Frankfurter Allgemeine Zeitung - 08.11.2019

(vip2019) #1

SEITE 4·FREITAG,8.NOVEMBER 2019·NR.260 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


oge.BERLIN.30JahrenachdemFall
derMauersiehtderletzteDDR-Minister-
präsident Lothar de MaizièreOst-
deutschlandnochimmerunterrepräsen-
tiert. „Es gibt in Deutschland mehr als
80UniversitätenundHochschulen.Und
nicht eine einzigewirdvon einem Ost-
deutschengeleitet“, sagtedeMaizière
dieser Zeitung. Wieman nac hder Ein-
heitmitderostdeutschenFunktionselite
umgegangen sei, sei „katastrophal“.
Auchsitzedie„Krän-
kung“ wege nder Be-
vormundung durch
den Westen nach
dem Mauerfall bei
vielen Ostdeutschen
nochtief.
Nach dem 9.No-
vember1989 habe er
nicht damit gerech-
net, das sdie Einheit
soschnellkommenwerde,sagt edeMai-
zière–auch, weilnichtklargewesensei,
wiegeschwächtdiePositionvonMichail
Gorbatschowschongewesensei.Beider
letzten Sitzung derStaaten des War-
schauerPaktsimJuni1990habe derda-
maligesowjetischeAußenministerEdu-
ardSchewardnadseihm,deMaizière,be-
richtet, das sdie Sowjetunion bald zah-
lungsunfähigwerdeund fünf Milliarden
DM benötige, auchum„Stimmung zu

machen“.Daraufhinhättenderdamali-
geBundeskanzlerHelmutKohlundsein
stellvertretenderKanzleramtschefHorst
Teltschik erreicht, dassSchewardnadse
das Geld „binnenweniger Wochen“ er-
halten habe. DieseZahlung habe die
deutsche Einheit vielleicht erst ermög-
licht, weilsiemitdazubeigetragenhabe,
dassGorbatschownicht gestürzt, son-
dernbeim Parteitag der KPdSU im Juli
1990knapp als Generalsekretär wieder-
gewählt worden sei. Schewardnadse sei
ein„vernünftigerMann“gewesen,sagte
deMaizièreweiter.„Ersagt emalzumir:
,EinGeorgierhateuchDeutschenschon
einmal so massivgeschadet, jetzt muss
einandererGeorgiereuchhelfen.‘“
Sein Verhältnis zuKohl bezeichnete
deMaizièreals„schwierig“.„Kohl hatte
wohl Angst, sichmit dem „Makel der
,Blockflöten‘zu beflecken, wenn er sich
mit der Ost-CDU abgibt.“Auch habe er
sichvonihmbevormundetgefühlt,sode
Maiziére. „Kohlwarder Meinung, wir
Ostdeutschen hätten unsgefälligstnach
ihmzu richten.Wennic hgefragtwürde,
ob ic hihn für besonderstolerant hielt,
würdeichneinsagen.“ZwarseidieEin-
heit nurgekommen, weil Kohl bis zum


  1. Oktober 1990 „allesrichtig gemacht“
    habe. Aberda sgeltevorallemfürdieAu-
    ßenpolitik.Die Innenpolitik habe ihn
    „überhauptnichtinteressiert“.


