Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

REISEN Freitag, 1. November 2019


Ein


Road-Trip


ausserhalb


der Zeit


Das Lebensgefühl an der Mittelmeerküste


zwischen Genua und Marseille


wurde erfunden von Menschen,


die sich einen Sommer lang von Sonne,


Sand und Champagner er nähren konnte n.


Was ist von der lege ndären Riviera


übrig geblieben? Eine Spurensuche.


VON KONSTANTIN ARNOLD


Die echte Riviera, wie sie in Büchern
steht und auf Leinwände gemalt wurde,
beginnt imKopf. Unsere nahm ihren
Anfang in Florenz, nach einem Streit,
an der Piazza Santo Spirito. Wir waren
schon einigeTage in der Stadt, machten
Ferien, hatten ein schönes Zimmer mit
Ausblick, alles toll. Morgens weckten
uns die Glocken der Kathedrale Santa
Maria delFiore, und nachmittags gin-
gen wir in die Galerie der Uffizien. Der
Eintritt war sehr teuer,woran laut Ein-
lasspersonal die letzteRegierung schuld
sei oder die derzeitige oder die nächste.
So richtig wusste das in Italien niemand.
Ausserdem war es heiss, und man stand
immer an, lange, und drinnen angekom-
men, wollten dann alle die Gemälde von
Botticelli sehen, oder sie wollten ge-
sehen werden,wie sie die Gemäldevon
Botticellisehen.Telefone mit albernen
Schutzhüllen wurden wieRevolver auf
die «Venus» oder den«Vater» Albrecht
Dürers gerichtet.Das machte uns nervös.
Auf unserem Rückweg begannen wir zu
streiten.Wahrscheinlich nur wegen der
vielenReisebusse und der buntenTele-
fone,aber es war wieder vorbei, wieder
für immer. Sie ging wutentbrannt ins
Hotel, ich in die nächsteBar.
Wie dieBar hiess, kann ich nicht sa-
gen, aber sie lag am Ende der Piazza
Santo Spirito, neben einer Kirche aus
Spritzputz, nicht weit vom Hotel.Vor-
mittags war der Platz ein Markt, und
nachmittags rannten auf ihm Kinder.
Der Platz beruhigte sich nie. Die Kin-
der jagten Hunde, und die Hunde jagten
Tauben, und die Kinder schossen den
wenigenTouristen mit ihremFussball
die Rotweingläser vomTisch.Ein Italie-
ner brüllte über den Platz. Idyllisch. Ich
zog mir den Hut ins Gesicht, bestellte
billigenWein und schrieb wütende SMS
an meineFreundin.
Stundenvergingen.Vor mir lagen
ein aufgeschlagenes Notizbuch und
einePackung Marlboro. Ich brauchte
sie nicht und las einen Artikel über die
französische Riviera in der Zeitung, las,
dass dieKüste ihre Identität wiederent-
decke, richtig aufblühe, trotz dem vie-
len Geld. Ich bestellte mehr billigen
Wein. Ein alter Italiener fragte nach
Feuer. Er fragte auch, was ich hier ma-
che, so alleine, den Hut ins Gesicht ge-
zogen. Ich sagte: «Ferien.» «Schön»,
sagte er, «alleine?» Ich sagte:«Von nun
an ja.» «Ach», sagte er, «das liegt an der
Stadt, Florenz istkein guter Ort mehr
für die Liebe.»Da sollten wir hin, er
zeigte auf die Riviera in der Zeitung,
den Küstenstreifen, der sich dem Golf
von Genua entlang erstreckt und dann
weiter als Côte d’Azur bis Marseille.
Unter der sorglosen Ewigkeit der süd-
lichen Sonne gedeihe die Liebe präch-
tig. DasWetter derKüste sei nie warm,
und es sei nie kalt und immer angenehm.
Die Sonne lasse alles kräftig in denFar-
ben der Dinge erstrahlen.Vielen Men-
schen, die an dieKüste kämen, seien die
Farben egal, sie kämen wegen der ande-
ren Menschen, deswegen habe dieKüste
mit vielenVorurteilen zu kämpfen. Ich
sagte:«Wirklich?», er sagte: «Ja», und sie
fehlte mir jetzt sehr.

