Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

Kombination mit ein paar eher missglück-
ten Statements der Hamburger Politik,
und schon gibt es im Bundestag eine aus-
gesprochen lebendige Aktuelle Stunde
zum Thema »Meinungsfreiheit in Deutsch-
land verteidigen«.
Dazu eine Flut von Artikeln, viele von
ihnen mit dem Verweis, dass fast zwei Drit-
tel der Bürger Angst davor haben, das zu
sagen, was sie denken. »Die Grenzen des
Sagbaren«, »Tugendterror«, das sind Be-
griffe, die fallen. Manchmal fühlt sich die


Diskussion an, als hätten Nationalsozialis-
mus und Stalinismus gemeinsam die
Grundrechte abgeschafft. Was diese De-
batte aber vor allem sagt: Die Meinungs-
freiheit ist ziemlich lebendig. Und ganz
schön anstrengend.
Auch deswegen, weil die Debatte para-
doxerweise eine Situation herbeigeführt
hat, in der in Hamburg ganz real, nicht in
der Twitter-Anonymität, in einem Hörsaal
mit echten Studenten darin und echten
Polizisten davor, die Meinungsfreiheit

durchgesetzt werden muss, ohne dass sie
grundsätzlich bedroht ist. Bernd Lucke,
Hamburger Volkswirtschaftsprofessor,
AfD-Gründer, aber seit seinem Austritt
aus der Partei etwas aus dem Blick gera-
ten, soll schließlich an diesem Mittwoch
auf Teufel komm raus seine Vorlesung hal-
ten dürfen.
Am Abend zuvor hat die Universität
eine Mitteilung an die Presse verschickt.
Es ist ein Dokument angestrengter Nervo-
sität: Die Veranstaltung finde zur gewohn-
ten Stunde statt, nachdem der Vorschlag
der Universität, die Vorlesung nur digital
anzubieten, als Versuch der Deeskalation,
von Professor Lucke abgelehnt worden sei.
Deswegen habe die Universität nun darum
gebeten, die Veranstaltung von staatlichen
Ordnungskräften sichern zu lassen. Man
scheint mit schlimmsten Dingen zu rech-
nen: Für die Ad-hoc-Behandlung etwaiger
posttraumatischer Belastungsstörungen
bei Studenten oder Mitarbeitern stehe
die psychotherapeutische Hochschulam-
bulanz bereit.
Und dann? Passiert nichts. 300 Studen-
ten sind gekommen, es ist eine Pflichtver-
anstaltung, Mittwoch, 12 Uhr mittags. Eine
Hundertschaft Polizei steht herum, 30, 40
Journalisten und ebenso viele, ziemlich
schweigsame Demonstranten oder viel-
leicht auch einfach nur Interessierte, so
eindeutig ist das nicht. Lucke selbst gelangt
in den Hörsaal – benannt nach dem deut-
schen Physiker Otto Stern, der 1933 aus
Deutschland emigrieren musste und 1943
den Nobelpreis bekam – unbemerkt durch
einen Seiteneingang. Er habe, twittert ein
Student, während seiner Vorlesung den
Witz gemacht, dass die Wahl des Ortes ne-
ben dem Gefängnis ganz passend sei, sollte
es Protest geben.
Das also ist die gute Nachricht: Die Mei-
nungsfreiheit ist weiterhin intakt, die
Grundrechte sind gesichert und werden
sogar gegen kleinste Angriffe verteidigt.
Die andere Nachricht: Bernd Lucke hat
gesiegt. Fast könnte man auf die Idee kom-
men, er wäre das geniale Mastermind die-
ser Deutschlandkomödie, aber das ist zu
viel der Ehre. Lucke dürfte selbst ziemlich
überrascht sein von seiner politischen Wie-
dergeburt. Er sollte sich bedanken bei der
Antifa und den Studenten.
Vielleicht geht die Debatte um die Mei-
nungsfreiheit eher um Begriffe wie Mei-
nungsklima und Meinungsherrschaft, da-
rum, wie wir miteinander sprechen und
streiten. Welche Kämpfe wie geführt wer-
den und welche politischen Folgen sie ha-
ben. Die vermeintlich besten Absichten
bewirken ja manchmal genau das Gegen-
teil. Wer Lucke zum Schweigen bringen
will, macht ihn lauter als zuvor.
Politik ist immer auch die Auslegung
von Wirklichkeit. Die Idee einer demo -
kratischen Öffentlichkeit besteht darin, in

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MARKUS SCHOLZ / DPA

Aktivisten hindern den ehemaligen

AfD-Politiker Bernd Luckedaran, seine Vorlesung


an der Universität Hamburg zu halten.
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