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bub. BERLIN. In der Debatteüber die
Frage, ob das Grundgesetz hinreichend
krisenfestist,habensi chdieJu stizmin is-
terderBundesländeraufeinenMinimal-
konsensgeeinigt.Manbegrüße„dieAn-
sätze,umdenDiskursunddasBewusst-
sein dafür,was unserefreiheitliche
rechtsstaatliche Demokratie ausmacht,
zufördernunddieIdentifikationmitihr
zu stärken“, heißt es in dem Beschluss
der Justizministerkonferenz, die am
Donnerstag in Berlintagte. Weiter be-
kräftigten die Minister„ihren eigenen
Einsatz für dieVerfassungsordnung im
Dialog mit allen anderen Beteiligten“.
Der HamburgerJustizsenatorTill Stef-
fen(Grüne) hattevorgeschlagen, das
Bundesjustizministerium zu beauftra-
gen,dieinstitutionellenundnormativen
Schwachstellenzuidentifizieren,diezur
Aushöhlung benutztwerd en könnten,
und über Lösungsansätze nachzuden-
ken.ImGrundgesetzkönnteetwafestg e-
schrieben werden,das sVerfassungsrich-
termit einer qualifizier tenMehrheit zu
wählensind,momentanstehtdasnurin
einem einfachen Gesetz, das mit einfa-
cher Mehrheitgeändertwerden könnte.
Esseiihmdarumgegangen,dieDebatte
anzustoßen, sagteSteffen nac hder Jus-
tizministerkonferenz.
Die Ressortche fs der Union konnte
Steffenallerdings nicht überzeugen.

„Ichsehe nicht, dassdas Grundgesetz
uns in die Krise führt“, sagtedie hessi-
sche JustizministerinEva Kühne-Hör-
mann (CDU). 70 JahreGrundgesetz sei
ein „Er folgsmodell“.Natürlic hgeltees,
den Rechtsstaat zu schützen, auchmit
rechtlichenMitteln.AbereineVerfas-
sungskrise,wiesieinGroßbritannienzu
beobachtengewesensei,alsderPremier-
ministe rdasParlamentindenZwangsur-
laub schickte, sei in Deutschland nicht
zubefür chten,weildasGrundgesetzsol-
cheEntscheidungennichtzulasse.
Hamburghatteallerdings weniger
Großbritannien alsPolen undUngarn
im Blic k. „Das Grundgesetzwarein Ex-
portschlager,aber nun sehen wir,wie
dieGerichteundMedienmitwenigen Fe-
derstrichen ausgeschaltet werden.“ Da
sollemanauchdieSituationinDeutsch-
landindenBlicknehmen,soSteffen.Er
zeigtesicherfreut darüber,dassesüber
dieses Thema eine „sehr engagierte De-
batte“ gege ben habe. DemVernehmen
nachwurdeesunterdenMinisternsogar
rechtlaut.DieUnionsseitehabesichan-
hören müssen, „naiv“ zu sein, die Ge-
fahr nicht zu sehen. EinRest des Är gers
warwohl nochvorhanden, alsKühne-
Hörmanndaraufverwies,das snichtalle
JustizministervonSPD und Grünen den
Satz mitgetragenhätten, dassdie DDR
ein„Unrechtsstaat“gewesensei.

Bis heuteträgtLiliana Segre die Häft-
lingsnummer 75190 auf ihremUnte r-
arm. Sie wurde ihr als junges Mädchen
1944 im Konzentrationslager Ausch-
witz-Birkenautätowiert.DieKennzeich-
nung sei ihr eine Ehre, „weil es eine
Schandefürjeneist,dieesgetanhaben“,
sagtdie89JahrealteMailänderin.Segre
isteinesvon25derinsgesamt776ausIta-
liendeportiertenKinder,dieAuschwitz
über lebthaben.
Sie brauchteJahrzehnte, bis sie in
derLagewar,öffentlic hüber das zu
sprechen,wassieerleb thatte:Seit
berichtetSegre vorallem Schülernvon
ihrenEr fahrungenindennationalsozia-
listischenKonzentrationslagern.Nach
derRäumungvonAuschwitz-Birkenau
wurde das Mädchen zunächstnachRa-
vensbrüc kunddannindessenAußenla-
gerinM alchow gebracht, das schließ-
licham30.April1945vonsowjetischen
Truppen befreit wurde.Staatspräsident
SergioMa ttarellaernanntedieparteilo-
se Segre im Januar 2018 „wegengröß-
terVerdien steimsozialen Bereich“ zur
SenatorinaufLebenszeit.SeitihrerBe-
rufungind ie zweiteParlamentskam-
mernahmendie antisemitischen Be-
schimpfungengegensie jedochdras-
tischzu. Nach eigen en Angaben erhält
dieAuschwitz-Überlebendetäglich
antisemitische Beschimpfungen und
Drohungen.

