Süddeutsche Zeitung - 08.11.2019

(lily) #1

Wenn sich im Kino ein Mensch gleich in
derersten Szene anschickt, seinem Leben
ein Ende zu bereiten, dann ist das meist
der Anfang einer schwarzen Komödie über
den verzwickten Weg zurück ins Leben, in
Filmen wie „Harold and Maude“ oder „Ein
Mann namens Ove“. Aber komisch ist im
Leben von Lara erst einmal gar nichts.
Wie sie so allein in ihrer kleinen Woh-
nung im Berliner Hansaviertel aufwacht,
fehlt ihr ganz offenbar die Luft zum At-
men, die Energie zum Aufstehen. Dann
fällt ihr Blick auf die Leere zwischen den
Bücherregalen gegenüber, wo bis vor einer
Weile noch ein Klavier stand. Ach, das Kla-
vier. Und alle damit verbundenen, längst
begrabenen Träume.


Auf dem Tisch in der Küchennische, ne-
ben dem Aschenbecher, liegen zerknüllte
Blätter: gescheiterte Versuche, einen Brief
zu schreiben. Es gäbe viel zu sagen. Nur
wie? Gegenüber im Regal ein Schwarzweiß-
foto von einer auch schon sehr ernsten, jun-
gen Lara mit Baby, ihrem Sohn Viktor. Mit
bleischweren Gliedern schält sich Lara aus
dem Bett, öffnet die Vorhänge und das
Fenster, holt einen Stuhl und schickt sich
völlig undramatisch an, in die Tiefe zu
springen.
In diesen Moment hinein schrillt ein
Klingelton. Zwei Polizisten stehen vor der
Tür, sie suchen einen Zeugen für eine Haus-
durchsuchung bei einem Nachbarn und sei-
nem in Drogengeschäfte verwickelten
Sohn. Die Störung nimmt ihren Lauf, ein
Protokoll wird angelegt, Personalien wer-
den aufgenommen. „Alles Gute!“, sagt der
Beamte, als er Laras Personalausweis zu-
rückgibt, und weiht seinen Kollegen ein:
„Sie hat Geburtstag, den sechzigsten.“
Es ist schon erstaunlich, wie viel man
hier über ein Leben erfährt, ohne dass die


üblichen, eher schwerfälligen Mittel der
Exposition bemüht werden. Kaum zwei
Minuten Filmzeit sind vergangen, da
meint man schon sehr viel über diese Lara
zu wissen. Das leitet sich aus der Textur
des Ortes und den gedrosselten Regungen
der Titelheldin ab, so konsequent und ge-
nau, dass man sofort in die Geschichte hin-
eingezogen wird. Der Regisseur Jan-Ole
Gerster vertraut auf die Sinnlichkeit der
Orte und die Kraft spärlichster Dialoge, bei-
des immer noch kostbare Eigenschaften
im deutschen Kino.
Lara selbst umgibt sich mit einem Pan-
zer des Schweigens, und wenn sie etwas
von sich erzählt, sind es Halbwahrheiten
oder glatte Lügen. „Ich würde Ihnen ja ger-
ne helfen, aber ich habe viel zu tun“, sagt
sie zu den beiden Polizisten. „Danke, mir
geht es sehr gut“, zu einer ehemaligen Kol-
legin. „Mein Sohn erzählt mir alles“, zu
einer Ex-Freundin von ihm.
Diese kleinen, beiläufigen Bemerkun-
gen und Beobachtungen am Rande sind es,
die sich langsam zum Bild eines verpfusch-
ten Lebens verdichten. Lara ist geschie-
den, frühpensioniert, ohne Freunde, kaum
Kontakt zu ihrem Sohn. Den Traum vom
Klavierspielen hat sie offenbar früh aufge-
geben. Durch diesen Tag, an dem ihr Sui-
zid vereitelt wurde, lässt sie sich nunmehr
einfach treiben – und das Herzzerreißende
ist, wie sie dabei Menschen, die ihr zugetan
sind, von sich stößt, zugleich aber vergeb-
lich um die Gefühle derer fleht, die sie
schon längst vergrault hat.
Das klingt alles ziemlich hart, und so
fühlt es sich auch an. Und es wäre schwer
zu ertragen, wenn es nicht so souverän er-
zählt wäre, und nicht so nuancenreich, fein
und ehrlich gespielt, wie Corinna Harfouch
das tut. Dieser Schauspielerin können die
Menschen gar nicht zu böse und nieder-
trächtig sein, weil sie alles, was menschlich
ist, ergründen will, weil sie hinter Miss-
gunst und Niedertracht ganz schnell auch
die Verletzungen und den Schmerz auf-
spürt, und also spürbar macht.

