Frankfurter Allgemeine Zeitung - 08.11.2019

(vip2019) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik FREITAG,8.NOVEMBER 2019·NR.260·SEITE 3


EineZahlis tseltennureineZahl;sie
entfalt et ihre Wirkung, sobald man
sieeinordnet,bewertet,interpr etiert.
Dasgiltganzbesondersfürdiejüngs-
tenAngaben zur Organspende, die
am Donnerstag in Frankf urtbei der
Jahres tagung der DeutschenStiftung
Organtransplantation (DSO)vorge-
stellt wurden. Angesichts desUm-
stands, dassimLand wesentlich
mehr Organe benötigtwerden, als
zur Verfügung stehen, kann man sie
entweder als ein gutesZeichen lesen
oder als ein schlechtes. In jedemFall
aber sind sie ein politischesZeichen.
Denn voraussichtlichimJanuar will
derDeutscheBundestagdarüberent-
scheiden,oberdasetablierteVerfah-
renderOr ganspendegrundlegendän-
dert.
Bisherkannnurspenden,werdem
zu Lebzeiten ausdrücklichzuge-
stimmt hat oderwenn die Angehöri-
gendementsprechend entscheiden.
WennesnachBundesgesundheitsmi-
nisterJens Spahn (CDU) und seinen
Mitstreiterngeht,sollinZukunftje-
derautomatischzumpo tentiellenOr-
ganspenderwerden, es sei denn, er
widersprichtaktiv.DerStreitdarüber
hat nicht nur eineethische Dimensi-
on, sondernaucheine praktische.
Denn Fachleutesind uneins in der
Frage, ob die sogenannteWider-
spruchslösung überhauptdazu führt,
dassmehr Or gane verpflanzt wer-
den.ZwarsindzweiDrittelderInten-
sivmedizinerfürdieWiderspruchslö-
sung, wie eine am Donnerstag in
Frankfurtreferier te Umfrag ezeigte.
Für andereist derMangel an Orga-
nen kein Problem mangelnderZu-
stimmung, sondernein technisches,
weil den Kliniken dafür dieRessour-
cenfehlten.
VordiesemHintergrundsiehtesso
aus, als würden die jüngstenDaten
der DSO die Befürworter der Wider-
spruchslösung darin bestätigen, dass
dringendetwasgetan werden müsse.
VonJanuarbisOktobergingdieZahl
der Spender nämlichleicht zurück,
vonbundesweit787 Personenimglei-
chen Zeitraum desVorjahres auf 775
Spender in diesem Jahr.Und weil je-
dem Spender mehrereOrgane ent-
nommenwerdenkönnen,is tauchdie
Zahl der verfügbaren Organe gerin-
ger: In den ersten zehn Monaten des
Jahres warenes2507, verglichen mit
2566 imvergangenen Jahr.Für Axel
Rahmel,denmedizinischenVorstand
der DSO, istdas allerdings demZu-
fallgeschulde t.„EswarenvieleSpen-
der dabei, bei denen sichherausge-
stellt hat, dassmedizinische Gründe
gegeneineEntnahmesprachen“,sag-
te er.Rahmel verwies dafür auf eine
andereZahl, die seiner Ansicht nach
zuOptimismusAnlassgibt.Beijeder
Organspende musssichdas Entnah-
mekrankenhausandieDSOwenden.
Zusammen prüfen sie, ob der Spen-
der geeignetund eineTransplantati-
onmöglichist.Indener stenzehnMo-
natendesJahreshabendiedeutschen
Krankenhäuser deutlichhäufiger bei
derDSOangerufenalsimJahrzuvor:
In 2522Fällen hatten die Mediziner
aufdenIntensivstationeneinenmög-
lichenOrganspenderausgemacht,im
vergangenen Jahrwareneszum sel-
benZeitpunk tnur2341 Fälle.Dasbe-
deutet,dassdie Kliniken offenbar
häufiger in der Lagesind, mögliche
Organspenderzuerkennen.
Eine wesentlicheFrageist,obdie-
serAnstiegbereitsdieWirkungeines
anderenGesetzesausdemHausevon
Jens Spahn ist, das am 1. April in
Kraf ttratun dseitdemsukzessiveum-
gesetztwird.DiesesGesetzverpflich-
tetgroße Kliniken dazu, mehr Ärzte
alsbislangalsTransplantationsbeauf-
tragt efreizustellen.Dassolldazufüh-
ren,das sdieKrankenhäuserhäufiger
möglicheOrganspendererkennen.
Gegner der Widerspruchslösung
sehenindi esemInstrumentdendeut-
lich besserenWeg, um dieZahl der
verpflanztenOrganezuerhöhen,und
plädieren dafür,ersteinmal dessen
Wirkungabzuwarten.Zudembekom-
men die Kliniken deutlichmehr
Geld. Eine Multiorganentnahme
bracht eihnenbisheretwa 5300Euro,
nun sind es 19 700,wenn die Klinik
auchdie nötig eHirndtoddiagnostik
selbstvornimmt.„Organspende wird
jetzt nicht wirtschaftlichattraktiv“,
stellteThomasBietklar,derkaufmän-
nische VorstandderDSO.„Aberjetzt
hatkeineKlinikmehreinenfinanziel-
len Nach teil,wenn sie Organentnah-
menvornimmt.“
Sein KollegeAxelRahmel warnte
allerdings davor, die steigendeZahl
der Kontakt evon Kliniken mit der
StiftungbereitsalskonkreteWirkung
desGesetzesvomAprilzusehen.Da
brauche es nochZeit für dieUmset-
zung. Vielmehr gebe es in den Inten-
sivstationen nun „einstärkeresBe-
wusstseinfürdasThema“,sagteRah-
mel. Er machteinFrankfurtkeinen
Hehl daraus, dasserdie Einführung
der Widerspruchslösung befürwor-
tenwürde.

