Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

Freitag, 1. November 2019 OUTDOOR59


«Ein klassisches Himalaja-Trekking

von vierzehn Tagen ist ein Irrsinn»

Wenn es Bergspor tlern an Fitness mangelt, liegt der Gr iff zu Medikamenten nahe. Walter Aeschimann spricht


mit dem Notfallmediziner Urs Wiget über medizinisches Halbwissen, Viagra und verant wortungslose Reiseunternehmer.


HerrWiget, Sie sind Mitbegründer der
Schweizerischen Gesellschaft für Ge-
birgsmedizin undwaren über 40Jahre
gebirgsmedizinischer Praktiker.Wie ist
Ihre Einschätzung: GehörtViagra ins
Notfallset von Alpinisten?

Nein!Viagra ist ein temporärer Hype.


Dann istViagra – zumindest für alpinis-
tischeTätigkeiten – unwirksam?

...unwirksam,nein, das ist nicht das Pro-
blem. DerWirkstoff Sildenafil vermin-
dert den zu hohen Druck in den Lungen-
arterien und kann so teilweise das Ent-
stehen eines Höhenlungenödems, also
Wasser in der Lunge, verhindern.Viagra
ist allerdings um einVielfaches teurer als
andere Mittel, aberkeinesfalls um ein
Vielfaches wirksamer. Ich denke da etwa
an Diamox, das demAuftreten einer aku-
ten Bergkrankheit vorbeugen kann. Oder
an Nifedipin bei einem Höhenlungen-
ödem. Cortisonpräparate wie Dexame-
thasonkönnen bei allen Höhenkrank-
heiten als Behandlung wirken.


Lautet Ihr Rat deshalb, stattViagra ein
Diamox einzuwerfen, bevor man auf die
Berge steigt?

Wir Gebirgsmediziner empfehlen die
vorsorgliche Einnahme nicht, denn da-
mit werden womöglich gewisse kör-
perliche Schutzmechanismen gehemmt.
Bildlich gesprochen:Wir schrauben die
Sicherung heraus.Wenn es wirklich kri-
tisch wird, gibt eskeine Sicherungen
mehr, dann brennt das Haus.Viel wich-
tiger als eine medikamentöseVorbeu-
gung ist diekorrekte Akklimatisation,
die jedoch Zeit braucht.


Ihre Empfehlung scheint nicht zu grei-
fen. DieRealität ist doch eher, dass viele
vorbeugend in die Pharmakiste greifen,
um übersWochenenderasch auf einen
Berg zu steigen.

Ich bin mir schon bewusst, dass das spe-
zifischeWissen auch präventiv verwen-
det wird und zu Missbrauch führen kann.
Ich bin dagegen, dass Leute in die Berge
gehen, die nicht vorbereitet oder unge-
eignet sind und dieses Manko mit Medi-
kamentenkompensieren. Zumal für ei-
nige nicht einmal das Naturerlebnis be-
deutend ist.Sie befriedigen ihr persön-
liches Ego damit, den prestigeträchtigen
Bergzu bezwingen.


Aber ist nicht die Gebirgsmedizin
für diese Entwicklung mitverantwort-
lich? Ihre Erkenntnisse ermöglichen es
bald jedem Amateur, auf denBerg zu
steigen.

Wer darf auf die Bergesteigen?Das
ist eine schwierige, auch eine ethische
Frage. Streng genommen müssten wir
ja Seil, Pickel und Steigeisen zu Hause
lassen.Wir dürftenkeinen künstlichen
Sauerstoff gebrauchen.Auch dies sind
Hilfsmittel, um denAufstieg zu erleich-
tern oder zu ermöglichen. Die Idee der
Gebirgsmedizin ist, ihr spezialisiertes
Wissen den ärztlichen Allgemeinprak-
tikern, Bergführern oder interessierten
Laien zu vermitteln. Dies war auch die
Grundidee der Schweizerischen Gesell-
schaft für Gebirgsmedizin, als sie vor 25
Jahren gegründet wurde. Es ist erschre-
ckend, wie viel Blödsinn und Halb-
wissen damals verbreitet waren.


ZumBeispiel?
Am Himalaja-Achttausender Shisha-
pangma, in lustiger Gesellschaft beim
Fondue-Essen auf 6400 Metern, lernte
ich einen französischen Chirurgenken-
nen. Er verkündete lauthals, dass er
Betablocker nehme, um sein Herz nicht
zu überfordern.Das war eine weitver-
breitete Empfehlung,auch unter Ärzten.
Aber sie ist grundfalsch.


Was genau ist falsch daran?
Ein gesundes Herz kann auch in gros-


sen Höhen nicht überfordert werden.
Esreguliert die maximale Herzfrequenz
selbst nach unten. Ich war am K2 auf
7000 Metern Höhe und habe mich völ-
lig ausgepowert. Meine maximale Herz-
frequenz ging nicht über140 Schläge pro
Minute.Am Mount Everest habe ich
denselbenTest wiederholt.Das Ergeb-
nis war das gleiche. Diese Erkenntnisse
wurden späterdurch zahlreicheFor-
schungen der Höhenmedizin bestätigt.

