Frankfurter Allgemeine Zeitung - 08.11.2019

(vip2019) #1

SEITE 18·FREITAG,8.NOVEMBER 2019·NR.260 Mensch enund Wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


M


artina Czechhat
gerade ihrenwei-
ßen Kittel ange-
zogen und sitzt
auf einem Ho-
cker.ZweiMitar-
beiter sortiertenaneinem langen
Tischimhinteren RaumderApotheke
Medikamente, ordnen sie einzelnen
Rezeptenvon Patienten zu. DasTele-
fonklingelt .Vorne imVerkaufsraum
bedienen zwei Angestelltedie er sten
Kunden an diesem Morgen. Dann
stehtCzechauf,ziehtauseinemRegal
einen Ordner mit Dokumenten, setzt
sichwiederhin.Sieblättertdurchaus-
gedruckt eMails, Bildschirmkopien,
Briefe. „Ichhabe allesgesammelt.Ich
kann alles belegen.Aber die Mauer
des Schweigensverhinderteine Auf-
klärung.Dasistdochgruselig.“
DieWortekommenderInhaberinei-
nerApothekeimMünchnerSüdwesten
schnellundscharfüberdieLippen.Ein
Hilferuf an Bundesgesundheitsminis-
terJensSpahn(CDU)bliebnachihren
AngabenohneReaktion.EinMinisteri-
umssprecherbestätigt,Czechhabesich
gemeldet. Es geht um denVerdacht,
dasseine weitverbreitete Apotheken-
Softwar eeinesgroßenAnbietersunge-
fragt Kundendaten speichertund ab-
greift. Es könnteHunderttausende
oder Millionen Patienten betreffen.
Czechwill wissen,wasdahinter steckt.
Dochsiestößtauf Widerstände.
Die Pharmazeutin wirktstarkund
beharrlich. Ein typischnorddeutscher
Dickschädelseisie.Czechstammtaus
Osnabrück, hat früh auf eigenen Bei-
nen gestanden, erst nachder Ausbil-
dung zur Pharmazeutisch-technischen
Assis tentin studiert. Sie arbeiteteals
Apothekerin in Berlin, der Schweiz
und Italien. Anfang 2016 übernahm
sie das Geschäftihrer Vorgängerin in
Neufor stenried amRand der bayeri-
schen Landeshauptstadt.Eine Be ton-
siedlungausdenSechzi gern,alsgünsti-
gerWohnraum für jungeFamilien
schnellentstehenmusste–keinSchwa-
bing, Bogenhausen oder Harlaching.
IhreApothek eliegt im Parterre eines
siebengeschossigenWohnblocks.
Geradezu hineingebissen hat sich
Czechinden Fall–undsic hdafür mit
vielen angelegt:ihrer Standesvertre-
tung, mit Apotheker-Kollegen, Daten-
schutzbehörden, großen Unterneh-
men und derPolitik.Anfeindungen
habesieerfahren, Freundschaftensei-
enüber dieganze Las tzerbrochen. Es
istein einsamerKampf–mit wenig
Unterstützung.
Der jungeangehende Apotheker,
der einmalihr Geschäftübernehmen
wird,hatsichmitindie Tiefenderfrag-
würdigenSoftwarebegeben.EininIT-
Sicherheit führenderUniversitätspro-
fessorhatfürsienacheinerPrüfungin
derApothekeeineAnalyseangefertigt
underheblicheMängelimSoftwaresys-
temdes Anbieters identifiziert. Er be-
zeichne tdie Softwareals „Baustelle“.