E


sfehlten13Minuten,dannhätte
Georg Elser aus dem württem-
bergischenKönigsbronn insRad
der Weltgeschicht egegriffen.
Die NSDAPfeierte am 8. November 1939
im Münchner Bürgerbräukeller ihre„Al-
tenKämpfer“ und ihren gescheiter ten
PutschimJahr 1923.Um 21.07 Uhr been-
dete Ad olf Hitler seineRede, um 21.
Uhrde tonierteimgroßenSaalElser sBom-
be. In den Jahren zuvorhatte Hi tler zu-
meistzwischen 20.30 Uhr und 22 Uhr im
BürgerbräukelleraufderGedenkveranstal-
tungfü rdenPutsc hgesprochenundimAn-
schlus shäufig nochmit den„altenKämp-
fern“geredet. DochimHerbst1939 be-
fand sic hDeutschland im Krieg. Hitlers
Zugzurückindie BerlinerReichskanzlei
ging um 21.31 Uhr.Weilesnebelig war,
konnteersichnicht fliegen lassen.Elsers
BombetöteteachtMenschen,siebenfana-
tische NationalsozialistenundeineKellne-
rin. Vonder De tonation der Bombe be-
kamHitlerinMünchennichtsmit.Alsdie
Bombeexplodierte, saß er mit Joseph
Goebbels schon im Sonderzug nachBer-
lin. Er st in Nü rnberg erhielt er die Mel-
dung,dasserdemAnschlagknappentgan-
genwar.
Goebbels hielt die Meldungaus Mün-
chenzunächstfürfalsch,füreine„Mystifi-
kation“. Man versuchte, denAnschlag
dembritische nGeheimdienstindie Schu-
hezuschieben,nutztedieVerhaftu ngzwei-
er britischerAgenten an derholländi-
sche nGrenzeaus, um gegenGroßbritan-
nien zu hetzen. Ein Einzeltäter passte
nicht in die Erklärungsmusterder Ges ta-
po. DieNazis fabuliertenvon der „Vorse-
hung“ –die NS-Presse schriebvonder
„wunderbarenErrettungdesFührers“.
Noch langenachKriegsendemusste
sichElsers Muttergegen Verleumdun gen
wehren, ihr Sohn habeimA uftrag derSS
gehandelt .Bis heut eist der Tischle rvon
der Os talb auc hvielen Deutschen immer
nochunbekannt, obwohl selb st im Aus-
landStraßennac hihmbenanntsi nd.„Der
Attentatsversuch“,schreibtderHitler-Bio-
graphIan Kershaw,„war voneinemeinzel-
nen dur chgeführtworden, einemganz ge-
wöhnlichen Deutschen, einem Mann aus
derArbeiterklasse,derohnedieHilfeoder
das Wissen vonirgend jemand anderem
handelte.“Kershawführtdas Scheitern
des Anschlags sogar mi tauf die politische
Uninformiertheit Elserszurück. Peter
Steinbach, der wissens chaftliche Leiter

