Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

Freitag, 1. November 2019 REISEN


Antibes und Henri Matisse in Nizza.
Nietzsche, Roth, Hemingway undPorter.
Wohl keine Region derWelt hat mehr
moderneKunst hervorgebracht als die
Riviera.Sie brachteAmedeo Modigliani
dazu,Landschaften zu malen, und gab
der deutschen Exilliteratur mit Sanary-
sur-Mer eine Hauptstadt. Ihre Hotels
habenWeltkriege überstanden und Be-
suche von Dieter Bohlen. Dazwischen
Friede, Freude, Hedonismus. Die Meis-
terschaft des guten Lebens, gewonnen
von Menschen, die sich einen Sommer
lang von Sonne, Sand und Sekt ernähren
konnten.Von Exilanten wie den Ameri-
kanern Gerald und Sara Murphy oder
der Kunstsa mmlerinBaronesse Béatrice
de Rothschild.

Alleine auf derWelt


Unsere Côte d’Azur beginnt 700 Meter
über dem Meer, in einem 1000 Jahre
alten Bergdorf. Eze ist nicht dasPara-
dies, aber eskommt ihm, von allem, was
wir bishergesehen hatten,am nächs-
ten. Um das HotelLa Chèvre D’Or hat
man einen Garten Eden gepflanzt. Die
Statuenstehen da, derPool plätschert,
man bringt uns Champagner und Blau-
beeren. Kauen muss man selber. Die
Minibar ist einRaum, und imWohn-
zimmer unsererKünstlersuite steht ein
grosser weisser Flügel,vor einem gewal-
tigenAusblick. EinAusblick,so schön,
dass man ihn durchkeine Sonnenbrille
derWelt verschmutzen möchte. Bis nach
Nizza kann man sehen.Man sitzt auf sei-
nem teurenBalkon und schaut auf noch
teu rere Privatinseln und Boote, die da
unten auf der Erde ankern. Morgens ist
die Stille hier oben so dicht, dass man
glaubt, allein auf derWelt zu sein. Nicht
einmal das Dröhnender Lamborghinis
schafft es bis hier herauf.
Zum Strand geht es bergab. Nietz-
sche hat denFussweg populär gemacht.
Wir gehen hinunter und schwimmen
weit hinaus. Fast bis zu den Booten.
Das Wasser sieht aus wie blaueLava.
Zurück wollen wir trampen. In zehn
Minuten halten dreiAutos,ein blauer
Ferrari, ein Opel Corsa und einBent-
ley.Alle nicht unsere Richtung. Ein al-
ter Mercedes nimmt uns mit. DerFah-
rer denkt, wir seien so arm, wie wir aus-
sähen. Am Eingangstor zu «La Chèvre
D’Or» lässt er uns aussteigen,hineinfah-
ren darf er nicht. Dieses Hotel ist heilig.
Hier wurde der Heiratsvertrag vonFürst
Rainier von Monacound Grace Kelly
ausgehandelt, hier logierte bei der WM
1998 die französischeFussballnational-
mannschaft, hier wohnen wir. Hier se-
hen wir die ersten richtigenReichen,be-
obachten ihr gedämpftes Leben, in dem
sie sich die Probleme scheinbar selbst
aussuchenkönnen.Kultivierte Emotio-
nen.Zwischen uns bestehen unsichtbare
Mauern ausBankkonten und Stolz. Ich
kann ihre abschätzenden Blicke auf mei-
nen Handgelenken spüren.

Glanz glorreicher Geschichte


Es wurde ein sehrromantischerRoad-
Trip,ein Mittsommermoment ausser-
halb der Zeit. In unserem weissenFiat-
Cabr io kam uns das Leben so einfach
vor, aber das Leben war nicht einfach,
und nach einigen Nächten mussten wir
auf die Erde zurück, und meineFreun-
din bekam einen fürchterlichenAus-
schlag am Hals. Der Doktor sagte, wir
dürftenuns für denRest derReise nicht
be rühren, aber der Doktor hatte doch
keine Ahnung von der Liebe, er hatte
nur seinen Computer und Internet.
DenRest des Sommers verbrach-
ten wir da, wo Ende des19. Jahrhun-
derts die englische KöniginVictoria
ihreWinter verbracht hatte.Wir wohn-
ten in einem Gründerzeithotel mit Blick
aufs Meerund tranken Martinis an der
Hotelbar. Es wareine schöneBar mit
rotem Samt und Messing, die Kellner
trugen Manschettenknöpfe und verteil-
ten Häppchen. DieBar war lang und
hattePolster, auf die man seine Ellen-
bogen beim Sprechen stützenkonnte,
oder man sagte einfach nichts, sass da
und blickte durch denRaum hinaus aufs
Meer.Alles strahlte inWeiss, Grün und
Blau, im Glanz einer glorreichen Ge-
schichte.Auf den Liegen amPool lie-
gen seit je die schönsten verschränkten
Beine derWelt. Die Lobby wurde von
Gustave Eiffel entworfen,undim gesam-
ten Hotel gab eskeine Fenster, nur Ge-
mälde, die hinaus in den Himmel zeig-
ten. Das Hotel lag auf einem Kap, das