Sieben lange Jahre hat sich Jan-Ole
Gerster Zeit gelassen, um von seinem viel-
fach ausgezeichneten Kinodebüt „Oh Boy“,
der Geschichte eines jungen Drifters an
einem einzigen Tag in Berlin, in Schwarz-
weiß gedreht, endlich zu dieser „Lara“ zu
finden, seinem zweiten Spielfilm. Zufällig
ergab es sich, dass auch dieser nun an
einem einzigen Tag in der Hauptstadt
spielt.
Das Drehbuch stammt von dem sloweni-
schen Autor Blaž Kutin, und in gewisser
Weise spielen er und sein Regisseur hier
durch, was passiert, wenn man um seine
Träume nicht kämpft. Was auch ihnen hät-
te passieren können, wenn sie sich zu
schnell entmutigen oder vom Weg hätten
abbringen lassen – eine Angst, die wohl
jeder Künstler kennt. Auch Jan-Ole Gers-
ter erinnert sich an „einige Professoren“
an seiner Filmhochschule, „die es wohl gut
gefunden hätten, wenn ich hingeworfen
hätte“ – damals, als sich der Druck um den
Abschlussfilm langsam aufbaute.

Lara, das kommt im Lauf der Geschich-
te heraus, hat an diesem Punkt aufgege-
ben, und später ihre Träume auf ihren
Sohn projiziert, in einer fürchterlichen
Mischung aus Selbstzweifeln und dem
eisernen Willen, künftig durch ihr Kind zu
leben. Unter den vielen mehr oder weniger
zufälligen oder beabsichtigten Begegnun-
gen dieses Tages hätten viele eine eigene
Filmerzählung verdient, weil eine kleine
Bemerkung manchmal reicht, um die Ab-
gründe eines ganzen schwierigen Lebens
zu öffnen.
Da ist etwa ein dreizehnjähriger Junge,
der in einem Raum in der Musikschule dar-
auf wartet, dass sein Professor wieder-
kommt, und inzwischen mit seinem Smart-
phone hantiert. Lara ist zufällig anwesend

und findet, er sollte besser üben. Was er
denn gerade probe, hakt sie nach, mit einer
Nonchalance in der Stimme, die man so-
fort als nur vorgetäuscht erkennt. Er solle
es doch einmal vorspielen, fordert sie, da
schon übergriffig, und das steigert sich
dann immer mehr, bis sie auf monströse
Weise den Takt klatscht, um ihn schließ-
lich unerbittlich zu vernichten: Was für
eine Blamage das für seine Eltern wird, am
Tag des ersten Vorspiels!
Mehr muss man nicht sehen, um zu wis-
sen, wie sehr auch Laras Sohn Viktor (Tom
Schilling, nach der Hauptrolle in „Oh Boy“,
hier in einer sehr pointierten Nebenrolle)
an dieser strengen, enttäuschten und vor
allem sehr unglücklichen und unerfüllten
Mutter gelitten hat, die auch seine Klavier-
lehrerin war. Und warum er ihr, an diesem
Tag seines großen Konzerts, mit der Premi-
ere eines selbstkomponierten Stückes, bes-
ser aus dem Weg geht.
Es ist faszinierend, wie viel in diesen nur
vordergründig einfachen und zugleich fein
austarierten Szenen steckt. Das gilt nicht
nur für die Menschen und ihr Verhalten,
sondern auch für die Orte, die immer wie-
der zum Seelenspiegel werden. Frank Grie-
bes Kamera setzte Corinna Harfouch oft
auf eine Weise ins Bild, dass sie wie einge-
sperrt erscheint, gefangen zwischen Li-
nien, Kästen und Türenreihen. Wenn ein
Bildgestalter, ein Drehbuchautor, ein Re-
gisseur und eine Schauspielerin so zärtlich
und neugierig auf einen verletzten, ver-
korksten Menschen blicken, dann kann
man im Kino gar nicht anders, als gebannt
hinzuschauen. Und am Ende gibt es sogar
Zweifel der glücklicheren Art: Vielleicht ist
es ja doch nie zu spät, seine Träume zu
leben. anke sterneborg

