Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

Freitag, 1. November 2019 FORSCHUNG UND TECHNIK55


Happy Birthday, «Nature»!

Die englische Fachzeitschrift «Nature» feiert dieser Tage ihr 150-jähriges Bestehen. In der Geschichte des Blatts gab es


auch bittere Rückschläge, nun wi rd der Verlag durch die Digit alisierung herausgefordert.VON RONALD D. GERSTE


Für jedenForscher ist eseinTraum: Eine
Arbeit wird bei einer hochangesehenen
Zeitschrift eingereicht, und der Heraus-
geber verzichtet auf die üblichePeer-
Review, die Begutachtung durchFach-
experten, die einer Publikation zustim-
men oder – was beiTopjournalen viel
häufigerder Fall ist – einesolche ableh-
nen. DerWert der Arbeit sei so offen-
sichtlich, befand in jenem ungewöhn-
lichenFall der EditorJohn Maddox,
dass der normale Publikationsprozess
überflüssig sei – und auchkontrapro-
duktiv, da kaum ein Experte auf die-
sem Gebiet angesichts desrevolutionä-
ren Konzepts der im Artikel beschrie-
benen Struktur «den Mund würde hal-
ten können».
Die Struktur, in der Maddox eine der
grössten wissenschaftlichen Entdeckun-
gen des 20.Jahrhunderts erkannte, war
eine Doppelhelix.James Watson und
Francis Crick beschrieben in dem Arti-
kel denAufbau der Erbsubstanz DNA.
Er war gerade einmal eine Seite lang
und erschien am 25.April1953 in der
damals bestmöglichen Publikation für
wissenschaftlichen Fortschritt: in der
in London erscheinenden Zeitschrift
«Nature».


Wissenschaft undJournalismus


Cricks undWatsonsVeröff entlichung
–sie war zufällig im gleichen Heft wie
eine Publikation ihrer Mitarbeiterin
Rosalind Franklin abgedruckt, deren
Verdienste um die DNA-Entschlüsse-
lung erst später gewürdigt wurden –
war eine Sternstunde für «Nature». Es
gab zahlreiche solcher Highlights in der
150-jährigen Geschichte der angesehe-
nen Wissenschaftspublikation, die von
Anfang an auf ein besonderesKonzept
setzte:dieVerbindung vonWissenschaft
und Journalismus.
Der Gründer und für ein halbes
Jahrhundert erste Herausgeber von
«Nature» war der englischeWissen-
schafter Norman Lockyer. Seine Inter-
essen alsForscher waren beinahe so
breit gefächert, wie es der Inhalt von
«Nature» bis auf den heutigenTag ist.
Lockyer, der später weltweit erster Pro-
fessor fürAstrophysik wurde,hatte 1868
bei einer Sonnenfinsternis–gleichzeitig
mit einem anderen Astronomen – eine
bis dahin unbekannte Linie im Spek-
trum des Sonnenlichtes festgestellt. Da-
mit gilt er als einer der Entdecker des
Elements Helium.
Zuvor hatte er alsRedaktor bei der
wissenschaftlich-feuilletonistischenZeit-
schrift«The Reader» gearbeitet, die 1867
ihrErscheineneinstellte.Unterstütztvon
einer Gruppe führender britischerFor-
scher wie dem BiologenThomas Henry
Huxley und dem PhysikerJohn Tyn-


dall, startete Lockyer1869 ein neues
Projekt, dem er denTitel «Nature» gab.
Das fiel in eine Zeit immensen wissen-
schaftlichenund technologischenFort-
schritts: Das Periodensystem der Ele-
mente wurdekonzipiert, in der Medizin
begann die Antisepsis an Boden zu ge-
winnen, und der Schweizer Physiologe
FriedrichMischerentdecktedieNuklein-
säuren in den Zellkernen. Dem bekann-
testenVertreter dieser Stoffklasse, der
DNA, war später die Arbeit vonWatson
und Crick gewidmet.
1869 erlebte dieWelt auch ihren ers-
ten Globalisierungsschub: In den USA
wurde gerade die transkontinentale
Eisenbahn vollendet, im Nahen Osten
der Suezkanal. Dem umfassendenKon-
zept der neuen Zeitschrift entsprechend,
findet sich in der ersten «Nature»-Aus-
gabe vom 4.November1869 über den
Kanal ebenso ein Artikel wie über ein
breites Spektrum vonThemen: von den
menschlichenHirnwindungen über die
Fertilisation vonWasserpflanzen bis zur
jüngsten Sonnenfinsternis (von Lockyer
selber verfasst). Bei den Buchrezen-
sionen erbauten sich die Leser an der
Empfehlung für eine illustrierte Natur-
geschichte britischer Motten.

