonal.
Versuche, die Intervalle zwischen
den unter lokaler Betäubung erfolgen-
den Injektionen zu strecken, führten in
derRealität zu schlechteren Ergebnis-
sen als in den unter Idealbedingungen
stattfindenden Zulassungsstudien. Und
häufig – das zeigt sich jetzt, da klinische
Daten über einigeJa hre vorliegen – kann
die Sehkraft derPatienten doch nicht er-
halten werden. Denn selbst wenn es ge-
lingt, die feuchte AMD zu stoppen, ent-
wickelt sich nichtselten eine nicht the-
rapierbare trockene AMD.DieseAus-
sichten motivieren mich zur Prophylaxe.
Sie lassen mir den morgendlichenLachs
noch besser schmecken.

DiesesBetongebildeinS üdenglandkönnte man kühn alsVorläufer des Internets bezeichnen PETER MARLOW/ MAGNUM PHOTOS / KEYSTONE

Das Internet ist weniger


eine technische


Errung enschaft als


ein soziales Konstrukt.


Das Internet hat viele Väter


Vor fünfzig Jahren tauschten in Kalifornien zwei Computer eine Nachricht aus.


Kein Grund für Champagnerlaune, aber Anlass für Fragen. VON STEFAN BETSCHON


Dungeness, eine Steinwüste im Süden
Englands, ist ein besonderer Ort. In die-
ser kargenLandschaft amRande des
Ärmelkanals kann man die Anfänge
des Internets entdecken – inForm von
mächtigen Skulpturen aus Beton. Sie
wurden in den1930erJahren gebaut,
um die Motorengeräusche herannahen-
der Flugzeuge so zu verstärken, dass ein
Beobachter sie hörenkonnte, bevor sie
über dem Meer sichtbar wurden. Diese
sogenannten «sound mirrors» wurden
nicht langeverwendet, denn bereits
Mitte der1930erJahre wurde dasRadar
einsatzbereit, und die Briten beeilten
sich, entlang derKüsten im Süden und
im Osten viele solche Antennen auf-
zustellen. Sie bildeten ein Netz, Chain
Home genannt. Herzstück jederRadar-
station war die «fruit machine», eine Art
Computer, der die Signale derRadar-
antennen auswertete und einem zentra-
len «filterroom» übermittelte.
Es ist zugegebenermassen gewagt,
die verwittertenBetonskulpturen als
eine Art Proto-Internet zu interpre-
tieren. Aber ist es nicht weniger kühn,
den 29. Oktober als den Geburtstag des
Internets zu bezeichnen, nur weil an die-
semTag vor fünfzigJahren eine elektro-
nische Botschaft, die von einem Com-
puter in Los Angeles abgeschickt wurde,
einen Computer in MenloPark erreichte.


Keine Fragezeichen


Es ist noch nicht lange her, dass man an-
gefangen hat, am 29. Oktober den Ge-
burtstag des Internets zu feiern.Noch zu
Beginn der1990erJahre war das Inter-
net nicht viel mehr als einkomplizier-
tesKommunikationssystem für Ange-
hörige naturwissenschaftlicherFakul-
tätenin den USA oder inWesteuropa.
Erst dankTim Berners-Lee und einem
Internetdienst namensWorldWideWeb
gewann das Internet in den1990erJah-
ren anPopularität. Gegen Ende der
Neunziger begannen sich dann die Ein-
ladungen zuFeiern anlässlich von Inter-
net-Geburtstagen zu häufen.Es standen
damals noch mehrereDaten zurAus-
wahl, es gab verschiedeneVersionen der
Internet-Frühgeschichte.
Der einflussreiche amerikanische
Computerwissenschafter Leonard
Kleinrock legte den Geburtstag des
Internets zunächst auf den 2. Septem-
ber, später favorisierte er einenTer-
min Ende Oktober. Inzwischen ist die-
sesDatum in den Arbeitsplänen der
Nachrichtenagenturen am 29. Oktober
fix vorgemerkt, mit maschinenhafter
Regelmässigkeit werden alle fünfJahre
die alten Heldengeschichtenrezykliert.
Wann wurde das Internet erfun-
den? Mankönnte bei den Brieftau-
ben der alten Griechen beginnenoder
beim1836 patentiertenTelegrafen, man
könnte auf die «sound mirrors» und
«fruit machines» erwähnen.Das Netz-
werk der «fruit machines» war einVor-
läufer des amerikanischen Semi-Auto-
matic Ground Environment (Sage), das
nach dem ZweitenWeltkrieg für die
Überwachung des Luftraums über den
USA aufgebaut wurde. Sage verband
vieleRadarstationen und Computer;
und es bildete die technische Grundlage
für Sabre, ein von IBM gebautes ziviles
Computernetzwerk, das ab1964 in den
USA und Kanada die Buchung von Flü-
gen erleichterte.
Mankönntedie Geschichte des Inter-
nets auch an jenemTag beginnen lassen,
an dem dieRussen im Oktober1957 den
Sputnik-Satelliten ins All schossen.Für
die Amerikaner war diese technisch-
wissenschaftliche Meisterleistung des
Erzfeindes ein Schock. AlsReaktion
darauf gründete US-Präsident Dwight
Eisenhower die Advanced Research
Projects Agency (Arpa). Im Dezem-
ber1966 stellte BobTaylor als Chef der
Arpa-Abteilung Information Processing
Techniques Office (IPTO) den Compu-
terwissenschafterLarryRoberts ein und
gab ihm denAuftrag, ein Netzwerk –
Arpanet genannt – zu schaffen, das die
Computer der wichtigsten amerikani-


schen Universitäten undForschungs-
institutionen verbinden sollte.