Lara, D 2019 – Regie: Jan-Ole Gerster. Drehbuch:
Blaž Kutin. Kamera: Frank Griebe. Mit: Corinna
Harfouch, Tom Schilling. Volkmar Kleinert, Rainer
Bock, Maria Dragus, Edin Hasanović. Verleih: Stu-
dio Canal. 98 Minuten.

A


ls Erste erhoben sich die Jugendli-
chen aus den Slums von Bagdad, aus
Thawra, Schula, Hurrija. Sie waren
Straßenverkäufer und Fahrer von Tuk-
Tuks, Motorradtaxis. Die Regierung hatte
ihre selbstgebauten Elendshütten nieder-
reißen lassen und den Straßenverkauf ver-
boten, dann schränkte sie die Tuk-Tuk-
Routen durch die Stadt ein. Wo und wovon
sollten sie leben? Das war Anfang Oktober.
Die Aufständischen besetzten den Tah-
rir-Platz und andere Flächen der iraki-
schen Hauptstadt, und etwas Seltsames ge-
schah. Bislang galten Straßenverkäufer
und Tuk-Tuk-Fahrer als „Schmarotzer“,
die vom Chaos profitierten und rote Am-
peln überfuhren. Aber nun sang die Presse
Loblieder auf die jungen Menschen. Frau-
en und Männer, Intellektuelle und einfa-
che Bürger priesen ihren Mut, ihre Großzü-
gigkeit und Opferbereitschaft, weil sie hel-
denmütig die Verletzten ins Krankenhaus
brachten.
Denn die Regierung reagierte brutal –
selbst nach den Maßstäben der Region.
Sicherheitskräfte schossen mit Gummige-
schossen, scharfer Munition und Tränen-
gas. Jeder Protest in der arabischen Welt
bringt verstörende Bilder hervor, aber die
Szenen mit Leichen, aus deren Köpfen
Rauch aufsteigt, weil die Menschen mit
Tränengaskartuschen erschossen wurden,
gehören sicher zu den furchtbarsten.
Anfangs war die Regierung wie ge-
lähmt, irgendwann bot das Erdölministeri-
um den Tuk-Tuk-Fahrern kostenloses Ben-
zin an. Aber die Zahl der Opfer stieg. Offizi-
ell starben 250 Menschen, Tausende wur-
den verletzt. In Wahrheit dürften es deut-
lich mehr sein.
Bald besetzten die Aufständischen alle
Etagen in einem riesigen leerstehenden
türkischen Restaurant. Sie stellten Forde-
rungen: Die Scharfschützen auf den Ein-
kaufszentren und auf dem Dach des Fi-
nanzministeriums sollten abgezogen wer-
den, das Kabinett umgebildet, Arbeitslosig-
keit und Korruption bekämpft werden. Als
Antwort drohte die Regierung, jeden staat-
lichen Angestellten zu entlassen, der sich
an den Protesten beteiligte und erließ eine
Ausgangssperre. Beides führte zu noch grö-
ßeren Protesten. Am 25.Oktober griffen
die Unruhen auf andere Provinzen über.
Für die Regierung ist das eine beispiello-
se Situation. Denn im Vergleich zu Sudan,
Algerien und Libanon, die ebenfalls von
Aufständen erschüttert werden, stehen
sich im Irak Schiiten und Schiiten gegen-
über. Über Wochen wurden die Proteste
vor allem vom schiitischen Süden und der
Hauptstadt getragen. In Mossul oder in
den Sunnitenstädten im Westen blieb es ru-
hig. Zwar reihten sich in Bagdad Ende Okto-
ber einige Sunniten ein, aber in den sunniti-
schen Vierteln wie Mansur, Qadisija, Jar-
muk war es weiterhin so beschaulich, als
gehörten sie zu einer anderen Stadt.

