Süddeutsche Zeitung - 08.11.2019

(lily) #1
Leonberg bei Stuttgart, das kennen viele
nur als Autobahndreieck aus den tägli-
chen Staumeldungen. Aber Leonberg ge-
hört auch zur schwäbischen Kulturland-
schaft. Im örtlichen Schloss wohnte einst,
am Anfang des 17. Jahrhunderts, eine ver-
witwete Landesfürstin und experimen-
tierte neugierig mit einem Kräutergarten
und einer topmodernen Apotheke herum.
Doch während da der Geist des Fort-
schritts durch die Provinz wehen durfte,
wurde kurz danach im selben Städtchen
eine andere Witwe der Hexerei angeklagt.
Sie hatte angeblich böse Wirkungen auf
ihre Nachbarn und drohte gefoltert und
verbrannt zu werden, so wie Zehntausen-
de vermeintlicher Zauberinnen damals.
Diese Leonberger Witwe hieß Kathari-
na Kepler. Ihr Sohn war der weltberühmte
Astronom Johannes Kepler, Pionier der
Naturwissenschaften, der die Umlaufbah-
nen der Planeten richtig berechnete und
damit bestätigte, dass sie sich um die Son-
ne drehen. Er war durch humanistische
Bildung und Stipendien aus seiner ein-
fachen Herkunft in höchste Sphären auf-
gestiegen, wurde 1601 kaiserlicher Hof-
mathematiker in Prag. Doch als seiner
Mutter der gefährliche Prozess gemacht
wurde, zog Johannes Kepler mit seiner Fa-
milie zurück in die Heimat und übernahm
mit allen Mitteln seiner Argumentations-
kunst die Verteidigung. Sechs quälende
Jahre dauerte das, dann wurde Katharina
Kepler gerade noch freigesprochen.
Diese Geschichte erzählt die Historike-
rin Ulinka Rublack in ihrem Buch „Der
Astronom und die Hexe“, das man zögert,
„bezaubernd“ zu nennen. Dafür und für
ihre bisherigen Forschungen nimmt Ru-
black an diesem Freitag den wichtigsten
deutschen Geschichtspreis entgegen, den

Preis des Historischen Kollegs in Mün-
chen, der alle drei Jahre vergeben wird.
Ulinka Rublack rollt also den Kepler-
Prozess noch einmal auf. Das tut sie nicht
als Erste, aber sie führt uns genau und
packend in die bunte Welt der frühen Neu-
zeit, und sie setzt neue Akzente: Anhand
lokaler Akten kann sie zeigen, dass Leon-
berg damals, trotz schwieriger Lebensum-
stände am Vorabend des Dreißig jährigen
Krieges, keineswegs zu den ärmsten Ge-
bieten gehörte. Damit werden die
geläufigen Sündenbock-Theorien frag-
lich: Radikalisierung ist nicht immer nur
mit sozialer Not zu erklären. (Wer da an

AfD-Wähler in Westdeutschland denken
mag, darf das zwischendurch gerne tun.)
Und noch etwas lernt man an diesem Fall