Die F.A.Z. be richtete erstmals imFe-
bruar überdenFall, der weiter anBri-
sanz gewinnt.Kriminalpolizei und
Staatsan waltschaftsindna cheinerAn-
zeigeder Pharmazeutin involviert.
Czechhofft,dassmehr Be wegung in
dieAufklärungkommt.
Die Apothekerinfand im vergange-
nen Jahr inVorbereitung auf die neue
Datenschutz-Grundverordnung zufäl-
ligheraus,dassinihrem Kassensystem
8650 Kundendaten ihrerVorgängerin
vorhanden waren. Die Angaben zu
Name,Anschrift,Geburtsdatum,Kran-
kenkasse, Bankverbindung, Medika-
tion und Arztbefunden seien alsge-
löscht gekennzeichnetgewesen und
hätten garnicht mehr abrufbar sein
dürfen. Informatik-Professor Dominik
Herrmann,deranderUniversitätBam-
bergzuInformationssicherheit lehrt,
kamlautseinemPrüfberichtaufweite-
re 32 632 ungelöschte Einträge. Diese
„personenbeziehbaren Daten“stamm-
tenvon den dreiRezeptscannerkassen
im Laden. Die Einträgewurden da-
nachauchvonKundengespeichert,die
nichtalsStamm kundeninsSystemein-
gehen wollten. DieKassen er fassen
Vornamen, Geburtsdatum, Postleit-
zahl, Medikament, Arzt und Kranken-
kasse. Laut Analyseder UniBamberg
sind gescannteRezepte mit Patienten-
datenaneinenAbrechnungsdienstleis-
terdigital übermitteltworden, ob wohl
dieFunktionhierfürdeaktiviertwar.
Czecherhebt schwereVorwür fe ge-
genihrenSoftware-AnbieterADGaus
Mannheim.Über dessenKassensyste-
meseienunerlaubtsensibleKundenda-
tengesammeltword en. ADGgehört
zur Phoenix-Gruppe, einem der füh-
renden Pharmagroßhändler in Euro-
pa. „Die Softwaremeines Dienstleis-
tersisteinDatengrab.Undesgibtkei-
nerlei Interesse des Unternehmens,
sichaneinerAufklärungzubeteiligen.
Währenddessen hafte ichals Apothe-
kerinpersönlic hmit meinemVermö-
genfür eine EDV, die ic hselbstaber
technischnicht überprüfen kann“,
sagt sie. Die Inhaber deretwa 19500
Apotheken in Deutschland müssen
nachdemGesetzselbstgegenüberGe-
schädigten für Datenschutzverletzun-
gengerades tehen.
Diederzeitvonder Politikvorange-
triebene Digitalisierung im Gesund-
heitswesenerzeugtbeiderPharmazeu-
tin generell ein schlechtes Gefühl.
Czechwill sic hkeiner neuenTechnik
verweigern. Ihre Apothekeist zeitge-
mäß ausgestattet. EinKommissionier-
automatoptimiertdasWarenlager ,die
Liefer fähigkeitundAusgabegeschwin-
digkeit der Medikamenteanden Kun-
den.DochvielesinderDigitalisierung
laufeaus demRuder,meint sie. Ge-
sundheitsministerSpahn bezeichnet
sie als Blender,der sic hdamit als Ma-
cherdar stellenwolle.
Die allgegenwärtigeDigitalisierung
istinder Medizin besondersheikel.
WennInformationenüberKrankheiten

eines Menschenunbea bsichtigt be-
kanntwerden,kann das auchmateriell
gravierendeFolgen haben: im Beruf,
fürVersicherungs-oderKreditverträge.
WerseineGesundheitsdatensicherhal-
tenmöchte, notiertsie auf Papier und
besprichtsiemitdemArzt–mündlich.
DochdemTrendinsDigitalekannsi ch
keinPatientmehrentziehen.

I


mSommer wurde bekannt,
dassoffenbar DatenvonMil-
lionen Patienten im Internet
umstandslos aufrufbarwaren
–darunter BildervonBrust-
und Wirbelsäulenuntersu-
chungen. Auch13 000deutscheDaten-
sätze sollen davonbetroffengewesen
sein. Grundwarnicht ein Hackeran-
griff, die Daten wurden unzureichend
geschützt.JedesMal,wenneineDaten-
panneodereinHackerangriffbekannt-
wird, kommt dieselbe Artvon Reak-
tionausderPolitikodervonBehörden.
Datenschutz müsse höchste Priorität
haben,heißtesdann.Aberis tdasso?
Sorgenbestimmen denn auchdie
DiskussionüberdiedigitalePatienten-
akte. Wenn Krankheitsdaten auf ei-
nem Datenträger gesammeltgespei-
chertsind,hilf tdaseinerseitsderThe-
rapie: Der Arzt hat schneller ein Ge-
samtbildüberdiemedizinischeVorge-
schicht eseines Patienten; auchkann
einesy stematis cheListedereingenom-
menenMedikamentemögliche Wech-
selwi rkungenaufdecken.Andererseits
hateinePanneodereinHackerangriff
dann besondersschlimme Folgen für

