Handelsblatt - 08.11.2019

(Barré) #1

Literatur
WOCHENENDE 7./8./9. NOVEMBER 2019, NR. 216^61


Mauerdurchbruch am
Potsdamer Platz: Importe
aus Westdeutschland
machten Karriere in Politik,
Verwaltung, Wissenschaft
und Justiz.

L. Neubauer und A. Repenning


Was macht ein


gutes Leben aus?


Ein Handbuch für Klimaaktivisten von
einer Leitfigur der Schülerproteste

Darum geht es: Das Buch „Vom Ende der Klimakri-
se“ ist eine Art Handbuch für klimabewegte junge
Leute, das beschreibt, was aus Sicht der Autoren
schiefläuft – mit viel Rückgriff auf Aussagen von Wis-
senschaftlern und ihren Gremien. Die Lektüre will
Mut machen, sich eine andere Zukunft vorzustellen als
die, auf die wir zusteuern. Zudem teilen die Autoren
ihre Erfahrungen: Wie organisieren und vernetzen
sich Gleichgesinnte, um gemeinsam etwas zu bewir-
ken? Lohnend ist das Buch auch für die Generation 30
plus. Ihr dürfte es helfen, die protestierenden Jugend-
lichen besser zu verstehen. Die beiden Autoren schaf-
fen es in Stil und Inhalt, eine Brücke zwischen den Ge-
nerationen zu schlagen.
Das sind die Autoren: Die Geografiestudentin Luisa
Neubauer ist so etwas wie das Gesicht der Fridays-for-
Future-Bewegung deutscher Schüler und Studenten.
Sie hat das Buch zusammen mit Alexander Repenning
geschrieben, der sich für die Right Livelihood Founda-
tion engagiert. Die Organisation vergibt den alternati-
ven Nobelpreis.
Das überrascht: Analyse sowie Argumentationsfüh-
rung der jungen Autoren, selbst auf dem schwierigen
Feld der Wirtschaft und der Wissenschaft, sind er-
staunlich klar. Die Zielkonflikte zwischen materiellem
Wohlstand, Klimaschutz und Armutsbeseitigung wer-
den schonungslos angesprochen. Wie wenig die Öko-
nomik, als eine Wissenschaft zur Optimierung des Sta-
tus quo, zur Lösung dieser Zielkonflikte beitragen
kann, legen die Autoren
bemerkenswert kenntnis-
reich offen. Dennoch ge-
lingt es ihnen, einen
grundoptimistischen Te-
nor zu setzen, statt eine
Negativbotschaft zu ver-
künden. Ihr Plädoyer: als
Gesellschaft neu darüber
nachzudenken, was ein
gutes Leben ausmacht. Da-
für bietet das Buch keinen
umfassenden Neuentwurf,
aber jede Menge Anhalts-
punkte – etwa den Drang
nach Status und Identität
anders als materiell zu be-
friedigen.
Das ist enttäuschend:
Wer kein Sprachpurist ist,
wird es sicherlich schaffen,
über die vielen Anglizis-
men und Modeausdrücke
hinwegzulesen. Wer aller-
dings erwartet, viele kon-
krete Handlungsschritte oder gar eine umfassende
Strategie zur Bewältigung der Klimakrise zu finden,
wird enttäuscht. Das ist kein kleiner Makel. Denn in
der deutlich artikulierten Bereitschaft zum Verzicht,
der nicht als Verzicht empfunden werden soll, liegt
der Knackpunkt. Gilt diese Bereitschaft auch dann
noch, wenn es konkret wird?
Genau das ist die Angriffsfläche für all diejenigen,
die die klimabewegten Jugendlichen ebenso wie die
Buchautoren als heuchlerisch darstellen wollen. So
berichtet etwa Neubauer davon, welche Wellen von
Verachtung ihr entgegenschlagen – sie ist schließlich
schon viel um den Globus gereist.
So gehen die Autoren im Kapitel „Die Klimakrise ist
keine individuelle Krise“ auf diese Kritik ein. Ein Bei-
spiel: „Mehr Fahrrad fahren und Tofu braten“ könne
nicht die Antwort auf die Klimakrise sein. Es liege
zwar in der Macht des Einzelnen, ob er ein Fahrrad
kauft, aber nicht, ob er damit sicher und bequem zur
Arbeit oder als Kind in die Schule komme. Der
Schlüssel zur Klimarettung liege nicht in Verhaltens-,
sondern in Strukturänderungen.
Das mag stimmen. Aber die nötigen modifizierten
Strukturen wären einschneidend, auch für die indi-
viduellen Konsummöglichkeiten. Es führt kein Weg
daran vorbei: Ohne Verzicht geht es nicht. Diese For-
derung hätte deutlicher und konkreter ausfallen
müssen. Norbert Häring