  • hier die unfassbaren Hexenverfolgun-
    gen, dort der große Forscher, der selbst
    aber die Natur als eine göttliche „Weltma-
    schine“ betrachtet: Wahn und Aufklä-
    rung, Magie und Rationalität sind nicht
    sauber zu trennen als gestrig und zu-
    kunftsweisend, sondern greifen in der Ge-
    schichte immer wieder ineinander.
    Ulinka Rublack selbst, Jahrgang 1967,
    ist wie Kepler ebenfalls aus jener schwäbi-
    schen Gegend in die Welt gegangen: Seit
    den Neunzigerjahren arbeitet sie an der
    Universität Cambridge in England, sie hat
    dort einen renommierten Lehrstuhl inne
    und ist seit zwei Jahren auch Mitglied der
    British Academy. Aufgewachsen ist sie
    aber in einem Dorf bei Tübingen, wo ihr
    Vater als Historiker lehrte. Die Landschaft
    am Neckar, und auch der Dialekt, erzählt
    sie, „ist mir immer noch sehr nah“.
    Doch zugleich, sagt Rublack, sei das im-
    mer auch „eine gebrochene Heimat“ ge-
    wesen: Ihre Eltern waren keine Schwa-
    ben, sie machte ihr Abitur dann in Ham-
    burg; und heute, als eine führende Kultur-
    historikerin der Reformationsepoche und
    der Renaissance, die meist nur noch in
    englischer Sprache schreibt, ist sie weit
    davon entfernt, etwa nur Heimatstudien
    zu betreiben. Ihre nächsten Projekte han-
    deln von Albrecht Dürer sowie von der glo-
    balen Geschichte der Mode. Ihr Ehemann,
    mit dem sie zwei fast erwachsene Kinder
    hat, ist ein Historiker aus Portugal, der in
    London lehrt und über die katholische
    Inquisition gearbeitet hat. Eine solche
    Karriere macht man durch Fleiß, Glück
    und Klugheit – sie ist ganz sicher keine
    Hexerei. johan schloemann


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von claus hulverscheidt

F


ür Beifallsbekundungen ist es viel
zu früh, schließlich haben die zu-
rückliegenden zwei Jahre die Welt
gelehrt, dass auf jedwede Meldung über
Fortschritte im amerikanisch-chinesi-
schen Handelsstreit verlässlich der nächs-
te Nackenschlag folgt. Und doch: Die An-
kündigung aus Peking, beide Seiten sei-
en im Zuge eines ersten Teilabkommens
dazu bereit, einen Teil ihrer bilateral ver-
hängten Strafzölle zurückzunehmen, ist
der erste echte Lichtblick seit Langem.
Die Deeskalation ist dringend nötig,
denn die Präsidenten Donald Trump und
Xi Jinping haben mit ihrem Hin und Her
aus Zöllen und Gegenzöllen nicht nur Lie-
ferketten zerstört, sondern vor allem je-
nes Kapital, das Firmen unbedingt brau-
chen, um in neue Fabriken und Mitarbei-
ter zu investieren: Vertrauen. Mit jedem
Tag, an dem der Handelsstreit weiter
schwelt, wächst die Gefahr, dass der glo-
bale Konjunkturabschwung in eine von
Menschen sehenden Auges verschuldete
Rezession mündet – die wohl dümmste
Form denkbarer Weltwirtschaftskrisen.
Es stellt sich jedoch die Frage, was hin-
ter der Annäherung steckt. Ist es tatsäch-
lich Einsicht oder vielleicht doch eher die
Sorge Trumps, sich mit einem Konjunk-
tureinbruch in den USA 2020 aller Wie-
derwahlchancen zu berauben? Leider
spricht viel dafür, dass jenes zweite, eher
taktische Kalkül ausschlaggebend war.
Dabei ist der Grat, auf dem der US-Prä-
sident wandelt, schmal, denn es wird dies-
mal nicht reichen, einige kosmetische Än-
derungen als sensationellen „Deal“ zu
verkaufen. Dafür hat er im Streit mit Pe-
king zu hoch gepokert – und dafür sind
auch die Probleme zu gravierend. Schließ-
lich geht es in dem Konflikt ja nur vorder-
gründig um Soja-Exporte. Der eigentli-
che Kern ist die weiterhin ungelöste Fra-
ge, wer der Welt im 21. Jahrhundert wirt-

schaftlich und politisch seinen Stempel
aufdrücken wird. Noch sind in beiden Ka-
tegorien die USA die Nummer eins, doch
China macht ihnen den Platz mit allen er-
laubten und unerlaubten Mitteln streitig,
wogegen sich die Amerikaner mit allen er-
laubten und unerlaubten Mitteln weh-
ren. Ein solcher Grundsatzkonflikt lässt
sich nicht mit zeremoniellem Pomp zu-
kleistern, wie Trump ihn so sehr liebt.