dieBetroffenen.Undistgewährleis tet,
dassniemandunerlaubtdiePatienten-
daten kommerziellverwendet?
Ähnliches gilt für dieTelematik-In-
frastruktur,über welche Arztpraxen
und Gesundheitseinrichtungen digital
miteinanderverbundenwerden–rele-
vant für dieVersorgung derPatienten
ebenso wie für dasvorgesehene elek-
tronischeRezeptund die Abrechnung
der Honorare. Einzelne Ärzteverbän-
de und andereKritiker betrachten die
medizinischeDatenautobahnnichtals
sicher und sprechenvonstaatlich er-
zwungenerVernetzung. An das Sys-
temsind auc hApotheken angeschlos-
sen. „Es gibt defactokeinen funktio-
nierenden Datenschutz.InWirklich-
keit wir duns Apothekernnur Sicher-
heitvorgegaukelt“,sagtCzech.
GanzaktuellstehenPatientendaten
inderDiskussion.SpahnhatdasDigi-
tale-Versorgung-Gesetz initiiert. Der
Bundestagsollt edarüberamDonners-
tagentscheiden. Es siehtvor, dassder
SpitzenverbanddergesetzlichenKran-
kenkassen mehr Patientendaten als
bisher sammelt und zusammenführt,
um Forschung ef fektiver zu machen.
Die Mengeder Informationen ist
enorm, gespeistausLeistungsmerkma-
len von73Millionen Krankenversi-
cherten. Namen werden dur ch Kenn-
ziffernersetzt .Esgehtum verschriebe-
neArzneimittelundDatenvonnieder-
gelassenen Ärzten und Kliniken. Die
Profile sollen pseudonymisiert und
Krankenkassen,Unikliniken undFor-
schungseinrichtungen auf Antrag zur
Verfügunggestelltwerden.Dassoller-

möglichen, Musterzue rkennen, aus
Krankheiten undVerläufen aufUrsa-
chenund Wirkungenzuschließen.
Fachleute kritisieren, dassdie pseu-
donymisiertenDaten ohne Erlaubnis
der Patienten ausgewertetwerden.
Das Ministerium sichertzwarzu, die
Datensätze erlaubten keine Rück-
schlüsse auf einzelnePatienten.Aber
das überzeugt Kritiker nicht.DieGrü-
nen nennen den Entwurf„hochbe-
denklich“. Das Gesundheitsministeri-
umweistdasalsunbegründetzurück.
CzechhatBedenken.Siesiehtvieles
in der Digitalisierung als unausgego-
ren.Zwar gebeesinihremFallUntersu-
chungen der Datenschutzbehörden in
Bayern und auchinBaden-Württem-
berg, weilADGdortsitzt .Dochverlas-
sesic hjederdarauf,dassderander etä-
tig werde. Am Ende machekeineret-
was. „Das Bayerische Landesamt für
Datens chutzaufsicht interessiertsich
nichtdafür,obwohlichdieEDVandert-
halb Jahreselbstuntersucht habe und
zudem die Analyse der Universität
Bambergvorliegt.“DasganzeMaterial
werdeeinfach nichtverarbeitet. Der
Präsidentder Behördehabe ihr in ei-
nem Telefongesprächgeraten, doch
denSoftwareanbietereinfachzuwech-
seln. Ähnliches habe ihr ein Daten-
schützerinBadenWürttemberggesagt.
AufAnfrag estellen beide Daten-
schutzbehördenfest,sie nähmen den
Fallsehrernst.Dasba yerischeLandes-
amt sprichtvoneiner Ermittlung und
führtzwei„Vor-Ort-Besuche“ in der
Apothekeimvergangenen Jahr an.
Weil nicht alleFragen hättengeklärt
werdenkönnen,habediefürdenSoft-
warehersteller zuständigeDaten-
schutzaufsichtsbehörde in Baden-
Württembergdie weiter eAufarbei-
tungübernommen.SobaldderBefund
derKollegen vorliege, kommeeszuei-
nerabschließendenBewertung.
InBaden-WürttembergsagtderLan-
desbeau ftragtefürDat enschutzundIn-
formationsfreiheit, StefanBrink, er
verstehe die Ungeduld der Apotheke-
rin.Aberdie technischenAnalysensei-
en nicht einfachauszuwerten. Er
spricht voneinem äußerst interes-
santen Fall. Es gehe um hochsensible
Daten .„WennSoftware-Dienstleister,
aufwelcheBerufsgruppenwieAnwäl-
te,Ärzte oder Apotheker zurückgrei-
fen, unsauber arbeiteten, hätten wir
einrichtigesProblem.“
Wirtschaftsinformatiker Herrmann
aus Bambergfindet, dassetwas schief-
laufe. Obwohl die Behörden in der
PflichtzurAufklärungseien,laufedie-
se nur schleppend.„Auf der anderen
Seitemüssen die Software-Anbieter
für schlechteSoftwar ekeine Haftung
übernehmen. Die Hersteller kommen
davon. Inkompetenz wirdnicht be-
straft. Dafürmussder Nutzer einer
sehr komplexenSoftwar eden Daten-
schutz garantieren.“
Die Apothekerkammer in Bayern
und der bundesweite Apothekerver-

