Süddeutsche Zeitung - 08.11.2019

(lily) #1
Hannover–Eine ältere Dame kommt auf
ihn zu, sie starrt ihn an und umrundet ihn
wie eine Statue. „Ich wollte Sie nur anku-
cken“, sagt sie. „Ich kann Sie gar nicht wäh-
len, ich wohne nicht in Hannover. Aber
wenn ich schon mal die Chance habe, woll-
te ich einmal um Sie rumgehen. Ich drücke
Ihnen die Daumen.“ Belit Onay bedankt
sich höflich nach der Besichtigung und bit-
tet: „Wenn Sie Menschen aus Hannover
kennen, gerne ansprechen.“
Er steht im Nieselregen vor einem
grünen Wahlkampfstand mit Schirm und
Plakat in der zubetonierten Fußgängerzo-
ne, mitten im lange so knallroten Hanno-
ver, seiner Heimat, deren Oberbürgermeis-
ter er am Sonntag werden könnte. Groß,
schlank, graue Mütze. Plötzlich ist er eine
Attraktion. Denn es sieht so aus, als würde
dieser 38 Jahre alte Grünen-Politiker mit
dem türkischen Namen bei der Stichwahl
am Sonntag diese SPD-Hochburg erobern.

Belit Onay wäre tatsächlich der erste
Chef einer deutschen Landeshauptstadt,
dem man so etwas wie Migrationshinter-
grund zuschreiben kann. Kind türkischer
Zuwanderer, geboren 1981 in Goslar. „Ein
junger Mensch, auch mit Migrationshinter-
grund, steht für Diversity, für eine junge,
lebendige Stadt“, sagt er, es klingt nicht
aufgesetzt. „Das empfinden viele auch als
Signal und Chance für Hannover, gerade in
diesen Zeiten der Polarisierung, des
Rechtspopulismus. Ist schon ’ne coole Bot-

schaft.“ Das andere: Im schlossartigen Neu-
en Rathaus am Maschteich enden am Wo-
chenende 73 Jahre SPD-Herrschaft.
Seit 1946 regieren die Genossen Nieder-
sachsens Zentrale, doch seit dem Verfah-
ren wegen Untreue und dem Rücktritt von
OB Stefan Schostok im Mai 2019 fällt auch
diese Bastion. Der SPD-Bewerber hat die
erste Wahlrunde nicht überstanden. Ge-
genüber stehen sich nun der Jurist und
Landtagsabgeordnete Belit Onay und der
parteilose Ingenieur und frühere VW-Ma-
nager Eckhard Scholz, 56, der für die CDU
antritt. Beide bekamen in Durchgang eins
32,2 Prozent der Stimmen, Onay dreimal
so viel wie der Kandidat der Grünen 2013.

Umfragen sehen ihn jetzt vorne. Hanno-
ver neigt wie Hamburg zu Mitte-links, der
Mann der Grünen scheint das Lebensge-
fühl der Wähler am besten zu treffen. Die
ausgeschiedene SPD, im Stadtrat noch in
der Mehrheit, hat sich für Belit Onay ausge-
sprochen. Als Schüler war er selbst mal in
der SPD und an der Uni im CDU-nahen
Studentenring. Seine Herkunft spielte im
Wahlkampf alles in allem eine Nebenrolle,
von den knapp 550 000 Bewohnern hat je-
der dritte ausländische Wurzeln.
Manchmal wird er auf Türkisch ange-
sprochen, Belit Onay spricht die Sprache
und bringt sie auch seinem Sohn bei. „Ist
doch eine Bereicherung“, sagt er. Seine Rus-