Hinzu kommt: Zölle waren für den Prä-
sidenten bisher auf allen politischen Fel-
dern – vom China-Streit über die illegale
Zuwanderung bis zum Syrien-Konflikt –
das mitunter einzige Handwerkszeug.
Dass ihm sein Druckmittel der Wahl nun
ausgerechnet gegenüber Peking ein we-
nig aus der Hand gleitet, ist für ihn kein
gutes Signal. Es zeigt nämlich, dass sein
„Freund“ Xi in dem Streit am längeren
Hebel sitzt. Zwar kann auch Xi einen Ab-
schwung nicht einfach ignorieren, denn
die Macht seiner kommunistischen Par-
tei fußt außer auf Repression auch auf ih-
rer Fähigkeit, immer mehr Menschen zu
bescheidenem Wohlstand zu verhelfen.
Anders als Trump muss Xi aber nicht
fürchten, einfach abgewählt zu werden.
Er kann das Problem vielmehr aussitzen,
indem er einige symbolische Zugeständ-
nisse macht und ansonsten das Ergebnis
der US-Wahl in einem Jahr abwartet.
Hier liegt die eigentliche Gefahr: Sollte
Trump eines Morgens aufwachen und er-
kennen, dass doch Xi der schlauere „Deal-
maker“ ist, könnte jeder Fortschritt mit
ein, zwei Twitter-Breitseiten gegen Chi-
na umgehend dahin sein. Ein Wesenszug
des Präsidenten nämlich ist womöglich
noch mächtiger als seine Sehnsucht, wie-
dergewählt zu werden: seine Eitelkeit.

von mike szymanski

D


ie neue Verteidigungsministerin
Annegret Kramp-Karrenbauer hat
große Pläne präsentiert. Sie will
den Aktionsradius der Bundeswehr erwei-
tern. Die Truppe soll im Ausland mehr leis-
ten und härter in Konflikte gehen.
Deutschland müsse seine strategischen
Interessen stärker verteidigen. Das sind
ambitionierte Vorstellungen. Mit dem Vor-
schlag eines nationalen Sicherheitsrates
lässt die Ministerin immerhin die Einsicht
erkennen, dass es besser ist, sich zuerst in
der Regierung abzusprechen, statt im Al-
leingang Einsätze in Krisengebieten zu
fordern, wie sie es im Fall Syrien getan
hat. Auf der anderen Seite ist noch nicht
klar, worin das neue Gremium sich vom
schon bestehenden Bundessicherheitsrat
unterscheiden soll, in dem schon alle rele-
vanten Ministerien vertreten sind.
Es ist gerade einmal zweieinhalb Mona-
te her, dass sich die Ministerin im Irak erst-
mals einen persönlichen Eindruck davon
verschafft hat, was deutsche Soldaten im
Ausland leisten. Aber jetzt schon traut sie
sich zu, Deutschlands Beitrag zu Frieden
und Sicherheit in der Welt neu zu vermes-
sen. Spricht da eine Verteidigungsministe-
rin, die noch nicht einmal alle Einsatz-
gebiete besucht hat, oder doch eher eine
CDU-Politikerin, die gerne Kanzlerkandi-
datin werden und deshalb Entschlossen-
heit demonstrieren möchte?
In diesen Tagen verwischt manches im
Rollenverständnis Kramp-Karrenbauers:
Als CDU-Chefin fehlt es ihr noch an Füh-
rungsstärke. Das Amt der Verteidigungs-
ministerin mag geeignet sein, Durchset-
zungsstärke an anderer Stelle zu zeigen.
Aber allein der Verdacht, sie könne Schwä-
che in der einen Position mit übertriebe-
ner Stärke in der anderen kompensieren
wollen, mutet verstörend an. In ihrer CDU
geht es um Macht, in der Bundeswehr um
Menschen, die ihren Kopf später hinhal-

ten müssen. Kramp-Karrenbauer hat
noch nicht viel von den kaputten Winkeln
dieser Erde gesehen, in die sie bereit ist,
deutsche Soldaten zu entsenden. Dies soll-
te eher Anlass für Zurückhaltung sein.
Die Ministerin führt zudem eine Bun-
deswehr ins Feld, die so im Moment nicht
existiert. Mehr Auslandsmissionen, mehr
Kampfeinsätze, sogar im indopazifischen
Meer sieht sie die Truppe schon, wenn’s
sein muss. Und damit es tatsächlich mehr
nach ihr geht, möchte sie auch am Parla-
mentsvorbehalt rütteln. Die Realität aber
ist: Für zusätzliche Einsätze hat die Bun-
deswehr derzeit keine Kapazitäten.