Auf den Spuren vondamals


Ich träumte mich los, träumte, wie wir
in t euren Hotels vomBalkon schauen
und ganz weit hinausschwimmen und
uns vomWind aus Italien nachFrank-
reich blasen lassen. Links Olivenhaine,
rechts wächst derWein. Durch viele
weisse Städte würden wir fahren, von
einerMahlzeit zurnächsten.Sie im weis-
sen Kopftuch, ich mit vomFahrtwind zu-
rückgelegten Haaren. Und wenn wir zu
beschwipst wären, um weiterzufahren,
würden wirPostkarten für unsere Müt-
ter kaufen oder trotzdem einfach weiter-
fahren und uns auf die schmalen Stras-
sen einer oft gemaltenLandschaft ver-
lassen, von denen der alte Italiener sagt,
sie würden die Schwächen der Männer
wegwaschen und dieTraurigkeitder
Dinge und bis in dieWirklichkeit unse-
rer Träume führen.
Ich schickte ihr eine SMS,Stich-
wort «Riviera?». Sie antwortete sofort,
schickte Smileys undAusrufezeichen,
und so machten wir uns, am Anfang
jenes Sommers, auf, die Kultur dieser
Küste zu ergründen.Wir wollten alles
weglassen, was man googelnkonnte , und
alles, was wir gehört hatten, um nur den
Spuren von damals zu folgen.
Nach Florenz ist aber nicht gleich die
Riviera. Man fährt durch eine grosse

Ebene, wird langsam darauf vorbereitet.
So,als würde es mit Absicht erst noch
einmal flach werden wollen vor den
Bergen Liguriens. Die Aufregung steigt.
Man kann die Höhe schon spüren, man
kann sie riechen, und sobald einen der
letzteAutobahntunnel ausspuckt, kann
man sie sehen.Welche Weite! Wo hört
der Himmel auf, wo fängt das Meer an?
Berge, die einfach so insWasser fallen,
als hätten sie das Meer kaumkommen
sehen.In derFerne Hügeldörfer, die sich
gerade so am Berg haltenkönnen.Dicke
Olivenöl-Mammas, die aus verwilderten
Einfahrten winken, undMänner, die,
vom Wein heiss, Lieder über verlorene
Liebe singen, immer ein bisschen Bolo-
gnese zwischen den Zähnen.Ein Leben,
das mehrKurve ist als Gerade. Durch
eine Landschaft, die man ständig gies-
sen möchte. Ein in derFerne fahrendes
Auto, lautlos. Danebeneine Bucht. Ein
mit Meer vollgelaufenesAquarell mit
Booten.Fahrrad fahren und Käse essen,
Rosen giessenund Forellen in einem
klarenBach fangen.Wer dieseVorstel-
lungvon Ligurien behalten möchte,
sollte den Hügeldörfern aber nicht zu
nahekommen. Dort lauern Touristen,
massenweise. Es sind die gleichenTou-
risten wie in Florenz, oder es sind an-
dere. Von ihren Empfehlungen erpresst,
schieben sie sich gegenseitig durch die
Mittagshitze steiler Gassen, schwitzen,
streiten ,stehe nahnungslos da.Bereit,
sich dieFerien mit Sehenswürdigkeiten
zu versauen.
Anders inGenua, der einstigen Mee-
reshauptstadt derWelt. Dort gibt es
fast keine Touristen. Die Stadt beginnt
mit hübschen Frauen aufRollern, wie
eineLavazza-Werbung, und urplötz-
lich schlingt sie dieAutobahn in ihrem
Schlund herunter, um s ie im Innersten
wieder auszuspucken.Als wir das Grand-
Hotel erreichen, ist es Nachmittag.Wir
waschenuns die Fahrt von der Haut und
fallen in einen lieblichen Schlaf.
Als wir aufwachen, scheint uns der
Vollmond schon durch dasBalkonfens-
ter auf die Haut. Sie macht sich noch
kurz frisch, ich warteunten an derBar.
Ein Gast spielt Klavier, etwas von Igor
Strawinsky. Ich rede mit demBarmann,
erzähle ihm, dass wir einen Abend in
der Stadt vor uns hätten. «Genua ist
tot», sagt derBarmann. Ich zahle, und
er wünscht uns viel Glück. Genua, bist
du das wirklich?Du stolze Seefahrer-
stadt, die den Hang hinaufklettert!Du
Tor zur Welt, gebaut ausKulturen, nicht
mehr modernisierbar.Was führst du im
Schilde? Ich sehe Huren,die sich im
Schatten der Gassen vor uns verste-
cken. Ich sehe deinenRuss, deineRat-
ten, ich sehePaläste, nur einen staubi-
gen Spalt voneinander entfernt. Span-
nung, die sich auflädt, wie einTelefon.
Schmale Gassen, die auf grosse Plätze
führen,und Leuchtreklamen, die mir sa-
gen, dass du doch am Leben bist. Nur,
wo sind deineBars, deine Menschen?
Ihre Absätze hallen einsam über dein
dunkles Pflaster.Touristen haben dich
nie erobernkönnen, und deine Schätze
gehören dir, deine «LesRouges»-Bar,
deinRestaurant «Au Café».Alles ver-
schwimmt, wir werden dich finden.
Trotz dem vielenWein der letzten
Nacht stand ich schon früh auf demBal-
konund schauteüber die Stadt. Ich sah
vor lauter Hafen das Meer nicht. Heute
würden wir die Côte d’Azur sehen, den
Garten Eden zwischenAlpen und Mit-
telmeer.AugusteRenoir in Cagnes, Paul
Signacin Saint-Tropez, Pablo Picasso in