der GedenkstätteDeutscher Widerstand
inBerlin,sagtüberElsersBedeutung:„El-
ser warder Er ste, der denkbar nah dran
war, Hitlerzutöten.UndElserhatalspie-
tistischer Anarchistbewiesen,dassman
als Einzelner ein diktatoris ches Sy stem
durchschauenunddassmansichauchweh-
renkann.“
Elserkommtam4.Januar1903inHer-
maringen zur Welt, in Königsbronn
wächsterauf.DieMuttereinuneheliches
Kind,derVaterein gewalttätigerAlkoholi-
ker. Im Elternhaus mangelt es an Geld
undBildung.1917machtElserimKönigs-
bron nerHütten werk eineLehrealsEisen-
dreher .Erarbeitet
dannalsTischler ,inei-
ner Möbelfabrik.In
der Weimarer Repu-
blik,das geht aus den
Verhörpro tokollenher-
vor, gibt ersein eStim-
mederKPD.Dahinter
steht aberkeine ideo-
logische Überzeu-
gung, sondernnur der
Wunsch,Arbeiterinte-
ressen ein Gehör zu verschaffen.
1928/1929tritterdem„RotenFrontkämp-
ferbund“bei,eristauchMitgliedderHolz-
arbeiter gewerkschaft.ElserstehtdemNa-
tionalsozialismusvonAnfang skeptisch
gegenüber,imRadioübertragene„Führer-
reden“verabscheuter.
Seit dem Herbst1938 plant Elser seine
Widerstandstat akribisch, bastelt an der
Bombe. Er besichtigt den Münchner Bür-
gerbräukeller, findet heraus, das sdieser
durchdie Polizei kaum be wachtwird. Er
fertigtSkizzen vomSaalund de nSäulen

an,di esichzum Deponieren einerBombe
eignen. WährenddieserZeitarbeit eterals
HilfsarbeiterinderHeidenheimerArmatu-
renfabrik Waldenmaier.Erentwendetdort
250 Sprengpatronen und125 Sp rengkap-
seln. Die benötigter, um spä tereine
Sprengkapselzündenzukönnen.DieZün-
dungsteuerterüberUhrwerke. In einem
Königsb ronner Steinbruch,der bi sheute
existie rt,besorgt er sichSpreng stoff. Vom
August bis November1939 häl tersich
nacht sinsgesamt dreißigMal im Bürger-
bräukellerauf.„IchaßnachKarte und
habejedes Mal ein GlasBier getrunken.“
Nach dem Abendesse nversteckt er sich in
einem Abstellraumundarbeitet daran ,die
Säule für denEinbauder Bombevorzube-
reiten. Elserfertigtviele Einzelteileselbst
an, be reitet den Anschlag per fekt vor. In
dieSäulebautersogareinekleineTürein,
dieer auf derInnenseitemit einemEisen-
blechausschlägt, weil er verhinder nwill,
dassdi ePolizeibeimAbklopf enderSäulen
denHohlraum findet. In der Nachtzum 4.
November stellt Elser die Zünduhren auf
21:20 Uhr. Nichts sol lschiefgehen, und so
fährter, obwohl eigentlich alles scharfge-
stelltund vorbereit et ist, am 7.November
nocheinmalnachMünchen,umdieFunkti-
onsfähigkeit derBombezuprüfen.
DieDe tonationlegtgroßeTeiledesBür-
gerbräukeller sinSchutt und Asche–zu
diesem Zeitpunktist Elserschon auf der
Flucht,umsichindieSchweizabzusetzen.
Die Nachrichtvom Attentat hat sichnoch
nicht verbreitet,dasetzen ihn Konstanzer
Zollbeamt efest, weilsie ihnfür einenDe-
serteurhalten.KurzeZeitspäterlegterin
Münchenein Geständnis ab.Reichskrimi-
naldirektorArthurNebe,der1945nachei-