In den beiden großen und gefährlichen
Einsatzgebieten Mali und Afghanistan
mit jeweils etwa tausend deutschen Solda-
ten verschlechtert sich die Sicherheitslage
zusehends. Zur Realität gehört genauso:
Jetzt schon hinterlässt jeder Soldat im Aus-
land eine Lücke in der Truppe daheim, die
schwer zu füllen ist. Dabei ist doch ständig
von Landes- und Bündnisverteidigung
die Rede. Nato-Generalsekretär Jens Stol-
tenberg kommt zu dem Befund, dass die
Europäische Union sich nicht verteidigen
kann. Und Frankreichs Präsident Macron
diagnostiziert den „Hirntod der Nato“.
Das sind die Probleme.
Bemerkenswert ist, mit welcher Leich-
tigkeit Kramp-Karrenbauer neue Kampf-
einsätze im Ausland ins Spiel bringt. Ihr
ist bewusst, wie viele deutsche Soldaten
im Afghanistan-Einsatz ihr Leben verlo-
ren haben. Es sind 58. Soldaten im Einsatz
und Veteranen vermissen aber den politi-
schen und gesellschaftlichen Rückhalt.
Daran müsste doch zunächst gearbeitet
werden, bevor weitere Soldaten in neue
Krisenregionen aufbrechen.

W


er blickt da eigentlich noch
durch? Rund 1300 Flüge musste
Lufthansa an diesem Donners-
tag und Freitag streichen, insgesamt bis
zu 180 000 Passagiere waren betroffen
und konnten nicht wie geplant ihre Reise
antreten. Der Grund: Die Flugbegleiter
streiken, allerdings nur ein Teil von ihnen.
Sie fordern dabei keine grundsätzlich bes-
seren Arbeitsbedingungen, sondern beste-
hen auf höheren Spesen und Zulagen.
Der Ausstand, der in den vergangenen
Wochen und Monaten eskaliert ist und be-
reis die Gerichte beschäftigte, ist unver-
antwortlich – gegenüber dem Unterneh-
men, den anderen Mitarbeitern und vor al-
lem den Lufthansa-Kunden. Denn diese


sind die eigentlichen Leidtragenden einer
internen Auseinandersetzung. Es geht um
die Interessen lediglich einer Minderheit
der insgesamt mehr als 135 000 Mitarbei-
ter, die aber besonders mächtig ist.
Ohne Kabinenpersonal kann keine Luft-
hansa-Maschine abheben. Die rund
20 000 Lufthansa-Flugbegleiter haben
gleich drei Gewerkschaften, die gegenein-
anderarbeiten: Die UFO, die zum aktuel-
len Streik aufgerufen hat, die Dienstleis-
tungsgewerkschaft Verdi sowie eine dritte
namens Cabin Union (CU). Lufthansa-
Chef Carsten Spohr darf sich nicht erpress-
bar machen. Dennoch ist er zu Recht jetzt
zu Gesprächen bereit, um das Problem
endlich zu lösen. caspar busse