sischkenntnisse sind ebenfalls nützlich,
„Hannover ist eine bunte Stadt“. Seine El-
tern sprechen längst gutes Deutsch, sie ka-
men in den Siebzigerjahren, der Vater ar-
beitete erst in einem Hotel. Ihre Sprache zu-
hause war Türkisch, Deutsch lernte der
kleine Belit im Kinderarten.
Er erzählt, wie ihn der Brandanschlag
1993 in Solingen geprägt hat, Neonazis töte-
ten fünf türkischstämmige Menschen. Die
Onays hatten damals ein Lokal und wohn-
ten darüber, „wie auf einem Präsentiertel-
ler“. Sie hatten Angst, sie überlegten, in die
Türkei zu ziehen. Nun könnte Onay für die
nächsten sieben Jahre Oberbürgermeister
von Hannover werden. In Netzwerken liest
er auch giftige Beiträge, aber die Zustim-
mung überwiege, meint er. Und vielen sei
dieses Migrationsthema völlig egal: „Mich
interessiert nicht, wo der herkommt, son-
dern wo der hinwill.“
Belit Onay ist für besseres Klima, für ei-
ne autofreie Innenstadt, für bezahlbaren
Wohnraum, für soziales Miteinander. Er
will dann am Abend erst mal zu Verdi,
nächstes Duell der zwei Rivalen, wieder oh-
ne SPD. Unterwegs kauft er sich am Kiosk
ein Stück vegetarische Pizza. Im Gewerk-
schaftshaus geht es um Mieten, Kitas, Ju-
gend, Pflege, Frauenhäuser, Obdachlose.
Belit Onay spricht von der diskriminie-
rungsfreien Stadt, die er sich wünscht, von
der Single-Hauptstadt, die es ist, von der
Achse Warschau– Amsterdam, auf der
Hannover liege. Er findet, beim Wohnen ha-
be der Markt versagt. „Nicht an der schwar-
zen Null festhalten“, will er, „jetzt ist die
Zeit zu investieren.“ Auffällig häufig nickt
sein freundlicher Rivale Scholz, wenn Belit
Onay antwortet. peter burghardt

Berlin – Jens Stoltenberg ist in Feierlaune.
Eigentlich. Der Nato-Generalsekretär ist
hauptsächlich nach Berlin gekommen, um
den 30. Jahrestag des Mauerfalls zu würdi-
gen. Das tut er dann erst einmal, als er am
Donnerstag in Berlin eine Rede hält.
„Wenn man heute in dieser vibrierenden
Stadt steht, fällt es schwer, sich vorzustel-
len, wie anders die Welt noch vor einer Ge-
neration aussah“, beginnt er seine Anspra-
che bei der Körber-Stiftung. Ziemlich
schnell aber wird klar, dass der Norweger
einiges auf dem Herzen hat – und dass er
deutlich zu werden gedenkt. Am Morgen
war ein Interview mit Emmanuel Macron
erschienen, in dem der französische Präsi-
dent der Militärallianz einen Totenschein
ausstellt. „Was wir derzeit erleben, ist der
Hirntod der Nato“, sagte Macron der briti-
schen WochenzeitschriftThe Economist.
Auf die Frage, ob er noch immer an den

Bündnisfall-Artikel des Nato-Vertrages
glaube, wonach ein Angriff auf ein Mit-
gliedsland als Angriff auf alle Verbündeten
angesehen wird, antwortete Macron: „Ich
weiß nicht.“
Stoltenberg reagiert darauf auf seine
Weise. Den Namen Macron erwähnt er
nicht, doch wesentliche Passagen seiner
Rede können als Antwort auf Macron ver-
standen werden. Die Nato und die EU seien
„zwei Seiten derselben Medaille“. Die euro-
päische Einheit könne die transatlantische
Einheit nicht ersetzen. Bemühungen der
Europäer, ihre militärischen Fähigkeiten
zu stärken, begrüße er, versichert der Gene-
ralsekretär. „Aber die Europäische Union
kann Europa nicht verteidigen“, warnt er.
Nach dem Brexit würden 80 Prozent der
Verteidigungsausgaben der Nato-Staaten
von Nicht-EU-Ländern aufgebracht, rech-
net Stoltenberg vor. Im Ernstfall, sagt er