Unterdiesem Eindruckschlug sie im
Oktober die Einrichtung einer Senats-
kommission für die Bekämpfungvon
Antisemitismus,Rassismus und Hass-
kampagnen vor. Der Senatstimmteda-
mals ohne Gegenstimmen für eine sol-
cheKommission. Die Senatoren der
rechten Parteien Legaund ForzaItalia
sowie der neofaschistischenFratelli d’
ItaliabliebenderAbstimmungfern.Der
Lega- Vorsitzende und Oppositionsfüh-
rerMatteo Salvinirechtfertigt ediesen
Schrittdamit,dassdieLink ebereitsden
Slogan „Italiener zuerst“als Rassismus
definiere. Er sagte, seine Partei sei
„ohne Wenn undAber“ gegenRassis-
musundAntisemitismus.Aberman wol-
le keinen Polizeistaat, „der uns zu Or-
wellzurückbringt“.
SeitDonnerstagstehtSeg reunter Po-
lizeischutz. Denn Hassschlägt ihr nicht
nur imNetz entgegen. Am Mittwoch
warinder Nähe eines Mailänder Thea-
ters,indem sie an diesemTagvor Stu-
dentensprach,einoffenbargegenihren
Auftri tt gerichtetesPlakat derrechtsex-
tremistischenPartei „ForzaNuova“ ge-
funden worden. Nunwirdsie vonzwei
Carabinieribewacht .Salvini kommen-
tierte die Maßnahme mit denWorten:
„DieDrohungengegenSegre,gegenSal-
vini undgegenjeden anderen sind äu-
ßerst schwerwiegend.“ Er bekomme sie
täglich. tja.

S

ebastianKurz hat sic hdas Büro
in der Wiener Lichtenfelsgasse
vomGeneralsekretär der ÖVP
„geliehen“.VorseinerAbwahlals
österreichischer Bundeskanzler hatteder
Parteivorsitzende der Christdemokraten
immereinRegierungsamtinneundbenö-
tigtedaherkeinenSchreibtischinderPar-
teizentrale; und bald hofft er wieder ins
Bundeskanzleramt einzuziehen. An die-
sem Freitag steht die sechste Runde der
Sondierungen mit den Grünen ingroßer
Rundean,dannwollensiebekanntgeben,
ob sie offiziell Koalitionsverhandlungen
aufnehmen.Grünen-ChefWernerKogler
benötigtdafüreineformelleZustimmung
seiner Parteigremien, die am Sonntagta-
gen. Kurz lässt die Parteisatzung freie
Hand. In den Medien hat sichder Sieger
derNationalratswahlinletzterZeitrarge-
macht .Auchjetzt versucht er im Inter-
viewpeinlichgenau,jedeAussageüberin-
nenpolitische Themen zuvermeiden, bei
denen der Eindruckentstehen könnte, er
wolle den Gesprächspartnernetwas über
die Medien „ausrichten“. Schon das
scheinteinZeichen dafür zusein,dasses
ihmmitdenGrünenernstist.