Massstabfür Anerkennung


DemKonzept,für alle Bereiche derWis-
senschaft offen zu seinund gleichzeitig
auch allgemeine Themen abzuhandeln
und sogar Literarisches wie gegenwär-
tigScience-Fiction-Kurzgeschichten an-
zubieten, blieb «Nature» immer treu –
trotz der explosionsartigenWissensver-
mehrung und der stetigen Subspeziali-
sierung. Für den englischen Sprachraum
wurde dasJournal schnell zu einer Insti-
tution.Dazu trug neben hochqualifi-
zierten Editoren auch die wöchentliche,
hohe Aktualität garantierende Erschei-
nungsweise bei. Zu einem nicht gerin-
gen Teil ist es auch dasVerdienst von
«N ature»,dass im 20.Jahrhundert die
wis senschaftlichen,ein er Peer-Review
unterliegendenJournale für dieFor-
scher zum Massstab für Anerkennung
wurden. Die Zeitschriften verdrängten
damit das im19.Jahrhundert führende

Forum fürVeröff entlichungen und Dis-
kussionen,dieTagungen vonrespektier-
ten Gesellschaften wie etwa derRoyal
Society, als Leuchttürme des Wissen-
schaftsbetriebs.
Im ersten halbenJahrhundert ihrer
Existenz, als Deutsch noch die führende
Wissenschaftssprache war,brachte die
Zeitschrift schnell Übersetzungen von
wichtigen Publikationen und Nachrich-
ten vomKontinent. So erschien in der
Ausgabe vom 23.Januar1896 der erste
englischsprachige Bericht von einer
Tagung derWürzburger physikalisch-
medizinischen Gesellschaft, auf der ein
Mann namensWilhelm ConradRönt-
gen von einer neuen Art von Strah-
len berichtete. «I have observed and
photographed many such shadow pic-
tures», erfuhren die «Nature»-Leser in
den Worten des Physikers über das die
medizinische Diagnostikrevolutionie-
rende Ereignis. «I have also a shadow of
the bones of the hand.»
Es sind weitere Meilensteine derWis-
senschaft, die durch eine Publikation in
«Nature» weltbekannt wurden. Zu nen-
nen sind etwa die Entdeckung des Neu-
trons (1932),die Kernspaltung (1939),
das Ozonloch (1985), das erste erfolg-
reich geklonte Schaf «Dolly» (1997)
oder die Entschlüsselung des mensch-
lichen Genoms (2001).
«Nature» ist heute ein global operie-
rendes Medienunternehmen mitRedak-
tionen in mehrerenLändern, darunter
drei in der führendenWissenschafts-
nation USA. Zusammen mit verschie-
denenTochterpublikationen gehört die
Fachzeitschrift heute zurVerlagsgruppe
Springer Nature, die ihren Sitz in Ber-
lin hat.Das dürfte für manch einen tra-
ditionsbewussten Briten eine schwer zu
goutierende Entwicklung sein.
Mit einem Impact-Factor von 51,8 ge-
hört «Nature» zu den weltweit höchstan-
gesehenen wissenschaftlichenJournalen.
Der Impact-Factor gibt an, wie oft ein
veröffentlichterArtikel imDurchschnitt
pro Jahr in anderen Publikationenzitiert
wird. Er ist damit ein Mass zur Beurtei-
lung der Bedeutung einer Publikation.
Bei einem so hohen Impact-Factor er-
staunt es nicht, dass mehrForscher ins

Blatt drängen, als es dort Platz gibt. Die
Ablehnungsrate bei Originalarbeiten
liegt derzeit bei 93 Prozent.