durch die Blume, wären die Europäer ohne
die amerikanische Militärmacht aufge-
schmissen. Wirklich bestritten wird das
nirgendwo in Europa, auch in Paris nicht.
Umstritten ist nur, was daraus folgt.
Frankreich, ohnehin traditionell ein
skeptischer Nato-Verbündeter, setzt sich
dafür ein, sich unabhängiger von den USA
und den Launen von US-Präsident Donald
Trump zu machen, der das Bündnis vor sei-

nem Amtsantritt als „obsolet“ abgetan hat-
te. Die Bundesregierung wirbt eher dafür,
die USA durch stärkeres europäisches En-
gagement bei der Stange zu halten. Auch
die künftige EU-Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen argumentiert so.
Zwar will sie eine europäische Verteidi-
gungsunion vorantreiben, diese aber nicht
als Nato-Konkurrenz verstanden wissen.
Versicherungen sind das, die in Wa-
shington und im Nato-Hauptquartier in
Brüssel mit einem Misstrauen zur Kennt-
nis genommen werden, das nach den Äuße-
rungen Macrons nun noch verstärkt wer-
den dürfte. Allerdings weiß auch Stolten-
berg, dass er die Probleme im Bündnis und
den Frust der Europäer nicht ignorieren
kann. Er wisse um die „Meinungsunter-
schiede und Spaltungen unter Nato-Ver-
bündeten“, sagt er. Das zeige sich bei Han-
delsfragen oder Themen wie Klimawandel

und Iran „und ganz aktuell bei der Situati-
on in Nordostsyrien“. Mit dem Einmarsch
im Nachbarland nach dem von Trump be-
fohlenen Rückzug der US-Truppen hatte
die Türkei die Verbündeten empört – aber
auch deren Hilflosigkeit offenbart.
Meinungsunterschiede habe es doch
auch schon in der Vergangenheit gegeben,
beschwichtigt Stoltenberg. „Aber am Ende
des Tages, waren wir immer in der Lage,
uns um unsere Kernaufgabe zu versam-
meln: uns gegenseitig zu verteidigen“,
wirbt er. Ob er denn sicher sei, dass die
Nato, die im Dezember in London ihr 70. Ju-
biläum begeht, auch noch ihren 80. Ge-
burtstag werde feiern können, wird Stol-
tenberg am Ende gefragt. „Ja“, antwortet
er zunächst schnell, dann wird er nach-
denklicher. Eine Garantie, räumt er ein, ge-
be es nicht. „Es liegt“, sagt er, „an uns“.
daniel brössler

Sicherheitspolitik in Zeiten der Krise:Wie sollen sich Deutschland und Europa künftig militärisch aufstellen?


von max muth
und mike szymanski

Neubiberg–An gewöhnlichen Tagen sit-
zen im Audimax der Bundeswehr-Universi-
tät in Neubiberg bei München Studenten
in Zivil. Doch heute ist kein gewöhnlicher
Tag. Alle Angehörigen der Bundeswehr
sind in Uniform erschienen, auch die Gene-
ral-Dichte ist bemerkenswert hoch. Der
Grund: Annegret Kramp-Karrenbauer.
Die Bundesverteidigungsministerin und
CDU-Vorsitzende, die zuletzt in beiden
Funktionen mehrfach in der Kritik stand,
ist nach Neubiberg gekommen, um eine si-
cherheitspolitische Grundsatzrede zu hal-
ten.