A


irbnb will seine Wohnungen über-
prüfen, alle sieben Millionen, um si-
cherzugehen, dass sie die Qualitäts-
standards erfüllen. Gute Idee. Die Kunden
werden sich freuen, wenn jemand ein Au-
ge darauf hat, dass der Kühlschrank funk-
tioniert, die Handtücher sauber sind und
der hinterlegte Schlüssel leicht zu finden
ist. Am Grundübel ändert das nichts: an
der Zweckentfremdung von Wohnraum.
Wollte Airbnb dieses Problem wirklich
angehen, müsste der US-Konzern einen
Grundpfeiler seines Geschäftsmodells
aufgeben und zurückkehren zur Ur-
sprungsidee – ein Gastgeber lädt gegen
Bezahlung in seine Wohnung ein. Heute
aber ist Airbnb vieles: Absteige für Lang-


zeitmieter, Plattform für Leute, die eine
Partylocation suchen, oder für Urlauber,
die ein günstiges Appartement mit eige-
nem Bad mieten wollen – und eben kein
Bett im Wohnzimmer. Großvermieter ma-
chen sich diesen Kundenwunsch zunutze.
Auf dem Land und in Kleinstädten ist
das ja kein Problem. In Städten wie Mün-
chen, Paris oder London mit ihrem brutal
umkämpften Wohnungsmarkt aber sind
zweckentfremdete Appartements unsozi-
al. Die Städte haben begonnen, dagegen
vorzugehen. Sie sollten dem Konzern
noch deutlicher und vor allem vereint die
Stirn bieten. Darauf zu warten, dass er von
sich aus auf Einnahmen verzichtet, ist uto-
pisch. monika maier-albang

P


eter Altmaier hat über Politik und
Bürger nachgedacht. SPD und Uni-
on müssten lernen, „dass die Ab-
wendung von den Parteien nicht mehr nur
monokausal, wie mit Flüchtlingspolitik
oder Klimaschutz, zu erklären ist“, meint
er in einem Zeitungsbeitrag. Sondern?
Genau an dem Punkt hört die Analyse
des Ministers leider auf. Es folgen Vor-
schläge: Online-Anhörungen für Bürger
bei der Gesetzesberatung sowie Wahlter-
mine zusammenlegen. Mit Letzterem kä-
me man aus dem Dauerwahlkampfmo-
dus heraus; das ist erwägenswert. Online-
Anhörungen hingegen? Man soll den Wil-
len von Bürgern, politisch aktiv zu wer-
den, nicht überschätzen. Es lässt sich ah-


nen, wer die Server fluten würde: wer viel
zu schreiben, aber wenig zu sagen weiß.
Altmaier behandelt Symptome; aber
was ist mit den Ursachen? Liegt die Ent-
fremdung zwischen Politik und Bürgern
nicht auch daran, dass Politik ihr Angebot
allzu oft nach der angeblichen Nachfrage
ausrichtet, statt andersherum? „Wer will,
dass Menschen ihm folgen, muss vorange-
hen“, hat Roland Koch, Ex-Ministerpräsi-
dent von Hessen, neulich geschrieben.
Viel zu wenige Spitzenpolitiker vermitteln
den Eindruck zu wissen, was sie in ihrem
Amt denn wollen. Letztlich aber ist es wie
in jedem Job: Wer keine Idee davon hat,
darf die Lösung nicht von seinen Kunden
erwarten. detlef esslinger

G


ift ist eingedrungen in die
öffentlichen Debatten in
Deutschland, obwohl es hier-
zulande keinen Präsidenten
gibt, der sich in täglich gröbe-
rer Beleidigung übt, kein brexitbitteres
Parlament, dessen Mitglieder sich gegen-
seitig in den Wahnsinn treiben. Aber
wenn Rechtsextremisten Politikerinnen
und Politikern Todesdrohungen schicken,
dann ist da ein potenziell tödliches Gift
eingesickert. Und wenn der AfD-Mitbe-
gründer Bernd Lucke in Hamburg eine
Vorlesung über Makroökonomik nur un-
ter Polizeischutz abhalten kann, dann
zeigt sich: In verdünnter Form wirkt es
auch bei denen, die sich im Besitz der anti-
faschistischen Wahrheit wähnen.
Die Meinungsfreiheit sei in Deutsch-
land in Gefahr, heißt es nun. Dabei ist die
Meinungsfreiheit gar nicht so sehr das
Problem. Man kann in Deutschland Hane-
büchenes, gar Menschenverachtendes sa-
gen, ohne dass der Staatsanwalt kommt;
man muss nur aushalten, dass andere das
dann so kommentieren dürfen, wie es ei-
nem selber nicht gefällt. Die Klage, dass
die Meinungsfreiheit am Ende sei, klingt
oft mimosenhaft: Ich darf mit dem Wörter-
knüppel loshauen, doch haut einer zu-
rück, rufe ich Au und Weh.