nerVerurteilungdurchden„Volksgerichts-
hof“ hingerichtet wird, weil er Kontakte
zur Widerstandsgruppe20. Juli hatte, no-
tier te über ElsersTat: „Das is tder einzi ge
unter uns ,der es erfas st hatte und demge-
mäßhandelte. Das istein Held unserer
Zeit –und deswegenwerden die Nazis,
nein, geradediese feinen Leutealles tun,
umjedeErinnerunganihnauszulöschen.“
DieNazis planten nachKriegsende einen
Schaup rozess, schließlicherschossen sie
ihnwenigeTagevor de mEinmarsch der
Alliier tenimKonzentrationslager Dach-
au.

H

istorikerhabennachAuswer-
tungder Vernehmungsproto-
kolleundandererQuellendrei
Motiv efürElser sHandelnaus-
gemacht: ein großes Freiheitsbedürfnis,
einausgeprägtesGerechtigkeitsempfinden
sowiedenunbedingtenWunsch,nac hdem
MünchnerAbkommeneine weiter eAus-
weitungdes Krieges zuverhindern.Elser
klagtindem Pr otokoll überLohnkürzun-
gen, Einschränkungen beim Arbeitsplatz-
wechselundinderGlaubensfreiheitsowie
denZwang,dendie Nazisalleror tenausüb-
ten.Er hattedieHo ffnung,dassdurchBe-
seitigungvonHitler ,GöringundGoebbels
„andas AuslandkeineuntragbarenForde-
rungen“ mehrgestellt und die„sozialen
Verhältnisse derArbeiterschaft“ verbes-
sertwerde nkönnten.
DerWeg,bi sGeorgElserEingangindie
Geschichtsbücherfand,seinehistorische
TatinErinnerungsstätten und in der Öf-
fentlichkeit die entsprechende Würdigung
erfuhr ,war–wiesohäufiginderaltenBun-
desrepublik–krumm und ziemlich lang.

Sowohl in Königsbronn al sauchinBonn,
MünchenundStuttgart.Einegenaue reRe-
konstruktionder Biog raphieund de rTat
gelang er stmalszuBeginnder siebziger
Jahre, alsder His torikerLotharGruch-
manndieVernehmungsprotokolleentdeck-
te.Derer stePolitiker ,dereine größereÖf-
fentlichkeitmitElserbekanntmachte,war
Helmut Kohl,dennererwähntedenschwä-
bischenTischlergesellen 198 4inseiner
Redezum20.Juli.DerHistorikerKohlsoll
vonder TatElsers so faszinier tgewesen
sein,da sserMinis terialbeamt eabkanzelte,
wenn si emit dem Namennicht sanfangen
konnten.
DenKönigsbronnern fiel es bis 1989
schwer ,andenSohnihrerGemeindeange-
messenzuerinnern.Bis1990 standderGe-
meind eKönigsbronn einBürgermeister
vor, derangebli ch Absolvent einer „natio-
nalpolitischen Erziehungsanstalt“ (Napo-
la)war.SeineDevisezurhis torische nAuf-
arbeitungderNS-Vergangenheitwardeut-
lich:„Mirsagetfeinix.“WeildieNazisfie-
berhaftnachMittäter nund Helfershelfern
Elser sauch in Königsb ronn gesuchthat-
ten, waren auc hvieleFamilie nüberJahr-
zehntetraumatisiert,weilsie grausameGe-
stapo- Verhöreübersichergehenlassen
mussten. „Die Beamten erkundigtensich
nach allenEinzelheiten üb er das Leben
meine sSohnes undwollten immer wieder
wissen, ob wirvon de mAttentat nichtge-
wussthätten“,berichtetedieMutterinden
Nachkriegsjahren. DieNazisinternie rten
sogarden Steinbruchbesitzer unddessen
Sohn imKonzentrationslager, weil sie bei-
de im Verdacht hatten, bei derBeschaf-
fung des Sprengstoffes geholfen zu haben.
Im Jah r2014 starb de rSohndes Stein-
bruchbesitzer swährendeineshistorischen
VortragsaneinemHerzinfarkt.DieErinne-
rungandasGeschehenhatteihnsoaufge-
regt. UndElser smittler weile verstorbener
Bruderlittschwer darunter ,immeralsVer-
wandtereines„Attentäters“ ,abernichtals
dereines mutigenWiderstandskämpfers
behandeltworden zu sein. Dieerste Ge-
denkveranstaltung inKönigsb ronn gabes
erst zum 50.Todestag Else rs im April
1995.
Zu Begin ndieserWoche besuchte Bun-
despräsidentFrank-WalterSteinmeierHer-
maringen, denGeburtso rt Elsers, und
eben Königsb ronn.InHermaringenweih-
te ereineGedenktafelein.Elser,sagteder
Bundespräsident ,habeinAdolfHitler ei-
nenskrupellosen Massenmörder erkannt,
lang ebevor der einige seiner Mordpläne
insWerkgesetz thabe. „Wir haben lange
Zeitgebraucht,denWiderstandgegenden
Nationalsozia lismuszu wü rdigen, und
noch einmal so lange, um einen herausra-
gendenWiderstandskämpfer zu entde-
cken.“Elserse iein„einfacherMann“ gewe-
sen,de rein„wachesAuge undeinwaches
Herz“besesse nhabe. WeildieHobbyhisto-
rikerdesElser -Arbeitsk reises, vieleprofes-
sionelle Geschichtswissenschaftler und ei-
nigeengagiertePolitiker ,sichmehralsdrei-
ßigJahrelangfüreinangemessenesErin-
nernanElserein gesetzthaben,gibtesheu-
teeinGedenkstätteinKönig sbronn,einen
nach ihm benannten Platz in München.
Undaußerdem stehtimStuttgar ter„Haus
derGeschichte“seineWerkbank.