Wer Auseinandersetzungen im Irak ein-
zig auf einen Konflikt zwischen Sunniten
und Schiiten zurückführt, mag das selt-
sam finden. Aber der Irak blickt auf eine
7000-jährige Geschichte zurück bis zu den
Reichen Mesopotamiens. Das Land war im-
mer schon Heimat für eine Vielzahl von
Religionen und Ethnien. Das Zweistrom-
land ist eine der gemischtesten Gesell-
schaften der Welt, aber erst der Konflikt
fördert diese Komplexität zutage.
Und es ist nicht das erste Mal, dass Schi-
iten gegen Schiiten kämpfen. Der Sunnit
Saddam Hussein hatte in den Achtzigerjah-
ren Krieg gegen das schiitische Iran ge-
führt, aber zwei Drittel seiner Armee be-
stand aus Schiiten – Bauernsöhnen, ar-
men Irakern aus dem Süden, ein paar Kur-
den –, während die hohen Offiziere und Ge-
neräle meist Sunniten waren. Als nach
dem Sturz Saddams die schiitische Mehr-
heit im Irak an die Macht kam, war der schi-
itische Süden die größte Stütze der Regie-
rung. Hunderte junge Männer aus Städten

wie Basra oder Nasirija verloren im Kampf
mit dem IS das Leben.
Doch sobald der IS zurückgedrängt war,
traten die Widersprüche zutage. Die Anti-
IS-Koalition von Parteien und Gruppierun-
gen zerbrach. Viele junge Männer, die aus
dem Krieg gegen die Terroristen zurück-
kehrten, waren schockiert, als sie begrif-
fen, wie groß die soziale Ungerechtigkeit
unter den Schiiten war. Als eine Regie-
rungsdelegation unlängst Nasirija am
Euphrat besuchte, klagte einer der De-
monstranten darüber, dass sich für die
Menschen seit Saddam kaum etwas verän-
dert habe. Damals seien die Schiiten Nasiri-
jas unterdrückt worden, heute litten sie
wieder Not, während die Parteieliten alle
Vorteile des Machtgewinns und des Sieges
über den Terror genossen.

Die meisten der jungen Demonstranten
haben keine Arbeit und bildeten noch bis
vor Kurzem die Basis der schiitischen Par-
teien. Schiitische Anführer wie der Predi-
ger Moqtada al-Sadr konnten auf sie zäh-
len. Das ist vorbei. Die jungen Leute lassen
sich nicht mehr mit weihevollen religiösen
Worten abspeisen. Eine der ersten Parolen
des Aufstandes lautete: „Die Diebe haben
uns bestohlen im Namen der Religion.“
Aber das Bild wäre nicht vollständig oh-
ne Iran. So wie seit dem Sturz Saddams die
soziale Spaltung zunahm, wuchs Jahr um
Jahr der Einfluss des Nachbarlandes. In-
zwischen hat die schiitische Theokratie im
Irak mehr Einfluss als die Vereinigten Staa-
ten. An Euphrat und Tigris treffen die bei-
den verfeindeten Mächte aufeinander:
Amerika mit seinem gigantischen Bot-
schaftsgelände, seinen Militärexperten
und seiner Armee (Präsident Donald
Trump hat unlängst 700 amerikanische
Soldaten aus Syrien in den Westirak verle-
gen lassen), und Iran.
Noch übt Iran keinen militärischen Ein-
fluss aus, aber viele irakische Politiker und
Milizen sind Iran treu ergeben. Diese „fei-
ne“ Einmischung bringt die Menschen erst
recht in Rage: Die politische Elite unter-
wirft sich den Verbündeten im Nachbar-
land, während viele Iraker trotz der gewalti-
gen Ölvorkommen des Landes weder sau-
beres Wasser noch Strom, weder medizini-
sche Versorgung noch Bildung besitzen.
Als sich der Schiitenführer Muktada al-
Sadr ihrem Protest anschließen wollte, blie-
ben sie skeptisch: Was soll das, wenn er
doch in der heiligen Stadt Ghom in Iran
lebt?
Die zweite Protestwelle richtete sich des-
halb gegen iranische Einrichtungen. Bilder
der iranischen Religionsführer Ayatollah
Chomeini und Chamenei verschwanden
von den Straßen, Aufständische griffen
das iranische Konsulat in der Provinz Ker-
bala an. Eine der wichtigsten Parolen lau-
tet: der „iranischen Einmischung im Irak“
ein Ende bereiten.
Am Sonntag haben die Aufständischen
in Bagdad und Basra zum zivilen Ungehor-
sam aufgerufen, in Basra die Straßen blo-
ckiert und den Verkehr zum Erliegen ge-
bracht. Bald dürften Nahrungsmittel
knapp werden. Die Protestbewegung er-
lebt ihr letztes Kapitel. Aber bei so vielen
mächtigen Mitspielern außerhalb des Irak
dürften die irakischen Aufständischen
bald keine große Rolle mehr spielen. Un-
willkürlich muss man an Bertolt Brechts
„Galileo Galilei“ denken. Nachdem Galileo
abgeschworen hat, besucht ihn sein Schü-
ler Andrea im Gefängnis in Rom. „Unglück-
lich das Land, das keine Helden hat“, sagt
er ein wenig vorwurfsvoll zu Galilei. Aber
dieser erwidert: „Unglücklich das Land,
das Helden nötig hat.“