Es offenbart sich vielmehr die zuneh-
mende Unfähigkeit zum Streit; die Unfä-
higkeit, Konflikte zu führen, Gegnerschaf-
ten, gar Feindschaften auszuhalten, ohne
dem Gegner oder Feind den Tod zu wün-
schen. Es gibt nicht zu viel Streit in
Deutschland, sondern es fehlt an der
Kunst, eine Feindschaft zu führen, die
dem Feind ein Argumentations- und Le-
bensrecht lässt. In einem demokratischen
Rechtsstaat ist diese Kunst unerlässlich.
Das bedeutet nicht, dass jedes Argument
gleich gilt. Der Rechtsstaat benennt seine
Feinde, er bekämpft sie mit Gesetzen, Poli-
zisten, Staatsanwälten. Aber er kennt kein
Feindstrafrecht, das seinen Gegnern min-
dere Rechte zugestehen würde.
Die Unfähigkeit zur guten Gegner-
schaft ist bei den Rechten eklatant und of-
fensichtlich; die Herabsetzung des Anders-
denkenden ist ihnen ein Identitätsmerk-
mal und wärmendes Feuer. Es geht ihnen
nicht um die Frage, ob Geflüchtete häufi-
ger Straftaten begehen als Sesshafte, ob
der Wortlaut des Korans fundamentalisti-
sche Lesarten begünstigt oder ob die Un-
terschiede zwischen Frauen und Män-
nern mehr sind als kulturelle Konstrukte;
all dies wäre den scharfen Streit wert. Es


geht darum zu bestimmen, wer mitzure-
den und wer den Mund zu halten hat, und
der Weg vom verminderten Argumentati-
onsrecht zum verminderten Lebensrecht
ist kurz. Es ist so entlarvend wie bedrü-
ckend, wie wenig Nachdenklichkeit der
Mord am Kasseler Regierungspräsiden-
ten Walter Lübcke bei der AfD und den Pe-
gida-Gruppen verursacht hat.
Doch auch bei den Linken hat die Fähig-
keit zur Auseinandersetzung gelitten; die
gute Absicht, mit Ausgrenzung die Aus-
grenzer von rechts zu bekämpfen, macht
die Sache nicht unbedingt besser. Wer die
herrschenden Deutungsmuster stört, die
falschen Begriffe benutzt, Ambivalenzen
zulässt und Zweifel streut, riskiert seine
Rede- und Argumentationsfreiheit, dazu
muss man nicht einmal Lucke heißen. Die
Philosophin und Feministin Svenja Flaß-
pöhler erzählt, wie sie einmal vor Studen-
tinnen über ihre Probleme mit Teilen der
gendergerechten Sprache redete, und die
Zwischenruferinnen sie unterbrachen:
„Hören Sie endlich auf, Sie beleidigen
uns!“ Das tötet jeden konstruktiven Streit.
Diese Unfähigkeit, sich befremden zu
lassen, fremde Gedanken auszuhalten, ist
auch bei den Linken gewachsen. Wer sich
aber nicht befremden lassen kann, bleibt
Gefangener der eigenen Blase und Harmo-
niekonstruktion, außerhalb der angeblich
Rassismus und Faschismus beginnen. Die
gegenwärtige Inflationierung der beiden
Begriffe ist ein Krisenzeichen – irgend-
wann taugen sie nicht mehr zur notwendi-
gen Unterscheidung von Meinungen, die
man ärgerlich finden mag, und dem tat-
sächlichen Rassismus und Faschismus.
Kann man das nicht üben – Konflikte
zu führen, Gegner- und Feindschaften
auszuhalten, ohne den anderen moralisch
oder physisch vernichten zu wollen? In
Schulen, Parteien, Gewerkschaften, den
Kirchen? Die Feindesliebe zum Beispiel,
die Jesus predigte, bedeutet ja zu akzeptie-
ren, dass es Feindschaften gibt, dass Geg-
nerschaften unausweichlich werden, so-
bald einer sich für das eine entscheidet
und für das andere nicht, diese Meinung
vertritt und jene ausschließt. Es heißt
aber auch, den Feind als Menschen zu ach-
ten und seine Würde zu schützen. Die
Kunst der Feindschaft bestünde darin,
vom Ross der höheren Moral herabzustei-
gen auf die Augenhöhe des Gegners. Sie
verlangte die regelmäßige Prüfung des
Streitgegenstandes und ob er die Feind-
schaft wert ist – und den Mut zur Asymme-
trie: den Gegner nicht zu hassen, auch
wenn er selber hasst.
Sie stellt die Wahrheitsfrage: Men-
schenverachtung ist alle Feindschaft
wert. Und kennt doch die Grenzen der eige-
nen Wahrheit. Kein Mensch schafft das im-
mer. Aber ein tägliches Training täte gut.

