Titel
I
rgendjemand muss sich das alles aus-
gedacht haben. Es ist zu perfekt. Das
kann nicht sein, als dass es einfach
so passiert. Irgendwo wird es das
Mastermind geben, das diese Komödie ge-
schrieben hat.
Mittwoch, 30. Oktober, der Tag vor Hal-
loween, der Tag, an dem einmal im Jahr
die bösen Geister vertrieben werden, auch
wenn man sie dafür erst mal von der Leine
lassen muss. Die Sonne scheint, die Phy-
sik-Fakultät der Universität zu Hamburg
versteckt sich weit weg vom Campus im
Schatten der Messehallen und des Unter-
suchungsgefängnisses der Hamburger
Justiz. Das Karoviertel und die Schanze,
die Quartiere des linken Widerstands, sind
nah. Vor zwei Jahren verlief hier irgend -
wo die Grenze des Sperrbezirks für den
G-20-Gipfel, die Polizei kennt jeden Win-
kel, aber diesmal geht es nicht um den
Schutz der mächtigsten Staatschefs. Dies-
mal geht es darum, dass Bernd Lucke end-
lich seine Vorlesung »Makroökonomik II«
halten kann.
Zweimal ist das in den beiden vergan-
genen Wochen schon misslungen, weil Stu-
denten und Aktivisten der örtlichen Antifa
es so wollten. Beim ersten Mal schrien sie
Lucke, das »Nazischwein«, nieder, beim
zweiten Mal überfielen ein paar von ihnen
wie bei einer Guerillaattacke den von
Sicherheitskräften nur notdürftig bewach-
ten Vorlesungssaal.
Dass Studenten die Vorlesungen miss-
liebiger Professoren verhindern, ist in den
vergangenen Jahrzehnten immer mal wie-
der vorgekommen, schien im Nachhinein
aber nie wirklich schlimm. Junge Leute ha-
ben eine Art Menschenrecht auf Protest
und Grenzüberschreitung, was mal schlau-
er und mal blöder sein kann. Vielleicht
wäre Gelassenheit die bessere Antwort
gewesen.
Aber wie soll das gehen? Gelassenheit
in einer grundaufgeregten Gesellschaft?
Zwei nicht gehaltene Lucke-Vorlesungen,
dazu eine verhinderte Buchlesung des
ehemaligen Innenministers Thomas de
Maizière in Göttingen und die Ablehnung
einer Veranstaltung der Liberalen Hoch-
schulgruppe mit FDP-Chef Christian Lind-
ner durch die Uni Hamburg. Dies alles in
10
Grenzöffnungen
DebattenStudenten stürmen Hörsäle, AfD-Politiker prangern den Gesinnungsstaat an,
Grüne nennen ihre Gegner Faschisten, und die Mehrheit
glaubt, man müsse aufpassen, was man sagt. Die Diskussionen sind heftig
in diesem polarisierten Land. Das ist nicht schön, aber richtig.
DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019