Der SchriftstellerNajem Waliwurde 1956 im iraki-
schen Basra geboren. Zuletzt erschien von ihm der
Roman „Saras Stunde“ (Hanser). Er lebt in Bagdad
und Berlin.
Aus dem Arabischen von Najat Esa Hasan

Das unscheinbare Altmeister-Gemälde,
dasam heutigen Freitag in Wien dem Jüdi-
schen Museum als Schenkung übergeben
wird, stand im Mittelpunkt eines der größ-
ten Skandale zur Raubkunst in den vergan-
genen Jahren: Die Kopie nach Jan van der
Heyden stammte aus der Sammlung von
Gottlieb und Mathilde Kraus, Wiener Ju-
den, die nach dem Einmarsch der Deut-
schen im Jahr 1938 aus ihrer Heimat flie-
hen mussten. „Das Gemälde jetzt dem Jüdi-
schen Museum zu stiften, fühlt sich richtig
an“, sagt ihr Urenkel John Graykowski, der
mehr als acht Jahre lang für die Familie um
dieses Bild gekämpft hat. „Hier schließt
sich der Kreis, und das Bild bezeugt, dass
das Verbrechen des Holocaust nicht im
Jahr 1945 endete, sondern so lange andau-
ert, bis allen Überlebenden und ihren Er-
ben Gerechtigkeit widerfahren ist.“
Die Geschichte des „Holländischen
Platzbilds“ handelt dabei nicht nur vom
Raub – sondern auch von der Ignoranz der


bundesdeutschen Behörden in der Nach-
kriegszeit. Es war nämlich in die Samm-
lung von Heinrich Hoffmann, Hitlers „Leib-
fotografen“, gelangt, dem Schwiegervater
von Reichsstatthalter Baldur von Schirach
in Wien. Nach Kriegsende war es von soge-
nannten „Monuments Men“, amerikani-
schen Spezialeinheiten, sichergestellt wor-
den. Aber die Bayerischen Staatsgemälde-
sammlungen, in deren Obhut es überstellt
worden war, restituierten es nicht an die Fa-
milie Kraus, sondern an Henriette von Schi-
rach, die es umstandslos an den Xantener
Dombauverein verkaufte. Der Fall war ex-
emplarisch: Viele NS-Größen und ihre Ver-
wandten bedienten sich in den Depots.
Seit die Geschichte dieser Sammlung im
Auftrag der Erben von Anne Webber aufge-
arbeitet wurde, der Gründerin und Co-Vor-
sitzenden der Londoner Commission for
Looted Art in Europe, kam es zu zahlrei-
chen Rückgaben – allein der Dombauver-
ein sperrte sich. Mehr als sieben Jahre ver-

gingen bis zur Rückgabe. Und schlimmer:
Münchner Provenienzforscher in den Bay-
erischen Staatsgemäldesammlungen ver-
weigerten den Erben die Recherchen (SZ
vom 25./26. Juni 2016). Doch obwohl der
Skandal damals viel Beachtung fand, habe