Kramp-Karrenbauer wollte den großen
Auftritt. Tags zuvor hatte sie bereits im In-
terview mit derSüddeutschen Zeitungskiz-
ziert, wie sie als Verteidigungsministerin
die Rolle Deutschlands in der Welt zukünf-
tig sieht, nämlich zupackender. In ihrer Re-
de streift Kramp-Karrenbauer die vielen
Konfliktherde der Welt. Deutsche Solda-
ten sieht sie schon im Indopazifik, wo sich
der Ministerin zufolge Partner wie Australi-
en und Japan zunehmend vor dem Macht-
anspruch der Chinesen fürchten. Sie sagt,
Deutschland müsse bereit sein, mehr Ver-
antwortung zu übernehmen.
Für Auslandseinsätze gelte, militärisch
alle Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen,
die die Truppe hat. Sie bezieht sich dann
auf die Jahre, als sich Deutschland in Af-
ghanistan im Kampfeinsatz befand, um
das Land zu stabilisieren. Heute bilden
deutsche Soldaten dort die afghanischen
Streitkräfte aus und führen den Kampf ge-
gen die Taliban aus der zweiten Reihe. Ge-
fährlich ist die Mission dennoch. Kramp-
Karrenbauer sagt, sie höre bei ihren Termi-
nen als Verteidigungsministerin die Frage:
„Könnt ihr Deutschen bitte noch mehr
tun?“ Sie jedenfalls ist bereit dazu.
Jetzt zeigt sich, dass ihr Vorstoß für eine
international kontrollierte Sicherheitszo-
ne in Nordsyrien kürzlich kein Ausrut-
scher war. Sie hatte sich dafür eingesetzt
und ihr war klar, in einem solchen Fall
müsste die Bundeswehr dann wohl auch
Bodentruppen schicken. Auslandseinsätze
muss der Bundestag billigen. Da wünscht
sie sich schnellere Verfahren. Diskussio-
nen und Ideen gab es in der Vergangenheit
schon. Nur geändert hatte sich nichts. Sie,

Kramp-Karrenbauer, will das nun ändern.
Und auch einen anderen, alten Vorschlag
greift sie jetzt wieder auf. Sie möchte den
Bundessicherheitsrat zu einem Nationalen
Sicherheitsrat weiterentwickeln.
In dem Gremium, in dem Vertreter von
Diplomatie, Militär, Wirtschaft und Han-
del, Innerer Sicherheit und Entwicklungs-
zusammenarbeit vertreten sein sollen,
könnten die Sicherheitsinteressen des Lan-
des verlässlich koordiniert werden. Ein sol-
cher Sicherheitsrat könne auch dazu füh-
ren, dass die notwendigen Diskussionen
über deutsche Militärpolitik schneller in
Entscheidungen münden.

Der Koalitionspartner SPD verfolgt auf-
merksam, wie Kramp-Karrenbauer sich
positioniert. Für den Sicherheitszonen-
Vorschlag hatte sie seitens der SPD schon
heftig Kritik einstecken müssen. Vor al-
lem, weil sie diesen Vorstoß nicht abge-
stimmt hatte. Außenminister Heiko Maas
stellte sie auf internationaler Bühne dafür
bloß und warf ihr gerade wieder vor, die
deutsche Außenpolitik beschädigt zu ha-
ben. Auch am Donnerstag dauert es nicht
lange, bis die SPD auf Distanz geht. Der au-
ßenpolitische Sprecher der Fraktion, Nils
Schmid, stellt zu den Plänen für einen Nati-
onalen Sicherheitsrat klar: „Wie brauchen

kein zusätzliches Gremium.“ Die SPD im
Bundestag wird seit September von Rolf
Mützenich geführt, einem Außenpolitiker,
der sich auf Abrüstung und Rüstungskon-
trolle spezialisiert und immer für mehr Ein-
fluss des Parlaments gekämpft hat.
Mützenich ist gerade bemüht, die Regie-
rungskoalition im Grundrenten-Streit zu-
sammenzuhalten und deshalb kaum zu
sprechen. Was den Nationalen Sicherheits-
rat angeht, hat er sich früher schon geäu-
ßert, als die Union schon einmal dafür
warb. 2008 war das. Schon damals sah er
darin aber „kein adäquates Instrument“
für Deutschland. So viel dazu.