Der Übergang vom Leben in
den Tod kann heute eine
komplizierte Angelegenheit
sein. Selbst wenn der Atem
erloschen ist und das Herz be-
reits stillsteht, ermöglicht es die Appara-
tur der modernen Medizin, den Organis-
mus künstlich am Leben zu erhalten. Und
so stehen Intensivmediziner immer wie-
der vor der Frage, wann der an die Maschi-
nen angeschlossene Mensch wirklich tot
ist. Entscheidend dafür ist der Zustand
des Gehirns. Sind die Funktionen von
Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm irre-
versibel ausgefallen, sprechen Ärzte vom
Hirntod. Er ist das ultimative Zeichen für
den Tod eines Menschen. Von besonderer
Bedeutung ist die Feststellung des Hirn-
tods, wenn der Patient Organspender ist.
Um eine vorschnelle Organentnahme aus-
zuschließen, müssen in Deutschland
zwei Mediziner unabhängig voneinander
den Hirntod bescheinigen, mindestens ei-
ner muss Facharzt für Neurologie sein.
Die Diagnose ist nicht einfach; Experten
kombinieren dafür eine Reihe von Indika-
toren miteinander, darunter die Ergebnis-
se von Hirnuntersuchungen, Laborbefun-
de und die Vorgeschichte des Patienten.
Mehrfach wurden die Kriterien für das
Prozedere verschärft. Ob Frankreichs Prä-
sident Emmanuel Macron die Komplexi-
tät bewusst ist? Er befand am Donners-
tag: „Was wir derzeit erleben, ist der Hirn-
tod der Nato.“ beu

(^4) MEINUNG Freitag,8. November 2019, Nr. 258 DEFGH
FOTO: FRIEDRICH STARK/IMAGO/EPD
HANDELSSTREIT
Taktik statt Einsicht
BUNDESWEHR
Im großen Spiel
LUFTHANSA
Bodenlos
AIRBNB
Das Grundübel bleibt
BÜRGERBETEILIGUNG
Der Kunde soll’s richten
Mister Pompeo gibt sich die Ehre sz-zeichnung: burkhard mohr
STREITKULTUR
Ein guter Feind
von matthias drobinski
AKTUELLES LEXIKON
Hirntod
PROFIL
Ulinka
Rublack
Preisgekrönte
Historikerin der
Hexenverfolgung
Trump könnte die leichte
Entspannung im Konflikt mit
China schnell wieder beenden
Mehr Kampfeinsätze? Der
Truppe fehlt es jetzt schon in
vielen Bereichen am Nötigsten
Die Gesellschaft muss die Kunst
zivilisierter Auseinandersetzung
erst wieder lernen

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