sich bis heute niemand im Namen des Mu-
seums oder der bayerischen Behörden bei
ihm entschuldigt, sagt Graykowski. „Und
diese Vernachlässigung der Belange von
Familien, die in der gleichen Situation
sind, scheint bis heute anzudauern.“
John Graykowski ist mit seiner Familie
jetzt zur Übergabe des Bildes nach Öster-
reich gereist, gut ein Dutzend der Nachfah-
ren von Gottlieb und Mathilde Kraus möch-
ten, dass ihre Geschichte zum Präzedenz-
fall wird. Denn in Deutschland, darauf
weist Graykowski im Gespräch hin, sind
Privatsammlungen und privat finanzierte
Vereine bis heute juristisch nicht zur Rück-
gabe verpflichtet. Für die Familie ist der
Fall noch lange nicht beendet: Man werde
nicht aufgeben, „bevor nicht der Verbleib
aller 161 Gemälde aus der Sammlung ge-
klärt ist und wir sie zurückerhalten haben“.
Der Schlüssel dazu könnte in den Hän-
den einer anderen Familie liegen. Denn
nach Bekanntwerden des Skandals um die

Rückgaben an ehemalige NS-Funktionäre
ließ Ferdinand von Schirach, der bekannte
Anwalt und Autor, die Geschichte der
Sammlung seiner Großeltern aufarbeiten.
„Er hat aber im Verlauf der Forschungen
nie Kontakt zu uns aufgenommen“, sagt
Graykowski. „Dabei vermuten wir, dass
noch ein weiteres unserer Bilder in seiner
Sammlung war, das immer noch ver-
schwunden ist.“ Er würde Ferdinand von
Schirach „wirklich gerne“ treffen: „Öffent-
lich sagt er, dass er Scham und Wut ver-
spürt. Ich teile seine Wut. Wir sind – über
diese Kunstwerke – in einer besonderen
Weise für immer verbunden.“ Graykowski,
der Jurist, würde es vorziehen, gemeinsam
mit Ferdinand von Schirach für „notwendi-
ge Veränderungen der Gesetze zu kämpfen
und die Haltung der Behörden zu verän-
dern“. Der Festakt in Wien sei eine Möglich-
keit, ein „gemeinsames Anliegen“ voranzu-
bringen. „Und ich hoffe sehr auf diese Be-
gegnung.“ catrin lorch

„Scham und Wut“


Erbenschenken dem Jüdischen Museum Wien ein restituiertes Raubkunst-Bild – und wollen mit Ferdinand von Schirach sprechen


DEFGH Nr. 258, Freitag, 8. November 2019 11


Das Elend eines nicht gelebten Lebens


Corinna Harfouch ist großartig als eine Frau, die zu früh aufgab – Jan-Ole Gersters zweiter Film „Lara“


Die jungen Männer kehrten
aus dem Krieg gegen den Terror
zurück und waren schockiert

Feuilleton
EineBerliner Ausstellung
zeigt den modischen
Aufbruch Afrikas 13

Literatur
Ein SS-Mann, ein Erfolgsautor,
der Münchner Piper-Verlag und
ihre dubiosen Geschäfte 14

Kinder-und Jugendliteratur
Die Kindheit ist das Herz
des Menschen – Gedichte von
Elisabeth Borchers 15

Wissen
Bedrohtes Nationalsymbol:
Der Polarfuchs leidet unter
dem Klimawandel 16

www.sz.de/kultur

Diebe im Namen


der Religion


Was die Proteste im Irak von anderen arabischen


Aufständen unterscheidet.Von Najem Wali


Kaum zwei Minuten sind


vergangen, da meint man schon,


sehr viel über Lara zu wissen


An Euphrat und Tigris treffen
die beiden verfeindeten Mächte
USA und Iran aufeinander

Eine kleine Bemerkung reicht,
um die Abgründe
eines ganzen Lebens zu öffnen

FEUILLETON

Szeneneines Tages, der dann doch nicht der letzte war – Corinna Harfouch als „Lara“ in Jan-Ole Gersters gleichnamigem Film. FOTO: STUDIOCANAL


„Holländisches Platzbild“, eine Kopie
nach Jan van der Heyden. FOTO: LORC

HEUTE

Free download pdf