Der Fall des Eisernen Vorhangshatte
einbeispiellosesZusammenwachsender
meisten Länder Europaszur Folge.
Aberman hat denEindruck ,jenäher
wir politisch zusammengewachsen sind,
desto weiter haben wir uns mental von-
einanderentfernt.Wasläuftdafalsch?
Die deutscheWiedervereinigungwarein
Wendepunktnichtnurderdeutschen,son-
dernder europäischen Geschichte. Ein
unglaublichesProjekt,dasbeeindruckend
gemeistertwurde,unteranderemvonHel-
mutKohl.WiralsjüngereGenerationdür-
fenextrem dankbar für das sein,wasda-
malsgeleistetwurde,wir profitierenheu-
tenochdavon.EsmachtmiraberSorgen,
dassesind en Köpfen weiterhin Mauern
gibt: anscheinend einStück weit immer
nochzwischen Ost- undWestdeutsch-
land,mehrundmehraberauchzwischen
Ost-undWesteuropa.Dasisteinedrama-
tische Fehlentwicklung, die dringendge-
stopptwerdenmuss.

Warum hatsich das Ihrer Ansicht nach
sogarverstärkt?
Insbesonderewegen der Migrationskrise.
Es is tdie teilweise vorhandene westliche
Arroganz,dieeinStückweitdie Ressenti-
ments in Osteuropa stärkt und die leider
Gottes auchinden Be völkerungenWest-
europasteilweise dazu führt, dassman
aufdieOsteuropäerherabschaut.Dashal-
te ichfür einegefährliche Entwicklung.
Ichhaltenichtsvoneiner Politikde serho-

benenZeigefingersund der moralischen
Überlegenheit.Amschlimmstenist es,
wenn ganze Regionen wie derWestbal-
kanvergessen werden und Sorge haben
müssen, dassihnen diePerspektivege-
raubtwi rd.Hierhof feichsehraufeinUm-
denken derPolitik auf europäischer Ebe-
ne, wir müssen Gräben wieder überwin-
den.Ic hbindahersehrfrohunddankbar,
dassUrsula vonder Le yendieses Thema
als neue Kommissionspräsidentin sehr
klarangesprochenhat.

Vermischen Sie da nicht unterschiedli-
cheDinge ,dieeigentlic hfürsichbetrach-
tetwerdenmüssten?DieMeinungsunter-
schied einSachenMigrationhabendoch
nichts mit Kritik an möglichen rechts-
staatlichenFehlentwicklungenzutun.
Ja,damussmanklartrennen.Wasunsere
Grundwerte betrif ft,Rechts staatlichkeit,
Demokratie,darfeskeinenVerhandlungs-
spielraumgeben. Das istBasis der EU.
Dass inder Mi grationskrise einigeStaa-
tenversucht haben, anderezueiner Poli-
tik der offenen Grenzen zu zwingen, hat
die Gräben in Europa sicherlichtiefer
werden lassen. Aber der Blickzurück
zeigt nicht nur,woman etwa sfalschge-
machthat.DievergangenendreißigJahre
habenzum Beispiel bewiesen, dassdie
Marktwirtschaftfunktioniertund die
Planwirtschaftnicht.Siehabengezeigt,
welche SteuerungsinstrumenteinEuropa
funktionieren. Betrachtet man die wirt-
schaftliche Entwicklung in Polen, Un-
garn,der TschechischenRepublikoder
der Slo wakeiauf der einen Seiteund in
Italien aufderanderenSeite,dannmerkt
man, dassein klarer marktwirtschaftli-
cher Zugang funktioniert, dassaber viele
Förderprog rammeinsLeerelaufen.

Gibt es eine verzerrtePerspektivenicht
auch auf deranderen ,der osteuropäi-
schen Seite? Die Region hat mehr als
jede andere von den Subventionen der
EU profitiert. Trotzdem kann mandort
gutpunkten, wennman die Stimmege-
gen„Brüssel“erhebt.
Ichhalte antieuropäisches Gedankengut
für problematisch. Ichwürde aber davor
warnen, das swir so tun, alsgäbe es das
nurinOsteuropa. EsgibtesauchimW es-
ten–Gott sei dank nicht in der Mehrheit.
Aber wenn ein Osteuropäer einenVor-
schlag macht, dann istdas nicht automa-
tischeinSchlechtredenderEU.Undnicht
jederVorschlageinesGründungsmitglieds
istautomatischein mutiges europäisches
Vorangehen .Ich habe das Gefühl, dass
hierteilweisemitzweierleiMaßgemessen
wird. Kürzlichwurde überdie Er weite-
rungderEUaufdemWestbalkanentschie-
den.NordmazedonienundandereStaaten
habensichwirkli chumReformenbemüht