NukleareInspirationen


Oft heisst es, die Angst vor einem rus-
sischen Atomangriff habe die zentrale
Innovation des Arpanets, diePaket-
vermittlung, ermöglicht. Doch was die
Netzwerkarchitekten des IPTO antrieb,
war nicht die Angst vor Atombomben,
sondern derrasch steigende Geldbedarf
der von ihnen unterstütztenForscher.
Einer der grössten Budgetposten dieser
Arpa-Abteilung war die Anschaffung
von Computer-Hardware.Indem diese
Computer vernetzt würden, so hofften
Taylor undRoberts, könnte vorhan-
deneRechenkapazität besser genutzt
und Geld gespart werden.
Der wahreKern der Atombomben-
legende ist der, dass ein Elektroinge-
nieur namensPaulBaran bei der ameri-
kanischenRand Corp. im Hinblick auf
einen Atomkrieg zu Beginn der sechzi-
gerJahre einKonzept für eineredundant
ausgelegte,dezentrale Netzwerktopo-
logie und ein paketvermitteltes Über-
tragungsverfahren entwickelte. Seine
bahnbrechende Arbeit, die imAugust
1964 veröffentlicht wurde, galt aber als
unrealisierbar. Unabhängig vonBaran
und ohne militärische Hintergedanken
er fand in London am British National
PhysicalLaboratory (NPL) der Mathe-
matiker DonaldDavies dieselbeKom-
munikationstechnologie und gab ihr
den Namen «packet switching».Roberts
wurde1967 an einemFachkongress auf
die Arbeiten vonDavies aufmerksam ge-
macht. Erst durch die Engländer erfuhr
er später von der ArbeitBarans. Das bri-
tische NPL Networkkonnte am 5.Au-
gust1968 in Betrieb genommen werden.
Es gab zu dieser Zeit in mehreren
europäischenLändernVersuche,die
Grossrechner wichtiger Forschungs-
institute miteinander zu vernetzen. Be-
sonders hervorgetan hat sich dabei der
Franzose LouisPouzin, ein Ingenieur,

der unabhängig vonBaran undDavies
die paketvermittelteDatenübertragung
erfunden hatte. Pouzin leitete ab1971 in
Frankreich ein Projekt, das sich zum Ziel
gesetzt hatte, die wichtigstenDatenver-
arbeitungszentrenFrankreichs zu ver-
netzen. Dieses Internet «avant la lettre»
hiess Cyclades, es war 1974 funktions-
fähig, musste aber1978 aufgegeben wer-
den, weil es die Geschäftspläne der staat-
lichenTelefongesellschaft störte, die ein
eigenesDatennetz aufbauen wollte.
Am 24. Oktober1972 wurde die Inter-
nationalPacketWorking Group (IPWG)
gegründet mit demZiel,einen weltweiten
Standard für dieVernetzung von Netz-
werken zu erarbeiten. In dieser Arbeits-
gruppe wurde das Internet erfunden. Es
ging nicht darum, das NPL Network neu
zukonzipieren, ein besseres Arpanet zu
entwickeln oder Cyclades zu überarbei-
ten. Es ging darum, die technischenVor-
aussetzungen zu schaffen,umverschie-
dene nationale Netzwerke zusammenzu-
schliessen. Ziel war nicht ein neues Netz-
werk,sondernein Netz der Netze.
Zu den führenden Köpfen der
IPWG gehörte nebenDavies undPou-

zin auch ein amerikanischer Mathema-
tiker namensVinton Cerf. Bereits 1973
präsentierte Cerf einen Entwurf für ein
«international transmission protocol»,
den er zusammen mit europäischenKol-
legen,unter ihnenRoger Scantlebury
(NPL) und Hubert Zimmermann (Cy-
clades), entwickelt hatte.Auf derBasis
dieses Entwurfs wurden noch im selben
Jahr zwei verbesserteVorschläge für den
Zusammenschluss von «packet switching
networks» präsentiert. Der eine stammte
hauptsächlich von europäischenFor-
schern umPouzin, der andere war von
Cerf undRobert Kahn (Darpa) verfasst
worden. EineSynthese der beidenVor-
schläge wurde dann Anfang1976 von
einer deutlichen Mehrheit der Arbeits-
gruppe alsVorschlag für einen inter-
nationalen Standard akzeptiert.
Doch dann wollten die Amerikaner
von der erarbeitetenSynthese plötzlich
nichts mehr wissen. DieMitglieder der
IPWG seien «schockiert» gewesen, so be-
richtet einAugenzeuge, als sie erfahren
hätten, dass die Amerikaner den offiziel-
len Standardfür ein Netz der Netze ver-
worfen hätten, um sich auf denVorschlag
von Kahn und Cerf zurückzubesinnen.

Allzumenschliches


Er habe sich, als er Ende der1960er
Jahre das Internet erfunden habe, nicht
vorstellenkönnen, wie wichtig diese Er-
findung dereinst werden würde, pflegt
Kleinrock anlässlich von Internet-Ge-
burtstagen gegenüberJournalisten zu
erklären.Wie auch? Hat irgendjemand
unterstellt, dass die Computerprogram-
mierer der1960erJahre etwas mit Kätz-
chenvideos oder Mama-Blogs im Sinne
hatten?Das Internet ist weniger eine
technische Errungenschaft als ein sozia-
lesKonstrukt. Die Bedeutung des Inter-
nets ergibt sich nicht aus der Gloriosi-
tät des «PacketSwitching», sondern aus
den menschlichen Emotionen und allzu
menschlichen Emanationen, die dieses
Kommunikationssystem durchpulsen.
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