Steffen Mau – der den 9. November in Schwe-
rin als Soldat der Nationalen Volksarmee erleb-
te – beschreibt sein Ostdeutschland „als eine
Gesellschaft mit zahlreichen Frakturen, die sich
aus den Besonderheiten von Sozialstruktur und
mentaler Lagerung ergeben“. Aus Fragment
wird hier Fraktur. Die DDR-Gesellschaft, urteilt
der Autor, sei „durch eine nach unten zusam-
mengedrückte Sozialstruktur und eine arbeiter-
liche Kultur geprägt“ worden, es dominierte ei-
ne Mentalität der einfachen Leute. Nach dem



  1. November jedoch fanden sie sich – deklas-
    siert, entmündigt – auf den unteren Rängen der
    gesamtdeutschen Hierarchie wieder.
    Die Elite im Gebiet der früheren DDR bilde-
    ten jetzt die Importe aus Westdeutschland; sie
    machten Karriere in Politik, Verwaltung, Wis-
    senschaft und Justiz. Das war eben anders als in
    seiner Kindheit in der Plattenbausiedlung „Lüt-
    ten Klein“. Die Mutter, Ärztin in der Poliklinik
    „Salvador Allende“, und der Vater, Abteilungs-
    leiter im Schiffsbaubetrieb, hätten zu den „kon-
    formistischen Kohorten“ gehört, die recht gro-
    ße Entwicklungschancen hatten – für „Loyalität
    und Mitarbeit am sozialistischen Aufbaupro-
    jekt“. Mit der Zeit ließ die innere Entflammbar-
    keit nach. Nach der Wende verschwanden mit
    der DDR dann ihre Produkte, Symbole, ihre All-
    tagsästhetik – „es kam zugleich zu einer Entwer-
    tung des angehäuften Erfahrungsschatzes“.
    So konnte Ostdeutschland zum Laboratori-
    um für soziale Unruhe werden, mit Gefühls-
    eruptionen der Zu-kurz-Gekommenen. Viele
    der Eigenschaften der DDR, dieses „erschöpf-
    ten und ausgelaugten Lands“, seien weiterge-
    tragen, ja vertieft worden. Die Qualifizierten
    waren ja rasch nach der Maueröffnung weg (die
    Zahl der Einwohner sank von 16,8 Millionen auf
    14,6 Millionen), hinzu kam ein „Gebärstreik“
    (eine Million Babys weniger). Die Defekte der
    DDR würden wie eine Hypothek auf der ost-
    deutschen Teilgesellschaft lasten, findet Mau.


Wo die beiden Wissenschaftler im Blick auf
30 Jahre Einheit differenzieren, geht es dem
Journalisten Matthias Krauß „um den postumen
Ruf der DDR“ und darum, dem „einseitigen
Mainstream“ etwas entgegenzusetzen: „Wir ha-
ben nicht das Problem der Idealisierung der
DDR, sondern das ihrer einseitigen Verteufe-
lung.“ Das Berufsbeamtentum etwa sei abge-
schafft worden, „gepriesen sei sie dafür“.
In dieser Sicht – sie dürfte typisch sein für
viele im Osten – wurde den Menschen nach der
Wende alles genommen: die Fahne (mit Ähren-
kranz), die Hymne, Firmen mit innovativen An-
sätzen, drei Millionen Arbeitsplätze, die gelebte
Gleichberechtigung mit einem hohen Anteil be-
rufstätiger Frauen, Kinder-Früherziehung in Ki-
tas, Ferienlager, Sportförderung, FKK, DDR-
Filmkunst, Bildung mit Begabtenförderung, Po-
likliniken, Artenvielfalt („die DDR war räudig,
aber lebendig“). Dass heute einige der Ost-Le-
bensmodelle gesamtdeutsch diskutiert werden,
ist in dieser Philippika kein Trost. Das, was die
Menschen 1989 auf die Straße gebracht hat, ein
diktatorisches System mit Stasi-Netz und
Schießbefehl an der Mauer, ist hier ideologisch
auf das Normalniveau eines funktionierenden
Staats heruntergedimmt: Im Westen hätten Bür-
ger doch auch dem BND geholfen.

