Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

sagt: »Wer den Tieren helfen will, muss
Pferderennen abschaffen.«
Wilson, 49, Flipflops und strenger Zopf,
arbeitet als Anästhesieschwester. In ihrer
Freizeit engagiert sich die Veganerin bei
Horseracing Wrongs, einer Initiative, die
Pferderennen verbieten lassen will. Heute
demonstriert sie mit etwa einem Dutzend
Mitstreitern vor dem Santa Anita Park, sie
halten vorbeifahrenden Autos Schilder und
Grabkreuze mit Pferdeköpfen hin.
»Den Sport wird dasselbe Schicksal er -
eilen wie den Hunderennen«, sagt Wilson.
Ende vergangenen Jahres beschloss Florida
ein Verbot von Windhunderennen und da-
mit das Aus für 11 von 17 Rennbahnen in
den USA. Droht dem Pferderennsport Ähn-
liches? »Die öffentliche Stimmung zwingt
uns zu Veränderungen«, sagt
Tierärztin Benson, »aber das
ist nichts Schlechtes, denn es
hilft den Pferden. Wir müssen
den Sport transformieren, um
überleben zu können.«
Allein in Santa Anita star-
ben in den letzten zehn Jah-
ren durchschnittlich mehr als
40 Pferde pro Saison an den
Folgen von Trainings- und
Rennunfällen, insgesamt ver-
endeten in den USA in den
vergangenen zehn Jahren
über 6000 Rennpferde. Sie
sind Opfer einer Geldmaschi-
nerie: 2018 wurden bei Wett-
kämpfen in den USA Preisgel-
der von insgesamt mehr als
1,1 Milliarden Dollar ausge-
zahlt.
Der Santa Anita Park wird
kontrolliert von Belinda Stro-
nach, einer kanadischen Milliardärstochter.
Ihr Vater Frank baute die Stronach Group
auf, die sieben Pferderennbahnen betreibt.
Außerdem in seinem Portfolio: Wettanbie-
ter, Medienunternehmen, Pferdetrainings-
center – die ganze Wertschöpfungskette.
Bald könnte sie kollabieren. Mittlerwei-
le prüfen Ermittlungsbehörden die Zustän-
de in Santa Anita. Im März schaltete sich
die Staatsanwaltschaft von Los Angeles
County ein, die Tierschutzorganisation
Peta hatte sie angeschrieben: »Wir glau-
ben, eine Untersuchung der jüngsten To-
desfälle wird herausfinden, dass einer der
Hauptgründe bereits bestehende Verlet-
zungen sind und sich die Besitzer und Trai-
ner dieser bewusst waren«, heißt es in dem
Schreiben. Das wäre ein strafrechtlicher
Vorgang. Laut kalifornischem Gesetz sind
Besitzer dazu verpflichtet, sich angemes-
sen um ihre Tiere zu kümmern.
Noch wurden keine Ergebnisse präsen-
tiert, doch zumindest in einem Punkt folgt
Santa-Anita-Veterinärin Benson den Ver-
mutungen der Tierschützer: »Frühere Stu-
dien zeigen, dass mehr als 80 Prozent der


Tiere bereits bestehende Auffälligkeiten
an den Körperstellen aufwiesen, an denen
sie sich verletzten.« Kleine Risse etwa, Ge-
webeveränderungen. Die könnten dazu
führen, dass die Pferde den hohen Belas-
tungen auf der Rennstrecke nicht mehr
standhalten.
Wie es zu den Vorschäden kommt, ist
unklar. Überbeanspruchung der Tiere
könnte ein naheliegender Grund sein, aber
es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die
Rennställe Dopingmittel einsetzen. Die
entsprechenden Regularien sind in den
USA teilweise deutlich lockerer als in an-
deren Teilen der Welt.
Dionne Benson unterstützt ein neues,
schärferes Regelwerk. »Wir können uns
nicht den Luxus erlauben, auf die Ergeb-