München–US-Chefdiplomat Mike Pom-
peo und Außenminister Heiko Maas (SPD)
haben knapp 30 Jahre nach dem Fall der
Mauer die Bedeutung der Nato für die ge-
meinsame Sicherheit bekräftigt. „Die USA
bleiben Europas wichtigster Verbündeter
und Deutschlands wichtiger Verbündeter
außerhalb Europas“, sagte Maas bei einer
gemeinsamen Pressekonferenz mit dem
US-Außenminister am Donnerstag in Leip-
zig. Pompeo forderte zum Kampf für ge-
meinsame Werte auf. Die Nato bezeichnete
er als eine der wichtigsten strategischen
Partnerschaften in der Geschichte.
Die deutsch-amerikanischen Beziehun-
gen haben sich seit dem Amtsantritt von
US-Präsident Donald Trump Anfang 2017
verschlechtert. Die US-Regierung warf
dem Nato-Partner Deutschland mangeln-
de Militärausgaben vor, kritisierte das
deutsch-russische Pipeline-Projekt Nord
Stream 2 scharf und drohte der EU mit
Strafzöllen, was vor allem die deutsche Au-
toindustrie treffen könnte. Gleichzeitig
setzte Trump auf politische Alleingänge oh-
ne Abstimmung mit den Partnern.
Pompeo würdigte nun Deutschlands
Rolle bei der internationalen Krisenbewäl-
tigung. „Deutschland ist ein großartiger
Partner bei vielen internationalen Proble-
men“, sagte er. „Wir haben dieselben Prinzi-
pien, dieselben Sorgen. Gelegentlich ha-
ben wir einen anderen Ansatz. Das passiert
unter guten Freunden und Verbündeten.“
Gespräche Pompeos mit Kanzlerin Angela
Merkel (CDU), mit Verteidigungsministe-
rin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU)
und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) sind
diesen Freitag in Berlin geplant. In Leipzig
erinnerten Maas und Pompeo an die lange
Zusammenarbeit im Bündnis. „Ohne die
Führungskraft Amerikas hätte es keine
Wiedervereinigung gegeben“, sagte Maas.
Pompeo hatte am Donnerstag zunächst
US-Soldaten in Bayern besucht. Am Abend
war er in der Leipziger Nikolaikirche. Ge-
meinsam mit Maas informierte er sich
über die friedliche Revolution in der DDR
vor 30 Jahren. Für Pompeo ist es auch ein
persönlicher Besuch: Nach dem Abschluss
als Klassenbester an der West Point Mili-
tary Academy war er in den 1980er-Jahren
als Panzerkommandeur an der innerdeut-
schen Grenze stationiert. areu, dpa

Jens Stoltenberg, 60,
ist seit Oktober 2014
Generalsekretär der
Nato. Zuvor war der
Politiker der sozialde-
mokratischen Arbei-
terpartei zweimal
Ministerpräsident
Norwegens.
FOTO: REUTERS

Berlin –Die AfD will sich mit Hilfe eines
Gutachtens gegen die Beobachtung von
Teilen der Partei durch den Verfassungs-
schutz zur Wehr setzen. Der Verfassungs-
rechtler Dietrich Murswiek kommt in dem
am Donnerstag vorgestellten Gutachten
zu dem Schluss, dass die Einschätzung des
Verfassungsschutzes zur AfD „nicht neu-
tral und objektiv“ sei. Vielmehr sei es der
Behörde darum gegangen, „die AfD poli-
tisch zu diskreditieren“, wirft Murswiek
dem Amt vor. Das Bundesamt für Verfas-
sungsschutz hatte die AfD zu Jahresbeginn
zu einem Prüffall erklärt. Es führte als Be-
leg zahlreiche Äußerungen von AfD-Politi-
kern an.
Der Verfassungsrechtler Murswiek wi-
derspricht dieser Einschätzung nun in sei-
nem Gutachten und wirft der Behörde Feh-
ler vor. „Ich halte über 80 Prozent der Be-
wertungen des Bundesamtes für Verfas-
sungsschutz für falsch“, sagte Murswiek
mit Blick auf mehr als 400 Zitate von AfD-
Politikern, die das Amt als Beleg angeführt
hatte. Nur bei einem ganz kleinen Teil der
Zitate seien die Vorwürfe des Verfassungs-
schutzes berechtigt. Während viele falsch
eingeschätzt worden seien, gebe es zudem
eine erhebliche Anzahl von Zitaten aus der
AfD, die er als mehrdeutig bewertet. In die-
sen Fällen habe er der AfD „eine Klarstel-
lung empfohlen“, sagte er.
Murswiek wollte bei der Vorstellung sei-
nes Gutachtens keine konkreten Fälle nen-
nen. Er äußerte sich auf Wunsch der Partei
auch nicht zu seiner Bewertung von Aussa-
gen prominenter AfD-Politiker, etwa des
Thüringer Landesvorsitzenden Björn Hö-
cke. Im Gutachten des Verfassungsschut-
zes waren zahlreiche Aussagen Höckes als
problematisch angeführt worden. jsc