ImVerkehrsfunkkommtschonamfrühen
Morgendie Warnmeldung: Die Auto-
bahn 1zwischendemPariserGroßflugha-
fenCharlesdeGaulleundderHauptstadt
istgesperrt.AmRand der Schnellstraße
hausenseitMonatenmehrerehundertMi-
granten unter erbärmlichen Bedingun-
gen. Ihre Zelteund selbstgebauten Hüt-
tenzwischen Büschen und Müllhaufen
sind das Erste, wasneugierig eTouris ten
vonParis erblicken. Doc hdamit soll
Schlus ssein, deshalb blieb dieAutobahn
amDonnerstagindenMorgenstundenge-
schlossen.
Mehr als 600Polizistensind vorMor-
gengrauen ausgerückt, um die Menschen
aus dem wilden Lager inReisebusse zu
verfrachten. Awa,eine 32JahrealteFrau
aus der Elfenbeinküste,lebt seit einem
JahranderPortedelaC hapelle.„Esreg-
net, mir istkalt.Ich weiß nicht,wo man
michhinbringt,aberichbinfroh,dassich
hier wegkomme“, sagt sie Journalisten.
„Heute Abend werdeich ein Dac hüber
demKopfhaben“,lachtsieundstapftmit
ihren Habseligkeiten zum Bus. DiePoli-
zeipräfektur hat zusammen mit derPari-
ser Bür germeisterinAnne Hidalgo alles
organisiert: den Einsatz der Sicherheits-
kräf te,die Reisebusse, den Pressetross
und begleitende MitarbeitervonHilfsor-
ganisationensowieeineBrigadederMüll-
abfuhr,diezumSchlussaufräumt.
„DieOperationverläuftfriedlich“,twit-
tertdiePolizeipräfektur.Bürgermeisterin
Hidalgoschaut den Menschen zu, dievor
den Bussen Schlangestehen, die meisten
mit Ruck säckenund Plastiktüten bela-
den. Frauen, Kinder undFamilien durf-
tenzuersteinsteigen,jetztstehenfast nur
nochjungeMänner herum. „DieStraße
istkeinOr tzumLeben,dasistgefährlich,
das is tunwürdig“, sagt Hidalgo. Siestrei-
tetseitlangemmitwechselndenRegierun-
gendarüber,werfürdieMigrantenzustän-
dig ist, die inParisstranden. Im Oktober
2016 hattedie Sozialistin, auchumden
damaligen PräsidentenFrançois Hol-
lande vorzuführen, einAuffanglager „La