nisse der Staatsanwaltschaft zu warten«,
sagt sie. Seitdem die Änderungen in Kraft
sind, sank nach ihrer Auskunft die Todes-
rate auf der Anlage: in Rennen um 58 Pro-
zent, im Training um mehr als 70 Prozent.
Doch noch immer sterben Pferde.
Auch der politische Druck wächst. Seit
Juni gilt in Kalifornien ein Gesetz, mit dem
die staatliche Aufsichtsbehörde California
Horse Racing Board Rennanlagen sperren
darf. Zudem meldete sich der Gouverneur
Kaliforniens im September zu Wort: Die
jüngsten Todesfälle seien eine »Schande«,
so Gavin Newsom; er drohte damit, Pfer-
derennen in Kalifornien auszusetzen.
In Santa Anita reagieren einige Ange-
stellte emotional auf solche Ankündigun-
gen – auch Marcus Semona, der als Phy-
siotherapeut auf der Anlage arbeitet: »Un-
ser Management hat Anfang des Jahres ein
paar Fehler gemacht, und nun muss die
ganze Rennpferdbranche dafür geradeste-
hen.« Der Winter sei ungewöhnlich feucht
gewesen, der Boden dadurch matschig,
dies könnte ein Grund für die vielen Stürze
sein. Man habe darauf zu spät reagiert.

Semona, 40, hilft den Tieren mit Be -
atmungsmaschinen zur Regeneration, be-
handelt sie mit Magnetwellen. Nun steht er
mit ein paar Kollegen den demonstrierenden
Tierschützern vor dem Haupteingang gegen-
über. Er will, dass nicht nur »Tierrechts -
extremisten«, wie er sagt, gehört werden.
Zusammen mit seinen Mitstreitern hält
auch er Plakate zur Straße hin: »Mein
Pferd, mein Job, mein Leben« steht auf ei-
nem, »Hupen für Pferderennen« auf ei-
nem anderen. Die Existenzangst treibt Se-
mona auf die Straße: »Seit ich 18 bin, ar-
beite ich in der Branche, war nie auf dem
College. Was soll aus mir werden, wenn
Santa Anita schließen muss?«
Wenige Meter entfernt steht Aktivistin
Heather Wilson. Die rund 2000 Arbeiter
von Santa Anita könnten pro-
blemlos umschulen, sagt sie.
»Und ich weiß auch, wer das
alles bezahlen kann«, sagt
Wilson, »die Trainer.« In die-
sem Jahr kassierten bereits
über 20 Trainer von Vollblü-
tern in Nordamerika Einnah-
men von jeweils mehr als fünf
Millionen Dollar.
Wilson will den Protest
fortsetzen, auch gegen Wider-
stände. Dieser Samstag ist
ein besonderer Tag, dann fin-
det hier der Breeders’ Cup
statt, die höchstdotierte Ga-
loppserie Amerikas, das öf-
fentliche Interesse wird riesig
sein.
Wilson hat an ihrem Top
eine Bodycam befestigt, um
mögliche Übergriffe festzuhal-
ten. Oder Situationen wie die
vom 3. März: Damals protestierte sie zum
ersten Mal vor der Anlage, legte sich mit
einem Sicherheitsmann an, wurde verhaf-
tet. Das habe sie motiviert weiterzu -
machen. »Ich fragte mich, was sie zu ver-
heimlichen haben«, sagt Wilson. »Also
dachte ich mir: Ab sofort stehe ich jede
Woche hier!«
Auf die Anlage selbst gehen die Tier-
schützer nicht, auch heute nicht. Acht
Wettkämpfe werden in der Nachmittags-
hitze in Santa Anita ausgetragen. Um
16.10 Uhr der Höhepunkt, Rennen sieben,
Preisgeld: 53 000 Dollar, Distanz: rund
1100 Meter. Der Wallach mit der Startnum-
mer fünf setzt sich zunächst an die Spitze,
fällt dann zurück, kommt als Letzter ins
Ziel. Sein Name: Stop The Violence.
Thilo Neumann

104 DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019


Sport

MARK RALSTON / AFP
Protestierende in Arcadia: Verheerende Todesserie

Video
Das Leiden der Pferde

spiegel.de/sp452019pferde
oder in der App DER SPIEGEL
Free download pdf