Mit der Abrissbirne
Von solchen Bügeleien abgesehen, bietet Krauß
doch Einblick in das neue (alte) Denken, in die
Abwehr des Westens mit der Thematisierung
der im Vergleich ungleichen Löhne, der wirt-
schaftlichen Fremdbestimmung, der Entlee-
rung der ländlichen Regionen. Das alles mit
dem Verdikt: „Die große Freiheit ist es nicht ge-
worden.“ Solidarität sei durch Konkurrenzgeha-
be ersetzt worden. Krauß: „Auf die wirtschaftli-
che Verwahrlosung folgte die moralische. Der
Osten wurde zum Armenhaus Deutschlands.“
Liest man diese Ost-Ost-Literatur, wird rasch
klar, wo der Fehler lag. Unter dem Druck der
Ereignisse und der Zeitknappheit angesichts
der Angst vor dem Ende des „Gorbi-Wunders“
wurde die Einheit schlampig gemanagt. Wo war
das echte Interesse an dem untergegangenen
Staat – hinter den Siegesgesängen des Liberalis-
mus und Kapitalismus? Wo war die Bestands-
aufnahme dessen, was gut war im System? Wo
blieb die Lebensleistung der Menschen?
„Eine Liste der ,Errungenschaften der DDR‘
wurde nie verfertigt, die Abrissbirne umstands-
los angesetzt“, schreibt Soziologe Mau: „Man
wollte nicht nach best practices Ausschau hal-
ten, Östliches und Westliches zu etwas Neuem
kombinieren.“ Die Ostdeutschen wurden von
der „Landnahme“ des West-Modells in die Rolle
passiver Beobachter gedrängt. Nur der grüne
Pfeil fürs Rechtsabbiegen durfte bleiben.
Man entschied sich zum Beitritt der DDR
zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach
Artikel 23. Dabei sah Artikel 146 ausdrücklich
Besseres für das Grundgesetz vor: Es sollte
nach „Vollendung der Einheit und Freiheit
Deutschlands“ durch eine vom „Volk in freier
Entscheidung“ beschlossene Verfassung ersetzt
werden. Diese Debatte wurde ersetzt durch die
Formel „nationale Einheit“.
Noch immer missverstehen sich Ost und
West gründlich. Nach einem kurzen Happening
der Freiheit 1990 zeigten sich Unverträglichkei-
ten schnell in der Frage der Migration. Die DDR
sei zum Zeitpunkt der Wende eine „geschlosse-
ne, sich einigelnde Gesellschaft“ gewesen, die
in keiner Weise auf Globalisierung, kulturelle
Vielfalt und größere Migrantengruppen vorbe-
reitet war, schreibt Soziologe Mau. Das Unheil
nahm seinen Lauf. Die im Westen fühlten sich
überlegen, die im Osten genossen Konsum, lit-
ten aber unter mangelnder Wertschätzung.
Vergessen ist, was Einheitskanzler Kohl noch
im Februar 1990 erklärte: „Ich bin dafür, dass
das, was sich bewährt hat, und zwar auf beiden
Seiten, von uns übernommen werden soll.“
Langsam wäre Zeit dafür.

L. Neubauer,
A. Repenning:
Vom Ende der
Klimakrise –
eine Geschichte
unserer Zukunft
Tropen
304 Seiten
18 Euro

Ilko-Sascha
Kowalczuk: Die
Übernahme – Wie
Ostdeutschland
Teil der Bundesre-
publik wurde:
C.H. Beck,
319 Seiten,
16,95 Euro

Matthias Krauß:
Die große Freiheit
ist es nicht
geworden –
Was sich für die
Ostdeutschen seit
der Wende ver-
schlechtert hat
Das Neue Berlin,
256 Seiten,
14,99 Euro

Steffen Mau:
Lütten Klein –
Leben in der ost-
deutschen Trans-
formationsgesell-
schaft
Suhrkamp Verlag,
284 Seiten,
22 Euro
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