Berlin– Bundeswirtschaftsminister
Peter Altmaier sieht „dringenden Hand-
lungsbedarf“ für eine umfassende Poli-
tik- und Staatsreform in Deutschland.
Der CDU-Politiker (FOTO: DPA) sagte am
Donnerstag in Berlin, die Erosion des
traditionellen politischen Spektrums
sei weit fortgeschritten, wie die Land-
tagswahl in Thüringen gezeigt habe.
CDU, SPD, FDP und Grüne zusammen
könnten dort keine Regierung mehr


bilden. Dies sei eine „Zäsur“. Die „Ab-
kehr“ der Bürger müsse ernst genom-
men werden: Die Politik müsse imstan-
de sein, „unser politisches System auch
dort zu reformieren, wo es uns viel-
leicht weh tut, weil eigene Besitzstände
betroffen sind“. Altmaier will zum Bei-
spiel eine Verkleinerung des Bundes-
tags, der zu groß sei. Die Bürger sollten
mehr beteiligt werden an politischen
Prozessen. Parlamentarische Verfahren
sollten beschleunigt werden, um schnel-
ler zu Ergebnissen zu kommen. dpa


Berlin– Im Umgang mit Anhängern
der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS)
hat die Bundesregierung eine Niederla-
ge hinnehmen müssen. Das Oberverwal-
tungsgericht Berlin-Brandenburg ver-
pflichtete das Auswärtige Amt, eine
deutsche Ex-Anhängerin des IS und
deren Kinder aus Nordostsyrien zurück-
zuholen. So steht es in einem Beschluss
des Gerichts, derSüddeutscher Zeitung,
NDR und WDR vorliegt. Erstmals hat
damit ein Oberverwaltungsgericht be-
schlossen, die Deutsche und ihre Kin-
der müssten „unverzüglich“ aus einem
Gefangenenlager in Nordsyrien nach
Deutschland zurückgeholt werden. Die
Bundesregierung hatte sich schon vor
Monaten zur Aufnahme der Kinder von
IS-Angehörigen aus Syrien bereit er-
klärt, nicht aber ihrer Mütter. Dem
widersprechen die Richter am Oberver-
waltungsgericht nun ausdrücklich, da
sie das „besondere Schutzbedürfnis der
Familie“ verletzt sehen. bvh, kab


Wo der hinwill


Der Grüne Belit Onay hat die Chance, erster Oberbürgermeister mit Migrationshintergrund in einer Landeshauptstadt zu werden


Sie wäre bereit


Annegret Kramp-Karrenbauer erklärt in einer Grundsatzrede, wie sie Deutschlands
Rolle in der Welt in Zukunft sieht: zupackender. Die SPD geht sogleich auf Distanz

Den Bundessicherheitsrat will
Kramp-Karrenbauer zu einem
Nationalen Sicherheitsrat machen

