Süddeutsche Zeitung - 08.11.2019

(lily) #1
Brüssel– Jean-Claude Juncker ist davon
überzeugt, dass US-Präsident Donald
Trump keine neuen Zölle auf die Einfuhr
europäischer Autos verhängen wird.
„Trump wird ein bisschen rummäkeln,
aber es wird keine Automobilzölle geben“,
sagte der scheidende EU-Kommissions-
präsident im SZ-Interview. sz  Seite 2

Düsseldorf– Trotz der geplanten Schlich-
tung im Tarifkonflikt bei der Lufthansa
wird es auch am Freitag zu Flugausfällen
kommen. Der am Donnerstag begonnene
48-stündige Streik solle fortgesetzt
werden, hieß es bei der Flugbegleiter-
gewerkschaft UFO.dpa  Wirtschaft

Detmold– Eine 15-Jährige soll im westfäli-
schen Detmold ihren drei Jahre alten Halb-
bruder getötet haben. Eine Nacht lang war
die Jugendliche auf der Flucht, bevor sie
am Donnerstagvormittag festgenommen
wurde. Der Junge ist laut Staatsanwalt-
schaft in der heimischen Wohnung ersto-
chen worden.dpa  Panorama

Berlin– Ärzte dürfen von Januar 2020 an
Patienten Gesundheits-Apps verschrei-
ben, die Krankenkassen erstatten die Kos-
ten. Ein entsprechendes Gesetz beschloss
der Bundestag. Gesundheitsminister Jens
Spahn (CDU) verspricht sich davon eine
bessere Versorgung, Experten warnen vor
Datenmissbrauch. stad  Seite 7

Meinung


In deröffentlichen Debatte


zeigt sich eine zunehmende


Unfähigkeit zum Streit 4


Politik


Das Verfassungsgericht muss klären,


ob es Diebstahl ist, entsorgte


Lebensmittel einzusammeln 7


Feuilleton


Die Frau, die zu früh aufgab:


Corinna Harfouchs großer


Auftritt im Film „Lara“ 11


Wirtschaft


Strom wird 2020 teurer.


Spezielle Anbieter helfen beim


Wechsel des Versorgers 22


Medien


Wie viel haben Frauen


in der deutschen Publizistik


zu sagen? 35


TV-/Radioprogramm 36
München · Bayern 34
Kinder- und Jugendliteratur 15
Rätsel 35
Traueranzeigen 24


Irgendein Sturm der Entrüstung braut
sicheigentlich immer zusammen und ent-
lädt sich täglich in heftiger Empörung. In
der so grell ausgeleuchteten Gegenwart
fliegen öffentlichen Figuren rasch die Fet-
zen um die Ohren. Plötzlich stehen sie im
Zentrum des nächsten Shitstorms – weil
Verfehlungen aus ihrer Vergangenheit
ans Licht geraten sind, weil sie kontrover-
se Standpunkte vertreten oder weil sie ein-
fach groben Mist gebaut haben. Was dann
folgt, gehört ebenso zur Gegenwart wie
der Empörungssturm zuvor: die öffentli-
che Entschuldigung. Aber mal aus rein
taktischer Perspektive gefragt, ganz unab-
hängig davon, ob eine Entschuldigung an-
gebracht wäre: Lässt sich die Empörung
mit einem Mea culpa lindern oder schü-
ren Politiker und andere öffentliche Figu-
ren so den Zorn erst recht?
Die gängigen Empfehlungen zur Kri-
senkommunikation, das eigene Empfin-
den und vielleicht sogar der Anstand sa-

gen: unbedingt entschuldigen. Der Sozial-
wissenschaftler Richard Hanania von der
Columbia University in New York hat je-
doch gerade eine Untersuchung veröffent-
licht, die das Gegenteil nahelegt. Dem-
nach heizen öffentliche Entschuldigun-
gen die Wut auf die Figuren im Zentrum
solcher Kontroversen sogar noch an. Eine
Geste der Reue und die Bitte um Verzei-
hung bringen vor allem jene in besondere
Wallung, die zuvor schon empört waren,
wie Hanania im FachjournalBehavioural
Public Policyberichtet.
Im Privaten wirken Entschuldigungen
zwar nicht immer, aber immerhin oft. Da-
zu findet sich vieles in der psychologi-
schen Forschung. Das muss jedoch nicht
heißen, dass dies auch im Falle öffentli-