einsam vomFels ins Meer bröckelte, und
Villen dösten unter denBäumen.Wenn
der Strand am Abend leer war, spazier-
ten wir zum Ende des Kaps und zu den
Villen und wieder zurück.
Vom Barmann erfuhren wir alles,
was wir seit je über die Riviera wis-
sen. Er hatte ein junges, vom Klima ver-
schontes Gesicht und verkörperte jenes
Gle ichgewicht, das dieBar eines gros-
sen Hotels in einem erzeugen kann. Er
war höflich und schmeichelte meiner
Freundin, nicht nur wegen desTrink-
gelds, denn wir hattenkeins.
Von ihm lernten wir, dass der engli-
scheAdel das Lebensgefühlder Côte
d’Azur erfunden und dass Stéphen Liége-
ard es in seinem Buch «La Côte d’Azur»
festgehalten hatte. Bis dieKünstler im
Sommer kamen, kam niemand im Som-
mer, und als Coco Chanel dann in den
1920er Jahren zum ersten Mal mit einem
braunenTeint aufkreuzte, war der Skan-
dal gross, und die Sommersaison an der
Riviera war eröffnet. Man baute eine

Zugverbindung, und dieKüste avancierte
zum ersten internationalenFerienziel.
Allen voran Saint-Tropez, dieses vom
Jetset zerfetzte Städtchen. Gemalt von
Paul Signac, geliebt für das Licht und eine
Landschaft, die sich von der Plaine des
Maures bis zu den Buchten des Südens in
die Ferne schwingt; und von allen über-
rannt, wegen einer schwarz-weiss foto-
grafierten BrigitteBardot. Saint-Tropez,
das war einmalPastis undPalaver , kurze
schwarzeBadehosen,Pernod-Werbung
von Picasso undPoster mitRomy Schnei-
der. In den Strassen liefen dieRoman-
figuren Colettes, und auf derPlace desLi-
ces konnte man sich in vonRoger Vadim
gedrehteFilmszenen setzen. Heute spie-
len die Alten vor dem «Le Café» zwar
immer noch Boule, nur denAnlauf haben
sie, über dieJahre, weg gelassen.
Wir gewöhnten uns sehr an denAus-
blick aus unserem Zimmer. Und als der
Tag unserer Abreise kam, waren wir
traurig, so, als würden wir etwas in die-
sem Ausblick zurücklassen. Es war ein

schönerAusblick, der weit über das An-
schauen hinausging und viel Glanz in die
Fassaden derVillen gebrachte hatte. In
jenem Sommer hatten wir viel gesehen,
aber was wichtiger war, wir hatten er-
kannt,dass es nicht darum ging, wie viele
Orte wir gesehen hatten,sondern wie viel
wir in diesen Orten sehenkonnten.Nur
in Ni zza war es anders. Nizza war einfach
nur schön, durchlaufen, toll finden, fer-
tig. Matisse, Chagall, Happy Hour in den
Bars, gar nicht so teuer. Lebendiggewor-
dene Schaufensterpuppen, helleWand-
farbe und immer die gleichen schönen
Fensterläden.
Das war’s, wir wären auch gern noch
geblieben, aber amWochenende, an
dem das schlechteWetter begann, ver-
liessen wir die Riviera.

DieReisewurdeunterstützt von:Adler Spa
Resort Thermae(Siena), «PalazzoGuadagni»
(Florenz),GrandHotel Savoia(Genua),«La
Chèvred’Or»(Eze),WelcomeHotel (Ville-
franche-sur-Mer) und Grand-Hôtel duCap-Fer-
rat FourSeasons(Saint-Jean-Cap-Ferrat).

Saint-Tropez,dieses


vomJetsetzerfetzte


Städtchen,wurde


von allen überrannt


wegen einer schwarz-


weissfotografierten


BrigitteBardot.


BrigitteBardot in Saint-Tropez, 1955. PHILIPPE HALSMAN / MAGNUM

56 57

Free download pdf