Welchen grundlegenden Ratschlag ge-
ben Sie dem alpinistischen Amateur?
Nehmt euch Zeit! Zeit für dieVorberei-
tung und für dieTour. Zeit ist das wich-
tigste Kriterium. Aber genau das wird von
vielen nicht eingehalten. Ein klassisches
Himalaja-Trekking von der Schweiz zum
Basislager des Mount Everest und zurück
dauert 14 Tage. Das ist ein Irrsinn.Auch
für eine HauteRoute in den Alpen sollte
man genügend Zeit einberechnen. Zwei
Tage mehr, um sich an die Höhe anzupas-
sen,können schon viel bewirken.

Undwer diese Zeit nicht aufbringen
kann?
Der muss schneller sein, alsokörperlich
sehr fit. Er muss den Berg am gleichen
Tag besteigen und wieder insTal zurück-
kehren.Das ist eine weitere Erkenntnis
der Höhenmedizin: Möglichekörper-
licheSymptome in der Höhe – Übelkeit,
Erbrechen oder starkeKopfschmerzen –
laufen demKörper hinterher. DerKör-
per merkt erst in der Nacht, dass er in
grossen Höhen ist. Dementsprechend
reagiert er auch verzögert. Das gilt
auch für Kinder. Siereagieren ähnlich,
sind aber auch nicht anfälliger für die
Höhenkrankheit als Erwachsene.

Viele glauben an eine positiveWirkung
von Alkohol.
Die erste Expedition der Schweizeri-
schen Gesellschaft für Gebirgsmedi-

zin führte uns nachPakistan auf 7550
Meter Höhe. Dort haben wir eine
Alkoholstudie durchgeführt. Das
HotelWaldhaus in St. Moritz spon-
serte uns mit dem teuerstenWhisky,
den wir in Infusionsflaschen schmug-
gelten.Das Problem bei Alkoholstu-
dien ist, dass man sie nicht doppel-
blind machen kann. Man merkt sofort,
ob man betrunken ist oder nicht. Die
Studie wurde deshalbnicht veröffent-
licht.Trotzdem haben wir eine Er-
kenntnis gewinnenkönnen: Alkohol
hat keinen Einfluss auf die Höhen-
krankheit.

Kann Alkohol leistungssteigernd wir-
ken?
Es gibt Mediziner, die völlig abraten
von Alkohol.Streng wissenschaftlich
betrachtet, hat eine moderate Menge
Alkohol wohlkeinen Einflussauf die
körperliche Leistung in der Höhe.Aber
die Meinungen gehen auseinander, weil
auch eine psychischeKomponente mit-
spielt. Ich denke,dass massvoller Ge-
nuss von Alkohol entspannen und gut-
tun kann. Und was guttut, kann eine
positiveWirkung auf die Leistung haben
und kann nicht schädlich sein.

DasWissen um höhenmedizinische
Aspekte hatsich stark verbessert.Den-
ken Sie, dass esunterdessen an derBasis
angekommen ist?
Vieles ist angekommen, einiges wird
auch befolgt. Dennoch begegnet man
nach wie vor skandalösen Dingen.In
Leh, einer Stadt inLadakh auf 3500
Metern Höhe, habeich eine grosse
internationaleYogagruppe angetrof-
fen. 300Leute wurden eingeflogen
und schon am nächstenTag mit dem
Bus auf 50 00 Meter Höhe gefahren.
Alle,selbst derYogaguru, haben er-
brechen müssen und sind halbtot
herumgeschlichen.Wer alsTr ekking-

Unternehmer eine solcheReise orga-
nisiert, hatkeine Ahnung und handelt
verantwortungslos.

Wo sehen Sie die Zukunft der Gebirgs-
medizin?
Ich binkeinTechnikfreak. Aber das
Handy hat schon viele Menschenleben
gerettet. Der Einsatz von digitalenTech-
nologien, umräumliche und zeitliche
Distanzen zu überwinden, die Möglich-
keit, spezifischesWissen im Internet ab-
zurufen oder sofort Spezialisten zukon-
taktieren, das alles ist schon genial. Die
E-Medizin oder dieTelemedizin wird
künftig auch in der Gebirgsmedizin eine
grosseRolle spielen.

«Ich bin dagegen,


dassLeute


in die Berge gehen,


die nicht vorbereit et


oder ungeeignet sind


und diese s Manko


mit Medikamenten


kompensieren.»


Eine Menschenschlange am Mount EverestimMai diesesJahres.Umden Aufstieg zu erleichtern,setzten vor allem ungeübte Alpinisten präventi vMedikamente ein. NIRMALPURJA/ AP

Der Bergdoktor


W. A.·Urs Wiget, 75,
zählt zu den erfahrens-
ten Notfallmedizinern in
der Schweiz. Er war All-
gemeinpraktiker im Val
d’Anniviers, arbeitete als
Oberarzt bei der Schwei-
zerischen Rettungsflugwacht (Rega)
und bei Air Glaciers, war 25Jahre
lang verantwortlich für die medizini-
scheAusbildung der Schweizer Berg-
führer undTeamarzt von Alinghi beim
33 .America’s Cup.Wiget ist einer der
Mitbegründer der Schweizerischen Ge-
sellschaft für Gebirgsmedizin (SGGM),
die am 9. November ihr 25-Jahr-Jubi-
läum feiert. Die SGGM ist eine Non-
Profit-Organisation und wurde mit dem
Ziel gegründet, medizinischesWissen
im Zusammenhang mit bergsteigeri-
scher Tätigkeit in Lehre undAusbil-
dungzuvermitteln.Die Gebirgsmedi-
zin unterscheidet zweiTeilgebiete, die
Bergrettungsmedizin und die Höhen-
medizin.
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