cher Empörungsspektakel so ist. „Dann
könnten ganz andere Maßstäbe gelten“,
schreibt Hanania, dessen Arbeit diese Fra-
ge als eine der ersten untersucht.
Dafür ließ er mehrere Hundert Proban-
den Beschreibungen reeller Kontrover-
sen bewerten. Darunter war zum Beispiel
die Aussage des ehemaligen Präsidenten
der Harvard University, Larry Summers,
der 2005 die geringe Zahl von Frauen an
den Ingenieurs- und Naturwissenschafts-
fakultäten an Top-Unis auf angeblich ge-
ringeres Talent schob. Er musste deswe-
gen kurz darauf zurücktreten. Sagte Ha-
nania seinen Probanden nun, dass sich
Summers im Anschluss entschuldigt hat-
te, forderten viele Probanden erst recht
Sanktionen. Das galt insbesondere für

Frauen und politisch links Eingestellte, al-
so jene, die ohnehin aufgebracht waren.
Bei Konservativen oder Männern zeigte ei-
ne Entschuldigung hingegen kaum einen
Effekt – ihre Einschätzung zur Verwerf-
lichkeit der Aussagen blieb konstant.
Ähnliche Ergebnisse legte kürzlich
auch der Harvard-Forscher Cass Sunstein
vor. Wie sich die Ergebnisse erklären, dar-
über können die Wissenschaftler nur spe-
kulieren. Eine Entschuldigung könne wie
ein Geständnis wirken, so Sunstein, was
gerade in ambivalenten Situationen Wut
befeuern würde. Beide betonen, dass Do-
nald Trump aus rein taktischer Perspekti-
ve demnach alles richtig mache. Der US-
Präsident entschuldigt sich grundsätz-
lich für keine seiner vielen Beleidigun-
gen. Die schamlose Provokation ist seine
schärfste Waffe, seine Anhänger lieben
ihn gerade dafür. Eine Entschuldigung
würden sie ihm nur als Zeichen der Schwä-
che verübeln. sebastian herrmann

von daniel brössler
und mike szymanski

Berlin– Frankreichs Präsident Emmanuel
Macron sieht die Nato wegen der Politik
von US-Präsident Donald Trump in exis-
tenzieller Gefahr. „Was wir derzeit erleben,
ist der Hirntod der Nato“, sagte Macron in
einem Interview der britischen Zeitschrift
The Economist. Für nicht mehr sicher ge-
währleistet hält es Macron, dass der An-
griff auf ein Nato-Land den Bündnisfall
auslösen würde. Auf die Frage, ob er noch
an den Bündnisfall-Artikel des Nato-Grün-
dungsvertrags glaube, wonach ein Angriff
auf ein Mitgliedsland als Angriff auf alle
Verbündeten angesehen wird, antwortete
er: „Ich weiß nicht.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
wies den Vorwurf Macrons am Donnerstag

mit deutlichen Worten zurück. „Diese
Sichtweise entspricht nicht meiner“, sagte
sie nach einem Gespräch mit Nato-Gene-
ralsekretär Jens Stoltenberg in Berlin. „Ein
solcher Rundumschlag ist nicht nötig“, be-
tonte die Kanzlerin, auch wenn sich die
Nato-Partner zusammenraufen müssten.
„Die Nato ist und bleibt Eckpfeiler unserer
Sicherheit“, sagte sie. Nato-Generalsekre-
tär Jens Stoltenberg bemühte sich, Zweifel
an der Vitalität der Nato und der Verläss-
lichkeit der USA zu zerstreuen. „Die USA
lassen Europa nicht im Stich“, sagte er.
Macron hatte gefordert, die Realität der
Nato angesichts des Verhaltens der USA
neu zu bewerten. Es gebe Anzeichen, dass
die USA „uns den Rücken zukehren“. Dies
habe die Entscheidung von US-Präsident
Trump für einen Truppenabzug aus Nord-
ost-Syrien ohne Konsultation der Verbün-