Bulle“(etwa:dieSchutzblase)anderPor-
te de la Chapelle eröffnet. Da die Regie-
runguntätigbleibe,müssesiejaetwasun-
ternehmen, schimpfte sie damals, bekam
dannaberdie gewünschteHilfederstaatli-
chenStellen.
25000 Migranten fanden in der
„Schutzblase“ einevorübergehende Blei-
be und Hilfebeim Asylantrag.Ausländi-
sche Besucher,darunter auchder Staats-
ministerimAuswärtigen Amt, Michael
Roth, wurden imAuffanglager herumge-
führt, damit sie selbstsehen sollten, wie
vorbildlic hdie Franzosen mit Flüchtlin-
genumgingen.AberimApril2018wurde
„La Bulle“geschlossen, Bulldozer rück-
tenaus,dennaufdemGeländesoll–wie
schon langegeplant –der Campus der
Universität Condorcetentstehen. Im In-
nenministerium herrschtohnehin die
Meinungvor,dassFrankreic hkeineAnrei-
ze für Migranten schaffendürfe und „La
Bulle“vielzuschnellunterSchlepperban-
denalsbesteAd ressevonParisangeprie-
senwurde.

Unwillkommene Gäste


InnenministerGérar dCollomb, der sich
voreinem neuen „Dschungel“ wie an der
Ärmelkanalküste inCalais fürchtete,ver-
glichdieMig rantenlagermit„Abzessen“.
Vorseinem Rücktritt im Oktober 2018
macht eerkeinenHehldaraus,dassFrank-
reich aus seiner Sicht zeitlichverzögert
die Folgen der deutschenWillkommens-
politikzutragenhabe.ImInnenministeri-
um in Parishat man sehrgenau dieZah-
len studiert. 2018 haben 46 000 Migran-
ten, die bereits einen Asylantrag in
Deutschlandstellten, ein neues Asylver-
fahren in einem anderen EU-Staat ange-
strengt,geschätzt die Hälfte davonin
Frankreich,heißt esinParis.Insbesonde-
re Afghanen zieht es nachFrankreich,
denn in Deutschland erhielten nur 37,
Prozen tder Antragsteller Asyl, inFrank-
reichwarenesbisEnde2017mehrals
Prozent. Der Innenministerwar deshalb

erbostüberdenChefderAsylbehördeOf-
pra,dessen Mandat nichtverlänger twur-
de. Unterdem neuen Ofpra-Leiter istdie
AnerkennungsratefürAfghaneninFrank-
reichauf 59 Prozentgefallen. DieRegie-
rung hat sichzudem entschlossen, die
Kontrollen zuverschärfen, eine Karenz-
zeit vondreiMonaten bei der Gesund-
heitsversorgung für Asylbewerber einzu-
führen undAbschiebungen abgelehnter
Bewerber zu beschleunigen. Der amtie-
rende InnenministerChris tophe Casta-
nerstehtkurzvordenlandesweitenKom-
munalwahlen im Märzunter Druck, die
HandlungsfähigkeitderRegierungzuzei-
gen. Am Mittwoch hat er bei derVorstel-
lung des 20-Punkte-Planszur Zuwande-
rung versprochen,dassalle wilden Lager
in Paris„vorJahresende“geräumt wür-
den.Gesagt,getan,auc hamsogenannten
Crack-Hügel nahe derPortedelaCha-
pelle rückten am Donnerstag Polizeikräf-
teaus.
Die Brachfläche an dem Hügel, die
schon zurKommune Saint-Denisgehört,
istseitlangemalsUmschlagplatzfürDro-