undverdieneneineeuropäischePerspekti-
ve.Wirsolltenvorsichtigsein,sienichtan
dieTürkei,RusslandoderChinazuverlie-
ren.Die Staaten,die diesmaldagegenwa-
ren,warennichtdieimmeralsantieuropä-
ischgescholtenenOsteuropäer.

WelcheFolgenhatdiesesErweiterungs-
Veto?
IchhaltedasfüreineabsolutfalscheEnt-
scheidung. Ichhoffe sehr,dasssie zügig
revidiertwerden kann. DieseRegion ver-
dient eine europäischePerspektive.Wir
schadenunsselbst,wennwirsienichtlie-
fern.Die Wirtschaft, vorallemaber auch
die Sicherheit, hängenstarkmit der Ent-
wicklung auf dem Westbalkan zusam-
men. Eine schlechteSicherheitslagedort
bedeutet mehr Einbrüche und mehr Kri-
minalität bei uns.Russ ischer ,türkischer
oder chinesischer Einflussindieser Re-
gionbleibtnichtohneFolgenfüruns.

SollteÖsterreichhiereineRollespielen?
Wirwerden uns definitivanstren gen,
dass dieseStaaten nicht aufgeben, son-
dernmutigund proeuropäischden Re-

formwegweiter gehen. Gleichzeitigwer-
denwirStimmungmacheninnerhalbder
EU,dassdiese Staaten eineglaubwürdi-
ge Perspektiv eerhalten.

Wenn Sie unterscheiden zwischenWest-
europäernmit erhobenem Zeigefinger
und gescholtenen Oste uropäern:Wo
steht da Österreich? Bei denen, di eher-
absehen,oderbeidenen,aufdieherabge-
sehenwird?
Wirsind Nettozahler in derEUund klar
in Westeuropaverankert.Gerade des-
halb können wirBrückenbauer sein und
wechselseitig um Verständnis werben.
Aufgrund unserergeographischenNähe
haben wir Gott sei dank einStückweit
Verständnis undKontakt undBewusst-
seinfür dieRegion. Wirhabensehrviele
Zuwandererau sdiesenStaatenun dauch
einen starkenwirtschaftlichen Aus-
tausc h. Wirhaben kein Interesse daran,
dass die Gräben immer tieferund die
Mauer nimmerhöherwerden.

IsteineregelrechteDesintegrationsbewe-
gungzubefürchten?

Siche rlichwar die Entwicklung in den
vergangene nJahren nicht gut.Ich bin
abereingrundpositiverMenschundüber-
zeugt, dassman da ssehrschnell wieder
ändernundindierichtigeRichtungbewe-
genkann.Dazu is tesn otwendig, in drei
Bereichen sehr behutsam zu sein: nicht
ganze Regionen zurückzulassen. Zwei-
tens im demokratischen Diskursauf Au-
genhöhe zu agierenund die Meinung ei-
nesjedenMitgliedstaatesgleichermaßen
gelten zu lassen, egal ob Ost- oderWest-
europa .Und das dritte halt eich fürent-
scheidend:mitlauterStimmezukritisie-
ren, wenn es Fehlentwi cklungen in man-
chen Staaten der EU gibt,genaus oklar
aber auchpositiveTendenzen zu erwäh-
nen. Es istrichtig, dasswir Druc kma-
chen,was Demokratie,Rechtsstaatlich-
keitundMedienfreiheitineinigenosteu-
ropäischen Ländernbetrifft. Es is taber
auchlegitim,einmalauszusprechen,dass
die Unga rn und diePolen im vergange-
nen Jahrein Wirtschaftswachstumvon
rund fünf Prozent zustandegebracht ha-
ben.