deten gezeigt. In einer gemeinsamen Pres-
sekonferenz mit seinem US-Amtskollegen
Mike Pompeo unterstrich auch Außenmi-
nister Heiko Maas (SPD) die Bedeutung der
Nato und lobte die Beziehungen zu Wa-
shington. „Die USA bleiben Europas wich-
tigster Verbündeter und Deutschlands
wichtiger Verbündeter außerhalb Euro-
pas“, sagte Maas. Pompeo rief zum Kampf
für gemeinsame Werte auf und bezeichne-
te seinerseits die Nato als eine der wichtigs-
ten strategischen Partnerschaften in der
Geschichte.
Bundesverteidigungsministerin Anne-
gret Kramp-Karrenbauer forderte unter-
dessen ein stärkeres Engagement Deutsch-
lands innerhalb der Nato. Deutschland
müsse spätestens 2031 die Zusage der
Nato-Länder erfüllen und zwei Prozent sei-
ner Wirtschaftsleistung für Verteidigung

ausgeben. Ziel müsse es sein, dass Deutsch-
land nicht nur die Nato-Selbstverpflich-
tung bei den Wehrausgaben umsetze, son-
dern wie zugesagt zehn Prozent der Nato-
Fähigkeiten zur Verfügung stellt, sagte die
CDU-Chefin am Donnerstag in einer au-
ßenpolitischen Grundsatzrede an der Bun-
deswehr-Universität München.
Die Ministerin plädierte zudem für die
Einrichtung eines Nationalen Sicherheits-
rates, in dem das internationale Auftreten
Deutschlands von mehreren Ministerien
besprochen werden müsse. Dies stieß auf
Ablehnung der SPD. Nils Schmid, außenpo-
litischer Sprecher der Fraktion, sagte der
SZ: „Wir brauchen kein zusätzliches Gremi-
um. Entscheidend ist, dass jeder seine Auf-
gaben macht und das Verteidigungsminis-
terium die Einsatzfähigkeit der Bundes-
wehr sicherstellt.“  Seiten 4 und 8

Köln– Die Garantieverzinsung für Lebens-
versicherungen wird bereits 2020 oder
2021 weiter sinken. Derzeit liegt sie bei
0,9 Prozent. In Zukunft wird wegen der his-
torisch niedrigen Zinsen nur noch ein Wert
von 0,25 Prozent oder 0,5 Prozent erlaubt
sein. Damit rechnen führende Vertreter
der Versicherungsbranche. Die Versiche-
rer könnten deshalb den Verkauf von staat-
lich geförderten Riester-Rentenverträgen
einstellen, weil die Anbieter dann nicht
mehr den Erhalt der Beiträge und der staat-
lichen Zulagen bis zur Auszahlung der
Zusatzrente garantieren können. Noch
schwieriger wird es dann werden, positive
Erträge aus dem eingezahlten Geld zu
erwirtschaften. Der Garantiezins, den das
Bundesfinanzministerium festlegt, ist in
den vergangenen Jahren immer tiefer
gesunken. Anfang 2000 lag er noch bei
4,0 Prozent.hfr  Wirtschaft

Berlin– Das Klimapaket der Bundesregie-
rung führt nach Auffassung von Verbrau-
cherschützern zu einer sozialen Unwucht.
„Haushalte mit geringem und mittlerem
Einkommen werden – relativ zur Höhe ih-
res Einkommens – am stärksten belastet“,
warnt Klaus Müller, Chef des Bundesver-
bands der Verbraucherzentralen. Und das,
obwohl sie im Schnitt weniger klimaschäd-
liches Kohlendioxid produzierten, „weil sie
weniger konsumieren, fliegen und kleine-
re Wohnungen haben“. Dies habe die Aus-
wertung mehrerer Studien ergeben, sagte
Müller derSüddeutschen Zeitung. „Der
Bundestag muss dringend nachbessern.“
Die Bundesregierung hatte ursprüng-
lich zugesagt, sie wolle alle Einnahmen – et-
wa aus der Erhebung eines CO 2 -Preises
oder aus höheren Kfz- und Luftverkehrs-