genbekannt .Seit mehreren Monaten
schlagen Flüchtlingshilfsorganisationen
Alarm, dassimmer mehr verzweifelte
Flüchtlingeinden Bann derRauschgift-
händlergeraten. Die unter Crackstehen-
denMig rantenmachendasPariserWohn-
vie rtelinder Näheder PortedelaChapel-
leunsic her,malbettelnsieAnwohnerum
Geldan,malsitzensienurmitstarrenAu-
genamStraßenrand.„Ichhabeschonlan-
ge davorgewarnt .AberdieBürgermeiste-
rinwolltenicht wahrhaben, dassunser
Wohnvier telkomplettvomRauschgift-
handel verdorben wird“, sagt Pierre Lis-
cia, der für DieRepublikaner (LR) im
Stadtratsitzt.
DieBür germeisterinhat im September
beschlossen, einen„Ruheraum“ für
Crack-Süchtig ezueröffnen,damitdiesen
Entzugstherapienangebotenwerden kön-
nen.AberdieAnwohnerlaufenSturmge-
gendas Projekt,vondem sie befürchten,
dassesnochmehr Rauschgif tabhängige
inihr Vierteltreibt.DeshalbsprichtHidal-
go derzeit nicht mehr über den Plan. Die
RäumungderbeidenLager kommtihrge-

legen, auchsie bewirbt sichimMärzum
ein neues Mandat imRathaus inParis.
Mit dreizehn Bürgermeistern aus umlie-
genden Gemeinden hat sievergangene
Wocheeinen Notaufnahmeplan erarbei-
tet.Di eetwa1200Migranten,dieamMor-
genaus ihren Lagerngetrieben wurden,
werden auf ein DutzendTurnhallen ver-
teilt, in denen Pritschen aufgestellt wur-
den. EinigeKommunenhaben auchPlät-
ze in Wohnheimen zurVerfügung ge-
stellt.Aber wie geht es mit ihnenweiter?
Der Pariser Polizeipräfekt, Didier Lalle-
ment, gibt sichamDonnerstag martia-
lisch: „Ichwerde keine neuen wilden An-
siedlungentolerieren.“AnderPortedela
Chapelle würdenkünftig rund um die
Uhr Polizeipatrouillenunter wegs sein
und Migranten vertreiben. „Im öffentli-
chenRaumdürfenkeineprovisorischen
Behausungen entstehen“, sagteder Poli-
zeipräfekt. 59 Mal sind wilde Lager seit
BeginnderFlüchtlingskrise2015 inParis
geräumtworden,immerentstanden nach
wenigen Wochenneue.
FortansollauchinParisdie„Null-Tole-
ranz-Politik“gelten, die in Calais seit der
Räumung des FlüchtlingslagersimOkto-
ber 2016 praktiziertwird. Seither bekla-
genHilfsor ganisationenan de rÄrmelka-
nalküs te,dassMigranten „wieWild ge-
jagt“ würden. Amateuraufnahmenvon
Helfer ndokumentierendasbrutaleVorge-
henderPolizei, dieZeltezerstört, Schlaf-
säckebeschlagnahmtundauchnachtsmit
Pfef ferspray imEinsatzist.Aber die Stra-
tegieinCalaiserhältauchBeifall.Bürger-
meisterinNatachaBouchart(LR)hältdas
Vorgehen derPolizei für alternativlos. In
Calaisistdie EssenausgabeanMigranten
durch Hilfsor ganisationen in der Innen-
stadt verbotenworden. Hilfsorganisatio-
nen haben dagegen protestiert, aber die
BürgermeisterinweißdieöffentlicheMei-
nungauf ihrerSeite. DasUmfrageinstitut
Ipsos hat im September ermittelt, dass
zwei Drittel derFranzosen Migranten als
Bedrohung empfinden. 65 Prozent sind
der Meinung, dassdie menschenwürdige
AufnahmevonFlüchtlingen dieSituation
inFrankreic hnicht verbesser nwürde.

Foto AKG

Eingutes


Zeichen


MehrKlinikenmelden


möglicheOrganspender


VonKimBjör nBecker


Im Regenstehen gelassen:Migrantenwartenin Parisaufihren Abtransport. FotoEPA

13 Minuten zu spät:AlsdieBombeam8.Novemberdetonierte,saßHitlerschonwiederimZugzurüc knachBerlin. FotoBridgeman

VomCrack-HügelindieT urnhalle


DieStadtParislässtFlüchtlingslagerräumen–fortansolleine„Null-Toleranz-Politik“gelten /VonMichaela Wiegel, Paris


MitwachemAugeundwachemHerzen


VorachtzigJahren


scheiter teGeor gElsers


AnschlagaufAdolf


Hitle r. Eine nwürdig en


Platzin derGeschi chte


fandElsererst spät.


VonRüdigerSoldt,


Stuttgart


GeorgElser
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