Berlin– Der Rechtsausschuss des Deut-
schen Bundestags will seinen umstritte-
nen Vorsitzenden Stephan Brandner
(AfD) in der kommenden Woche abwäh-
len. Dies hätten die Obleute aller Frakti-
onen außer der AfD am Donnerstag
beschlossen, teilte der rechtspolitische
Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion,
Johannes Fechner, mit. Brandner hatte
zuletzt mit einer „Judaslohn“-Äuße-
rung für Empörung gesorgt. Zuvor hat-
te er nach dem rechtsextremistischen
Anschlag auf eine Synagoge in Halle
Opfer und Politiker verhöhnt. Alle Bun-
destagsfraktionen außer der AfD haben
sich von ihm distanziert. Der Obmann
der Unionsfraktion im Rechtsaus-
schuss, Jan-Marco Luczak (CDU), kün-
digte an, der Rechtsausschuss werde
die Möglichkeit der Abwahl nutzen,
„um dem Amt des Vorsitzenden des
Rechtsausschusses seine Würde zurück-
zugeben.“ dpa/epd


„Die Europäische Union kann Europa nicht verteidigen“


Nato-Generalsekretär Stoltenberg erinnert daran, dass die Europäer nicht ohne die US-Militärmacht auskommen können. Umstritten ist, was daraus folgt


Gutachten soll


AfD entlasten


Erfurt– Knapp zwei Wochen nach der
Landtagswahl in Thüringen ist es offizi-
ell: Die FDP zieht mit 5,0 Prozent der
Stimmen ins Thüringer Parlament ein.
Das gab der Landeswahlleiter Günter
Krombholz bei der Präsentation des
amtlichen Endergebnisses am Donners-
tag bekannt. Demnach übersprangen
die Liberalen die Fünf-Prozent-Hürde
um 73 Stimmen. Damit endet das Ban-
gen der FDP, die nach dem vorläufigen
Ergebnis am Wahlabend lediglich 5
Stimmen über der Fünf-Prozent-Hürde
gelegen hatte. Nun wurde dieses Ergeb-
nis korrigiert – die bisherigen vorläufi-
gen Ergebnisse der Parteien wurden
weitgehend bestätigt. dpa


London– Der Vize-Chef der britischen
Labour-Party, Tom Watson, tritt bei der
Parlamentswahl am 12. Dezember nicht
an. Das teilte Watson am Mittwoch-
abend im Kurznachrichtendienst Twit-
ter mit. Auch sein Parteiamt werde er
niederlegen. Im Wahlkampf will er
Labour aber noch unterstützen. Watson
galt als gemäßigter Gegenpol zum lin-
ken Parteichef Jeremy Corbyn. Immer
wieder brachen offene Meinungsver-
schiedenheiten zwischen beiden aus.
Im September forderte der Brexit-Geg-
ner Watson ein zweites Referendum
über den EU-Austritt. Seine Partei solle
sich dabei hinter die Forderung stellen,
den Brexit abzusagen; erst danach solle
es Neuwahl geben. Corbyn erklärte
aber, er strebe erst Wahlen und dann
ein Referendum an. Beim folgenden
Labour-Parteitag wurde Watson fast
gestürzt. Watson betonte aber, seine
Entscheidung sei „persönlich, nicht
politisch“. Er reiht sich in eine Riege
proeuropäischer Politiker ein, die nicht
mehr fürs Parlament kandidieren.dpa


8 HF2 (^) POLITIK Freitag, 8. November 2019, Nr. 258 DEFGH
Belit Onay und seine Frau Derya nach dem ersten Wahlgang in Hannover. Am Sonn-
tagmuss er gegen Eckhard Scholz (CDU) in die Stichwahl. FOTO: SINA SCHULDT / DPA
Die Stichwahl in Hannover
machen der 38-Jährige und der
Kandidat der CDU unter sich aus
Großer Auftritt: Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer spricht in der Bundeswehr-Universität. FOTO: SVEN HOPPE/DPA
Wie in
alten Zeiten
Pompeo und Maas legen
Bekenntnis zur Nato ab
Brandner vor Abwahl
73 Stimmen über der Hürde
Labour-Vize geht
Altmaier fordert Staatsreform
IS-Anhängerin darf zurück
KURZ GEMELDET

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