Beide rVerteilungvonFlüchtlingengibt
eseuropäischeLänder,diesichalsVor-
reiterverstehenundeinenMechanis mus
für sich vereinbarthabeninder Hoff-
nung, dass andere mitziehen. Sollte
Österreichdabeisein?
Meine Haltungwar immer klar und hat
sichnicht geändert. Aber Kanzlerin ist
derzei tBrigitteBierlein,sievertrittÖs ter-
reichinBrüssel.

MitdemBrexitfällteinwichtigerNetto-
zahler weg. Zugleich fürchten osteuro-
päische Länder,dasssie künftig gegen-
übersüdwesteuropäischen benachteiligt
werden .Esgibt Vorschläge, beider Zu-
teilung von Mitteln„goodgovernance“
zu berücksichtigen.Wie sollte das EU-
Budget IhrerMeinungnach strukturiert
werden?
Entscheidend istaus meiner Sicht, dass
wirsorgsammitdemSteuergeldumgehen
und genau überprüfen,welche europäi-
schen Fördermodelle funktionieren und
welchenicht.ZumBeispielhatdasGrün-
dungsmitglied Italien insgesamt Hunder-
teMilliardenanEU-Geldernerhalten.Al-
leinin denvergangenensechsJahrenflos-
sen 22 Milliarden EuroanKohäsionsmit-
teln für Süditalien. Gleichzeitigbestehen
immernochgroßestrukturelleProbleme.
DieJugendarbeitslosigkeitinSizilienund
Kampanien liegt beirund50 Prozent.Da
istesentscheidend, zu hinterfragen:wo
isteuropäisches Geld gut investiertund
wo istesschlechtin vestiert?

Derzeit istdas meistdiskutierte Thema
der Klimawandel–Sie sondieren eine
RegierungsbildungmiteinerÖkopartei.
2017wa rMigrationdasgroßeThema–
da habe nSie mit einer migrationskriti-
schen Partei eine Regierung gebildet.
Richtet sich das also nach den Themen,
diegeradeopportunsind?
Ichglaube,dieMehrheitderÖsterreiche-
rinnen undÖsterreicheristderMeinung,
dassich eine klareHaltung habe und sie
auchvertr ete.

Klima spieltefrüher bei Ihnen nichtso
ein egroßeRolle.
Welche Herausforderungen ichfür die
nächs tenJahresehe,hatsichnichtsonder-
lichverändert, ichbin da nicht sprung-
haft: Die Entwicklung unseresStandorts,
sicherzustellen, dassdie Menschen Ar-
beit haben, das istganz zentral für unser
Land. Undja, die Migration und die Kli-
mafrag esind auc hsehr relevanteThe-
men.Ic hhabe2017nichtbehauptet,dass
es nur das Thema der Migration gebe,
undic hbehauptejetztauchnicht,dasses
nurdasThemadesKlimawandelsgibt.

Die Fragen stelltenChristian Geinitz und
Stephan Löwenstein.

Foto Andreas

Pein

„Absolutfalsche Entscheidung“:Kurz,hierinseinemBüroinWien,kritisiertdasVetofürdieEU-Erweiterung. FotoJacquelineGodany

Verfassung besser schützen


JustizministereinigensichaufMinimalkonsens


„Wir können Brückenbauer sein“


SebastianKurz,VorsitzenderderÖsterreichischenVolkspar tei,überdieGräbeninOst-undWesteuropaund seineUnterstützungfürdenWestbalkan


„Die Kränkungsitzt tief“


DeMaizière:OstennachMauerfallbe vormundet


UnterPolizeischutz


ItalienischeAuschwitz-Überlebendewirdbedroht


LothardeMaizière

Für die Her stellung derFrankfurterAllgemeinenZeitung wirdausschließlichRecycling-Papierverwendet.
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