Antibes und Henri Matisse in Nizza.
Nietzsche, Roth, Hemingway undPorter.
Wohl keine Region derWelt hat mehr
moderneKunst hervorgebracht als die
Riviera.Sie brachteAmedeo Modigliani
dazu,Landschaften zu malen, und gab
der deutschen Exilliteratur mit Sanary-
sur-Mer eine Hauptstadt. Ihre Hotels
habenWeltkriege überstanden und Be-
suche von Dieter Bohlen. Dazwischen
Friede, Freude, Hedonismus. Die Meis-
terschaft des guten Lebens, gewonnen
von Menschen, die sich einen Sommer
lang von Sonne, Sand und Sekt ernähren
konnten.Von Exilanten wie den Ameri-
kanern Gerald und Sara Murphy oder
der Kunstsa mmlerinBaronesse Béatrice
de Rothschild.

Alleine auf derWelt


Unsere Côte d’Azur beginnt 700 Meter
über dem Meer, in einem 1000 Jahre
alten Bergdorf. Eze ist nicht dasPara-
dies, aber eskommt ihm, von allem, was
wir bisher gesehen hatten, am nächs-
ten. Um das HotelLa Chèvre D’Or hat
man einen Garten Edengepflanzt. Die
Statuenstehen da, derPool plätschert,
man bringt uns Champagner und Blau-
beeren. Kauen muss man selber. Die
Minibar ist einRaum, und imWohn-
zimmer unsererKünstlersuite steht ein
grosser weisser Flügel,vor einem gewal-
tigenAusblick. EinAusblick,so schön,
dass man ihn durchkeine Sonnenbrille
derWelt verschmutzen möchte. Bis nach
Nizza kann man sehen.Man sitzt auf sei-
nem teurenBalkon und schaut auf noch
teu rere Privatinseln und Boote, die da
unten auf der Erde ankern. Morgens ist
die Stille hier oben so dicht, dass man
glaubt, allein auf derWelt zu sein. Nicht
einmal das Dröhnender Lamborghinis
schafft es bis hier herauf.
Zum Strand geht es bergab. Nietz-
sche hat denFussweg populär gemacht.
Wir gehen hinunter und schwimmen
weit hinaus. Fast bis zu den Booten.
Das Wasser sieht aus wie blaueLava.
Zurück wollen wir trampen. In zehn
Minuten halten dreiAutos,ein blauer
Ferrari, ein Opel Corsa und einBent-
ley.Alle nicht unsere Richtung. Ein al-
ter Mercedes nimmt uns mit. DerFah-
rer denkt, wir seien so arm, wie wir aus-
sähen. Am Eingangstor zu «La Chèvre
D’Or» lässt er uns aussteigen,hineinfah-
ren darf er nicht. Dieses Hotel ist heilig.
Hier wurde der Heiratsvertrag vonFürst
Rainiervon Monacound Grace Kelly
ausgehandelt, hier logierte bei der WM