band Abda interessiertensichtrotz-
dem bis heutenicht dafür,sagt Czech.
Dortwerde geblockt, obwohl das The-
madieeigeneBerufsgruppedoc hsensi-
bilisieren müsste. Aber auc hdie Inha-
ber größerer Apotheken mitFilialen,
welche die Pharmazeutinkontaktiert
hatte, sollen abgewinkt haben. Einige
vonihnen werben für ADG.Kammer
undVerbandverweisenaufdieZustän-
digkeitderBehörden.

D


ie ständigeÜberprü-
fung der Apotheken-
Softwar ehat weitere
Fragen aufgeworfen.
Ohne Vorankündi-
gung habe ADGvon
außenVeränderungenanderSoftware
mitderaufgebautenKundendateivor-
genommen:Fernwartungen mit Up-
datesseiennichtprotokollier tworden.
Czechentdeckt eimProgrammnachei-
generAussageSoftware-Schnittstellen
zuDatenvermarktern,vondenenman
nicht wisse, wie sie zu aktivieren oder
deaktivierenseien. In einerkurzen
ÜbergangsphasenachderÜbernahme
der Apothekesollen so ohne ihre
KenntnisDatenabgeflossensein.
Aufeine deta illierte Anfrage zu
den VorwürfengehtADG nur allge-
meinein. Die Datenschutzbehörde in
Bayern habe sicheinen Überblick
überdieArbeitsweisederSoftwarege-
macht ,antworte tein Sprecher des
Mutterkonzerns Phoenix. Man habe
allerdingskeineKenntnisvonErmitt-
lungender Behörden–wederinBay-
ernnochinBaden-Württemberg. Das
gelteebenfalls fürdie Fragenachder
Staatsanwaltschaft. ImFebruar hatte
der Konzernalle Vorwürfe zurückge-
wiesen.
ThiloWeicher twar me hr als zehn
Jahre Datenschutzbeauftragter des
Landes Schleswig-Holstein–und ist
über dieseFunktion hinaus bekannt
als öf fentlicher Mahner,wenn es um
die Privatsphäreder Bür gergeht.Der
Rechtsanwalt gehörtdem Netzwerk
Datenschutzexpertise an .Esverfesti-
gesichderEindruck,Software-Anbie-
terund kommerzielle Nutzervon
Krankendatenwolltennichtsannebu-
lösen Verträgenund int ransparen ten
Systemen ändern. Sieprofitierte nda-
vonund zusätzlichvon mangelnder
Kontrolle durch die Aufsichtsbehör-
den.„Das ganze Vorgehender ADG
istundurchsichtig.DieApothekenbe-
kommeneine Softwaregeliefert, die
sienichtverstehenkönnen.Espassie-
renDingeimHintergrund dieser Sys-
teme, die offenbar niemand durch-
schauensoll“,sagtWeicher t.
Fast wollteCzechimA ugustaufge-
ben.Ihr Privatlebenund die Gesund-
heit litten inzwischenzusehr dar-
unter ,sagtsie.Eigentlichhabesiemit
dem Tagesgeschäftinder Apotheke
genugzutun.„Dochichweiß,das sich
weiter kämpfenmuss.“

Einsamer


Kampf


DubioseTiefen der digtalenWelt:DieApothekerinMartinaCzechbeklagtDatenmissbrauchimSoftwaresystem. FotoJan Roeder

EineApothekerin ausMünchen


isteinemDatenmissbrauch


imGesundheitswesenauf derSpur,


aberstößtauf eineMauer


desSchweigens.


VonMichaelAshelm


undKlausMaxSmolka

Free download pdf