steuern – an die Bürger wieder ausschüt-
ten. Dies gehe aber an Geringverdienern
oft spurlos vorbei, warnt Deutschlands
oberster Verbraucherschützer. So bringe
es unteren Einkommensgruppen „nichts
oder wenig“, wenn sich die klimafreundli-
che Sanierung von Häusern künftig von
der Steuer absetzen lasse. „Wer aufgrund
seines niedrigen Einkommens keine Steu-
ern zahlt, kann auch nichts absetzen.“
Zu ähnlichen Schlüssen kommt ein bis-
her unveröffentlichtes Papier des Leibniz-
Instituts für ökologische Raumentwick-
lung in Dresden und des Zentrums für Eu-
ropäische Wirtschaftsforschung in Mann-
heim. Es liegt der SZ vor. So brächten die ge-
planten Förderungen, etwa für den Aus-
tausch von Ölheizungen, jede Menge Mit-
nahmeeffekte: Wer ohnehin umrüsten

wollte, bekomme nun noch Geld dafür. Ein
zusätzlicher Nutzen für das Klima entste-
he in diesem Fall aber nicht.
Vor allem halten die Autoren um Kathri-
ne von Graevenitz die Pläne aber für sozial
ungerecht, weil nur profitiert, wer eine Im-
mobilie besitzt. In den unteren bis mittle-
ren Einkommensgruppen wohnt die Mehr-
zahl der Menschen zur Miete. „Statt der
Vielzahl an Einzelmaßnahmen wäre ein hö-
herer CO 2 -Preis besser geeignet, um die
Klimaziele zu erreichen“, sagt Graevenitz.
„Verbunden mit einer Pro-Kopf-Entlas-
tung wäre diese Lösung auch sozial ge-
recht.“ Auch Verbraucherschützer Müller
wirbt für so eine Lösung, etwa über einen
„Klimascheck“: „Geringverdiener würden
insgesamt klar entlastet, Gutverdiener
würden leicht zuzahlen.“

Die Bundesregierung will stattdessen
die Ökostromumlage leicht senken und die
Pendlerpauschale über weitere Distanzen
anheben. Der CO 2 -Preis soll über die Jahre
steigen und könnte 2026 bei rund 60 Euro
je Tonne liegen. Nach Berechnungen des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor-
schung entfällt ein Großteil der Kosten da-
für auf private Haushalte, sie erhalten aber
nur einen Bruchteil zurück. Auch das Merca-
tor-Institut für globale Gemeingüter sieht
in einer ersten Auswertung „mittel- bis
langfristig bei steigenden CO 2 -Preisen eine
soziale Sprengkraft“. Ein Ausgleich fehle.
Ob der Bundestag einen solchen Aus-
gleich noch herstellt, ist allerdings frag-
lich. Im Eilverfahren soll er das komplette
Klimapaket noch diesen Monat anneh-
men. m. bauchmüller, c. endt

Juncker: Trump wird


auf Autozölle verzichten


Xetra Schluss
13289 Punkte

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18.30 h
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HEUTE


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Der Regen zieht in den Süden und Osten.
Die Schneefallgrenze geht auf 900 bis
1200 Meter zurück. Im Norden und Westen
lockert es zunächst auf, später kann es
auch dort regnen. Die Temperaturen errei-
chen fünf bis zehn Grad.  Seite 15

Vier Seiten SZ-Spezial mit dem
SchwerpunktBachelor & Master.

Experten kritisieren Klimapaket als ungerecht


Verbraucherschützer und Ökonomen: Maßnahmen belasten Geringverdiener, während Bessergestellte finanziell profitieren


Empörungsbeschleuniger


Öffentliche Entschuldigungen gehen oft nach hinten los


Merkel stellt sich gegen Macron


Frankreichs Präsident beklagt mit Blick auf das Verhalten der USA den „Hirntod“ der Nato.