Forum für Betrüger


Trotz dem peniblenPeer-Review-Pro-
zess blieben in der langen Geschichte
desTopjournals auchRückschläge nicht
aus. So lehnte «Nature» 1934 eine bahn-
brechende Arbeit des italienischen Phy-
sikers EnricoFermi ab. «DieTheorie
des Betazerfalls» erschien daraufhin in
der «Zeitschrift für Physik» in Deutsch-
land.Auch vorFake-News ist «Nature»
nicht vollständig geschützt, wie derFall
desWissenschaftsbetrügersJan Hendrik
Schön zeigt. Die Zeitschrift veröffent-
lichte 2001und 2002 mehrere seiner auf
gefälschten Ergebnissen beruhenden
Arbeiten zu organischen Halbleitern.In
die gleicheFalle tappte auch das eben-
falls hochangeseheneJournal «Science»,
das 1880 durch «Nature» inspiriert in

den USA gegründet wurde und seit 1990
das Organ derAmericanAssociation for
the Advancement of Science ist.
Der Boom vonFake-News undFa-
ke-Science hat in den letztenJahren zur
Gründung vieler pseudowissenschaft-
licherJournale geführt. Mit ihren an
etablierte Publikationen anlehnenden
Titeln versuchen sie, den Topjourna-
len dasWasser abzugraben. Eine noch
grössere Herausforderung für die Flagg-
schiffe der Wissenschaftspublizistik
dürfte allerdings OpenAccess, der freie
Zugang zuTeilen des Inhalts oder gar zu
ganzen Zeitschriften, darstellen.
Springer Nature sieht darin laut einer
Sprecherin des Unternehmensaber eher
eine Chance als eine Gefahr. Man sei
schliesslich einer derWegbereiter der
Open-Access-Bewegung. So ist in zahl-
reichenJournalen desVerlags der freie
Zugang heute dieRegel und nicht länger
dieAusnahme. Das Flaggschiff«Nature»
werde ebenfallsdies enWeg gehen,wenn
ein nachhaltiges Prozedere dafür gefun-
den sei, so die Sprecherin.
Gegenüber herkömmlichen, nur den
Abonnenten und zahlenden Lesernzu-
gänglichen Journalenkönnen Open-
Access-Publikationen mehr Leser er-
reichen. Der grundlegende ökonomi-
sche Unterschied dabei: Bei Open-
Access-Fachzeitschriften zahlt für die
Publikation in allerRegel derAutor
einer Studie oder seine Institution.
Eine solche Verlagerung derFinan-
zierung in derWissenschaftspublizis-
ti k muss nach Einschätzung des deut-
schenMedizinverlegersReinhard Ka-
den kein Nachteil für die Qualität eines
Journals wie «Nature» sein. Problema-
tisch werde es erst, wenn das bewährte
Peer-Review-Verfahren von einer Uni-
versität oder einer Institution übernom-
men werde, die bei der Selektion der
publikationswürdigenForschung ihre
eigene Agenda verfolge.
So wird «Nature» in einer sich
schnellwandelnden wissenschaftlichen
Me dienlandschaft dem hehren Ziel ver-
pflichtet bleiben,das bereits in der Erst-
ausgabe vor150 Jahren einem Beitrag
den Titel gab:«The AbsoluteValue of
Knowledge».

Die Zeitschrift


verö ffentlic hte 2001


und 2002 mehrere


Arbeitendes


Wissenschaftsbetrügers


Jan Hendrik Schönzu


organi schen Halbleiter n,


die auf gefälschten


Ergebnissen beruhten.


«Natur e» ist heute


ein global operierendes


Medienunternehmen


mit Redaktionen


in mehreren Ländern,


darunter drei


in der fü hrenden


Wissenschaftsnat ion


USA.


Vonder erstenAusgabe vom 4. November1869 bis in die Gegenwart verbindet «Nature»Wissenschaft undJournalismus. BILDER PD
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