1998 die französischeFussballnational-
mannschaft, hier wohnen wir. Hier se-
hen wir die ersten richtigenReichen,be-
ob achten ihr gedämpftes Leben, in dem
sie sich die Probleme scheinbar selbst
aussuchenkönnen.Kultivierte Emotio-
nen.Zwischen uns bestehen unsichtbare
Mauern ausBankkonten und Stolz. Ich
kann ihre abschätzenden Blicke auf mei-
nen Handgelenken spüren.

Glanzglorreicher Geschichte


Es wurde ein sehrromantischerRoad-
Trip,ein Mittsommermoment ausser-
halb der Zeit. In unserem weissenFiat-
Cabr io kam uns das Leben so einfach
vor, aber das Leben war nicht einfach,
und nach einigen Nächten mussten wir
auf die Erde zurück, und meineFreun-
din bekam einen fürchterlichenAus-
schlag am Hals. Der Doktor sagte, wir
dürftenuns für denRest derReise nicht
be rühren, aber der Doktor hatte doch
keine Ahnung von der Liebe, er hatte
nur seinen Computer und Internet.
DenRest des Sommers verbrach-
ten wir da, wo Ende des19. Jahrhun-
derts die englische Königin Victoria
ihreWinter verbracht hatte.Wir wohn-
ten in einem Gründerzeithotel mit Blick
aufs Meerund tranken Martinis an der
Hotelbar. Es war eine schöneBar mit
rotem Samt und Messing, die Kellner
trugen Manschettenknöpfe und verteil-
ten Häppchen. DieBar war lang und
hattePolster, auf die man seine Ellen-
bogen beim Sprechen stützenkonnte,
oder man sagte einfach nichts, sass da
und blickte durch denRaum hinaus aufs
Meer.Alles strahlte inWeiss, Grün und
Blau, im Glanz einer glorreichen Ge-
schichte.Auf den Liegen amPool lie-
gen seit je die schönsten verschränkten
Beine derWelt. Die Lobby wurde von
Gustave Eiffel entworfen,undim gesam-
ten Hotel gab eskeine Fenster , nur Ge-
mälde, die hinaus in den Himmel zeig-
ten. Das Hotel lag auf einem Kap, das

FRANKREICH

ITALIEN

Marseille

Menton

Cassis

Genua

Eze

Saint-Jean-Cap-Ferrat

Villefranche-sur-Mer

Saint-Tropez

Nizza

50 Kilometer NZZ Visuals/brt.

Die Hotelsder Riviera


haben Weltkriege


überstandenund


Besuchevon Dieter


Bohlen.Dazwischen


Friede, Freude,


Hedonismus.


Als CocoChanel


zum erstenMal mit


einembraunenTeint


aufkreuzte,war der


Skandalgross,und die


Sommersaison an der


Rivierawar eröffnet.


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