Die Bundeskanzlerin widerspricht deutlich. Berlin diskutiert über eine neue Verteidigungspolitik


Riester-Rente


auf der Kippe


Finanzministerium legt niedrigeren
Garantiezins für Versicherer fest

Streik führt zu weiteren


Lufthansa-Ausfällen


15-Jährige soll Bruder


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Gottgegeben: Die Amerikaner und ihre Waffen Die Seite Drei


(SZ) Der vormalige EZB-Präsident Mario
Draghi hat mit seiner Geldpolitik, zurück-
haltend formuliert, nicht nur Begeisterung
ausgelöst. Viele seiner Gegner sahen, wenn
sie sein zwar nicht unedles, aber verteufelt
scharf geschnittenes Gesicht betrachte-
ten, darin etwas Falkenhaftes, das nichts
Gutes zu verheißen schien. Vorbei, Draghi
ist in Rente. Von seiner Nachfolgerin Chris-
tine Lagarde heißt es, dass sie seine Politik
fortsetzen wolle. Wohl um den Schrecken
darüber zu mindern, ließ sie nun wissen,
dass sie, geldpolitisch gedacht, weder Fal-
ke noch Taube sein wolle, sondern Eule.
Das seien, wie sie derZeitverriet, „sehr wei-
se Tiere“. Damit spielte sie auf die eben-
falls sehr weise griechische Göttin Athene
an, die uns bei Homer als „eulenäugig“ ent-
gegentritt. Physiognomisch lässt sich La-
gardes Eulenwunsch nur schwer stützen.
Ihre kecke Frisur weckt Assoziationen an
den Weißschopf-Hornvogel, wenn nicht so-
gar an den Weißschopf-Brillenwürger.
Tauben oder Falken: Solche Kategorien
hat man im Weißen Haus, im Kreml sowie
offensichtlich auch in der EZB. Uns Normal-
bürgern reicht es schon, wenn wir eine Mei-
se haben, wie sich ja überhaupt unsere Vo-
gelwünsche eher bescheiden anhören. Die
Liedzeile „Wenn ich ein Vöglein wär’“ lässt
offen, in welcher Gestalt man wegfliegen
will, und dem Schlagerrefrain „Ich wollt’,
ich wär’ ein Huhn“ ist der Drang nach Hö-
herem völlig fremd. Selbst unsere Dichter
brauchten ihre Zeit, bis sie zum freien Flug
tauglich waren. Der junge Goethe fühlte
sich, wiewohl noch ein Wurm, „dem Adler
gleich“, bis er merkte, dass ihn ein Wind so
hoch hinaufgetragen hatte; als dieser nach-
ließ, fand er sich wieder im Staube krie-
chend vor. Selbst einem versierten Kunst-
flieger wie Rilke war es in größten Höhen
nicht geheuer. Beim Kreisen um Gott ent-
fiel ihm, was er war: „ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang“.
Dass das Wesen der Eule mit Weisheit
hinlänglich umschrieben ist, mag glauben,
wer will. Schon mancher, der nur still da-
saß und mit kreisrunden Augen auf alles
blickte, wurde trotz zu vermutender Tor-
heit für weise gehalten, obwohl er nicht ein-
mal den Kopf um bis zu 270 Grad drehen
konnte. Die Eule kann das und sieht des-
wegen wohl mehr als unsereins, darunter
auch Sachen, die sie besser nicht sähe und
deren Anblick sie offenbar zu einem aus-
gesprochen düsteren Sehertum befähigt.
Bei Shakespeare taucht sie, der Vogel der
Nacht, etliche Male auf, und bald danach
passieren ganz schlimme Dinge. Übrigens
haben auch schon die alten Propheten der
Eule keine gutes Zeugnis ausgestellt. Fast
immer, wenn sie von Zerstörung und Ver-
wüstung sprechen, kommen danach die
Eulen, die in der Ödnis wohnen und sich
die Misere mit ihrer 270-Grad-Optik an-
schauen, in Cinemascope sozusagen. Mö-
ge es Christine Lagarde vergönnt sein, mit
ihrer Geldpolitik dem Bild von der Eule ein
paar freundlichere Töne zu geben!


DAS WETTER



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„ Meine inneren


Dämonen sind alle


noch da“


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